Die Grippe bekämpfen, indem man nach mehr Viren verlangt?
Anmerkungen zum gewerkschaftlichen K(r)ampf gegen Arbeitslosigkeit

von Robert Schlosser

05/07

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Die Grippe bekämpfen, indem man nach mehr Viren verlangt?

Anmerkungen zum gewerkschaftlichen K(r)ampf gegen Arbeitslosigkeit

Es gibt 2 Phänomene kapitalistischer Entwicklung, die die Verschlechterung der sozialen Lage von LohnarbeiterInnen in den kapitalistischen Zentren besonders kennzeichnen und die die Polarisierung zwischen den Hauptklassen dieser Gesellschaft und den Klassenkampf prägen und an Bedeutung noch gewinnen werden:

1.       die „Pleitenflut“

2.       die Verlagerung von Produktionsstätten in sog. Billiglohnländer

Neben den zyklisch wiederkehrenden Krisen und der „Wegrationalisierung“ von Lohnarbeitsplätzen (Erhöhung von Arbeitsproduktivität durch Einsatz von Technik, Intensivierung der Arbeit durch Reorganisation) bestimmen diese beiden Faktoren die Entwicklung der Lohnarbeitslosigkeit. Existenzielle Unsicherheit und drohende, sowie tatsächliche Verarmung erfassen immer größere Teile der Lohnabhängigen.

Kämpfe gegen Massenentlassungen und Betriebsschließungen haben in den letzten Jahren bereits Schlagzeilen gemacht und diese Kämpfe werden in den nächsten Jahrzehnten (man sollte nicht vergessen, dass ein Zyklus im Schnitt immer noch rund 10 Jahre dauert!) an Bedeutung zunehmen.
Kommt es zu sozialen Auseinandersetzungen, so werden diese mit einem kaum entwickelten Klassenbewusstsein geführt. Das drückt sich darin aus, dass jeder für sich allein stirbt. Die Kämpfe werden fast ausschließlich als Abwehrkampf der jeweils betroffenen Belegschaft geführt.
Die lohnabhängigen Individuen denken und handeln mehrheitlich bürgerlich. Die eigene soziale Lage wird als individuelles Schicksal empfunden und individuell bearbeitet. Die lohnabhängigen „MitarbeiterInnen“ in den Betrieben entwickeln allenfalls ein Kollektivbewusstsein auf der Ebene „ihres“ Betriebes, als „Belegschaft“, nicht als Teil der Klasse. Dieser Mangel an Klassenbewusstsein, dessen Ursachen ich hier nicht näher beleuchten will (er ist jedenfalls nicht ausschließlich, nicht einmal vorrangig auf Gewerkschaftspolitik zurück zu führen), macht es der offiziellen Gewerkschaftspolitik leicht, dass Feld zu beherrschen und wichtige Lernprozesse zu verhindern. Diese Lernprozesse und eine möglicher Weise daraus folgende Verbreiterung der Bewegung, der Solidarisierung und zunehmenden Organisierung wird unmöglich gemacht durch die Zuspitzung der Kritik auf das jeweilige Management bzw. die Geschäftsführung des Betriebes. Die offizielle Gewerkschaftspolitik unterstellt die Möglichkeit eines grenzenlos wachsenden Kapitals, dessen Nachfrage nach menschlicher Arbeitskraft immer groß genug sein könne, um „Vollbeschäftigung“ zu sozial erträglichen Bedingungen zu garantieren. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sei dies durch eine entsprechende nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik zu gewährleisten, auf der einzelbetrieblichen Ebene könne dies gewährleistet werden durch eine kluges Management, dass immer für genug Aufträge sorgt. Bravo!

Diese teilweise geradezu dümmliche Desorientierung hat immer noch großen Erfolg. Sie verhindert Erkenntnisse über Zusammenhänge kapitalistischer Reproduktion und damit Erkenntnisse über bestehende Klassengegensätze. Alle Kritik bleibt moralisierende Detailkritik die letztlich hinausläuft auf ein Beklagen von Raffgier und Unfähigkeit des Managements oder der Politik. Die meisten Kämpfe werden so mit unglaublichen Illusionen und /oder ohnmächtiger Perspektivlosigkeit im Kopf geführt.
Man erklärt von Gewerkschaftsseite den Kampf gegen die Lohnarbeitslosigkeit zur Hauptaufgabe, um ihn dann als Kampf um Lohnarbeitsplätze zu einer Farce zu machen. Wer den Kampf gegen Lohnarbeitslosigkeit – nämlich deren verheerende soziale Folgen - ernst meint, der muss ihn als Kampf gegen das Lohnsystem führen. Dass das so ist, liegt an den Ursachen der Lohnarbeitslosigkeit, jenen grundlegenden Produktionsverhältnissen, die gesetzmäßig die Lohnarbeitslosigkeit produzieren. Womit ich wieder beim Ausgangspunkt wäre, etwa den beiden Faktoren „Pleitenflut“ und Verlagerung der Produktion in Billiglohnparadiese des Kapitals. Ich habe diese beiden Faktoren besonders erwähnt, nicht nur wegen ihrer ins Auge springenden Bedeutung, sondern auch deshalb, weil sich an ihnen ein paar wichtige theoretische Zusammenhänge illustrieren lassen und weil diese oft auch auf Seiten der Linken arg unterbelichtet sind. Wer in solche konkreten Auseinandersetzungen intervenieren und die Gewerkschaftspolitik kritisieren will, der sollte theoretisch gut gerüstet sein. Die Erfolge von Phraseologie sind begrenzt und führen niemals zum Erfolg, der sich nur durch kontinuierliche und langfristig angelegte Arbeit einstellen kann.

Beides, Verlagerung der Produktion ins Ausland, wie auch die Pleitenflut sind Produkt sinkender Kapitalrentabilität und zugleich Gegenbewegung gegen den Fall der Profitrate des Kapitals.

Verlagerung von Produktion in Billiglohnländer

Auch die „Raffgier“-Spezialisten, die Lohnarbeitslosigkeit allein als Folge subjektiver Fehlentscheidung von Politik und Management begreifen, wissen und argumentieren natürlich  mit der höheren Profitrate, die in den Billiglohnländern winkt. Was sie gern weglassen, ist der Umstand, dass auch schon vor dem angeblichen unentrinnbaren Schicksalsschlag der sog. „Globalisierung“ viele Billiglohnländer existierten, ohne das deshalb ein Exodus der kapitalistischen Industrie begann. Der Exodus etwa der Textilindustrie (das war sozusagen die Avantgarde) begann erst da, als die so sehnlich zurück gesehnte Zeit „allgemeiner Wohlfahrt“ in den hochentwickelten Ländern durch erste Krisen erschüttert wurde. Der Exodus wurde in dem Maße attraktiver, wie in den Zentren der Kapitalakkumulation die Renditen sanken und die „Pleitenflut“ einsetzte. Der Kollaps des Realsozialismus war nicht die Ursache des Exodus, sondern ein gewünschter zusätzlicher und begünstigender Umstand, der dem produktiven Kapital Flügel verlieh. Die Verlagerung von Produktionsstätten in Billiglohnländer ist Produkt ungenügender Kapitalrentabilität in den hochentwickelten Ländern, die sich ebenfalls zwingend ausdrückt in der „Pleitenflut“.

„Pleitenflut“

Sinkende Profitrate drückt nichts anderes aus als relative Abnahme der Mehrwertmasse gegenüber dem gesamten angelegten Kapital (variables und konstantes Kapital). Um eine gleichgroße Mehrwertmasse zu erzielen, wird ein stets wachsender Kapitalvorschuss erforderlich. Wächst das Kapital nicht in genügend großer Progression, um den Fall der Profitrate zu kompensieren, dann entbrennt der Kampf um relativ abnehmende Mehrwertmasse, es entwickelt sich der sogenannte „Verdrängungswettbewerb“ als Gegenbewegung.

 „Solange alles gut geht, agiert die Konkurrenz, wie sich bei der Ausgleichung der allgemeinen Profitrate gezeigt, als praktische Brüderschaft der Kapitalistenklasse, so daß sie sich gemeinschaftlich, im Verhältnis zur Größe des von jedem eingesetzten Loses, in die gemeinschaftliche Beute teilt. Sobald es sich aber nicht mehr um Teilung des Profits handelt, sondern um Teilung des Verlustes, sucht jeder soviel wie möglich sein Quantum an demselben zu verringern und dem andern auf den Hals zu schieben. Der Verlust ist unvermeidlich für die Klasse. Wieviel aber jeder einzelne davon zu tragen, wieweit er überhaupt daran teilzunehmen hat, wird dann Frage der Macht und der List, und die Konkurrenz verwandelt sich dann in einen Kampf der feindlichen Brüder. Der Gegensatz zwischen dem Interesse jedes einzelnen Kapitalisten und dem der Kapitalistenklasse macht sich dann geltend, ebenso wie vorher die Identität dieser Interessen sich durch die Konkurrenz praktisch durchsetzte.“ Kapital Bd. 3

Gegenbewegung deshalb, weil die Zahl der selbständigen Kapitale sich verringert und die relativ abnehmende Mehrwertmasse auf weniger Kapitale verteilt werden kann, also eine größere Mehrwertmasse pro Einzelkapital zur Verfügung steht.

Marx sagt: „So wirkt das Gesetz (des Falls der Profitrate, R. S.) nur als Tendenz, dessen Wirkung nur unter bestimmten Umständen und im Verlauf langer Perioden schlagend hervortritt.“ (Kapital Bd. 3 Seite 249)

Die „Pleitenflut“ ist eine der „schlagendsten“ Auswirkungen des Falls der Profitrate. Sie ist sehr einfach empirisch zu erfassen, ganz ohne Bruchrechnen und ohne Überlegungen, was und wie zu berechnen ist. Jenseits aller Berechnungsschwierigkeiten zeigt sich in der „Pleitenflut“ ein relativer Mehrwertmangel des gesellschaftlichen Gesamtkapitals. Diese „Pleitenflut“ entwickelt sich ähnlich, wie die Lohnarbeitslosigkeit. Sie entwickelt sich schubweise mit jedem „Konjunktureinbruch“, ohne dass in den Aufschwungphasen die Zahlen der Unternehmenszusammenbrüche auf ein „normales“ Maß zurückgeführt werden könnte. Die Anzahl der Unternehmenszusammenbrüche konsolidiert sich vielmehr auf einem stets höheren Niveau, ähnlich wie die Zahl der außer Kurs gesetzten Lohnabhängigen.

Sinkende Unternehmensinsolvenzen werden derzeit gemeldet. Doch eine Untersuchung von Euler Hermes kommt zu ganz anderen Ergebnissen.

Nach einer Schätzung von Deutschlands führendem Kreditversicherer (Allianz Gruppe) wird der viel gefeierte Rückgang der Pleiten in den letzten zwölf Monaten bereits im neuen Jahr wieder zum Stillstand kommen, die Zahl der Unternehmenszusammenbrüche sogar ansteigen, und zwar um 3,6 Prozent auf 40.000. Das wäre ein neuer Negativrekord !

Besorgniserregend ist die steigende Insolvenzquote

Interessanter als absolute sind auch hier relative Insolvenzzahlen. So liegt die „Insolvenzquote“, also das Verhältnis zwischen insolventen Firmen und bestehenden Unternehmen, derzeit bei 1,3 Prozent, bzw. bei 130 Pleiten je 10.000 Unternehmen. Für 2006 rechnet Euler Hermes sogar mit 137, die Quote erreicht dann fast 1,4 Prozent. Anfang der siebziger Jahre betrug sie dagegen nur 0,2 Prozent.

Die Insolvenzquote ist somit in den zurückliegenden Jahrzehnten „schubartig“ gestiegen, und zwar jeweils im Gefolge der drei Rezessionen in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren sowie der Wachstumsschwäche seit Beginn dieses Jahrzehnts. Allerdings bildete sich die Quote in den konjunkturell guten Jahren nicht genügend zurück, so dass jeweils die nächste Rezession von einem höheren Sockel aus begann. Eine wirkliche Erholung fand nur während der langjährigen Aufschwungphase in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre statt.

Trauriges Fazit der Kreditversicherer: „Langfristig nimmt die Insolvenzquote zu.“

Und immer mehr gute Firmen gehen pleite

Besorgniserregend ist zudem, dass immer mehr eigentlich gut aufgestellte („markterfahrene“) Unternehmen vom Pleitestrudel erfasst werden. So stieg deren Anteil von 20 Prozent Anfang der neunziger Jahre auf aktuell 30 Prozent, ein deutliches Indiz für die Verfestigung der Insolvenzanfälligkeit innerhalb der letzten zehn Jahren.

Quelle: Das Ende der Pleitewelle ? Insolvenzprognose 2006 für Deutschland und die Industrieländer, Wirtschaft Konkret, Nr. 411, Euler Hermes Kreditversicherung (Allianz Gruppe)

Darin drückt sich deutlich ein Versagen des kapitalistischen Privateigentums aus, das Versagen des Kapitalverhältnisses! Beide Seiten verlieren die Kapitalproduktion als ihre Lebensgrundlage: jene, die über die Produktionsmittel verfügen und jene, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben müssen. Dieses Versagen des Privateigentums wird sehr ungern zur Kenntnis genommen von all jenen, die sowieso ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Kapitalverhältnisses haben, aber auch von jenen, die keinerlei ökonomische Schranken für die Entwicklungsmöglichkeiten des Kapitals sehen können und den Menschen die Überwindung der Lohnarbeitslosigkeit auf der Basis kapitalistischer Produktionsverhältnisse versprechen.

Wir befinden uns in der Boomphase des aktuellen Zyklus, die für das Kapital diesmal erfreulicher ausfällt, als in den vorangegangenen Zyklen. Darin drückt sich nichts anderes aus, als gewisse Erfolge des Kapitals, wie der neoliberalen politischen Reaktion, bei der Herstellung von profitableren Verwertungsbedingungen (mehr Arbeit für das Kapital und weniger für die eigene Reproduktion durch Verlängerung der Arbeitszeit, Drücken von Löhnen, Sozialraub in all seinen Varianten). Dieser Boom wird im Katzenjammer enden, wie jeder Boom zuvor, aller Sprüche über den wieder gefundenen „Wachstumspfad“ zum Trotz. Mehr noch dieser Boom bereitet einen neuen Investitionszyklus vor, der wiederum zur Neuanlage von Kapital führt, das relativ weniger Lohnarbeitskraft nachfragt und damit den relativen Mehrwertmangel weiter verschärft. „Insolvenzquote“ und die Quote der Lohnarbeitslosigkeit werden langfristig-überzyklisch immer weiter steigen.

Welche realistische Perspektive haben also betriebliche Kämpfe gegen Massenentlassungen, Betriebsverlagerungen und Unternehmenszusammenbrüche?

Weil die wachsende technische und - daraus folgend - die Wert-Zusammensetzung des Kapitals notwendig zur relativen Abnahme der Mehrwertmasse und damit zum „Kampf der feindlichen“ Brüder um die Verlustzuweisungen (Kapitalvernichtung) führt, ist der gewerkschaftliche Kampf „um jeden Arbeitsplatz“ ein aussichtsloses Unterfangen, dass sich an den ökonomischen Gesetzen bricht. Die Kämpfe aus Anlass von Betriebsverlagerungen und Pleiten, werden aber auf jeden Fall immer mehr das Gesicht der Klassenkämpfe bestimmen, weil diese Kämpfe das unvermeidliche Produkt der ökonomischen Gesetze sind.

Je nach den konkreten Bedingungen in diesem oder jenem Betrieb ist es möglich, durch energischen Widerstand Zugeständnisse zu erkämpfen, die den Beginn der Lohnarbeitslosigkeit durch Abfindungen „versüßen“ oder neue individuelle Lebensperspektiven eröffnen. Solange es aber dabei bleibt, haben diese Kämpfe einen mehr als Faden Bei- und Nachgeschmack, weil sie ohne jede gesellschaftliche Perspektive bleiben. Sie haben absolut nichts zu tun mit einer Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sie dienen ausschließlich der Linderung ihrer Auswirkung auf die einzelnen LohnarbeiterInnen. Solange Lohnabhängige ihre Lohnarbeitslosigkeit als individuelles Schicksal erleben, solange Belegschaft „ihre“ Pleite als bloße betriebliche Pleite erleben, gibt es keine soziale Perspektive.

An dieser Situation kann sich überhaupt nur etwas ändern, wenn es den Betroffenen gelingt, sich von der Vorstellung frei zu machen, ihr Schicksal sei das Produkt von „Missmanagement“. Erst wenn die Erkenntnis sich breit macht, dass Unternehmenszusammenbrüche und Lohnarbeitslosigkeit systematisch erzeugt werden, die Besonderheiten des „eigenen“ Betriebes nebensächlich sind, können die Auseinandersetzungen von einem anderen Ausgangspunkt her und mit einer realistischen sozialen Perspektive geführt werden. Realistisch wird die Sache nämlich erst dann, wenn man anfängt, über das angeblich Unmögliche, andere Produktionsverhältnisse nachzudenken.

Lohnarbeit ist nicht die Lösung, sondern die Ursache des Problems, der Kampf um jeden Lohnarbeitsplatz von daher ein Schmarn. Soweit es für die Restbestände radikaler Kapitalismuskritik im Kontext solcher betrieblicher Kämpfe, mit denen wir es in Zukunft noch reichlich zu tun haben werden – ob man sie toll findet oder nicht -, etwas sinnvolles zu tun gäbe, bestünde das in einer ganz bestimmten Aufklärungsarbeit. Darunter verstehe ich nicht die konzentrierte Absonderung allgemeiner Phrasen über das Kapital, sondern die hartnäckige Lieferung und zusammenhängende Darstellung von Fakten, Zahlen, die deutlich machen, dass Unternehmenszusammenbrüche, Lohnarbeitslosigkeit etc. keine isolierten Phänomene sind, die Individuen und einzelne Betriebe betreffen, sondern dass es sich um massenhafte, gesellschaftliche Phänomene handelt, die mit dem sozialen Status von Lohnabhängigkeit zusammenhängen. (Beispielhaft sind solche Argumentationen, und „Materialzusammenstellungen“, wie sie Rainer Roth immer wieder liefert, etwa in „Nebensache Mensch“.) Elementares Klassenbewusstsein drückt sich überhaupt erst in der Erkenntnis dieser Zusammenhänge aus und ein solches elementares Klassenbewusstsein wäre die Voraussetzung für die nötige Offenheit, um über andere Produktionsverhältnisse nachzudenken und zu diskutieren. (Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, wollte ich an dieser Stelle die Frage nach den möglichen und notwendigen Formen von Vergesellschaftung, insbesondere die Frage der Verstaatlichung diskutieren.) Ein solches elementares Klassenbewusstsein ist aber weit vorher schon die Voraussetzung für Verbreiterung der Bewegung und sich entwickelnde Organisierung der Klasse. Diese Verbreiterung der Bewegung und ihre Organisierung wären sowieso das wichtigste Resultat der einzelnen Kämpfe. Das allein würde eine praktische Perspektive eröffnen! Ohne ein Minimum an Klarheit über die Gesetzmäßigkeit, mit der das Kapital soziale Polarisierung und Verelendung erzeugt, kann es jedoch überhaupt kein Klassenbewusstsein geben und bleibt damit jede Verbreiterung und Organisierung der Bewegung eine Illusion!

Der ethische Wert der Solidarität bleibt hilfloser moralischer Appell, solange er nicht verankert ist in der Erkenntnis der verbindenden Lebensumstände der Lohnabhängigen und der daraus erwachsenden gemeinsamen Interessen. Die vorherrschende Gewerkschaftspolitik verhindert bzw. erschwert die Entwicklung des angesprochenen elementaren Klassenbewusstseins, indem sie in ihrer Agitation beispielsweise jede einzelne Pleite nicht als Teil der „Pleitenflut“ darstellt und einordnet, damit jede systematische Kritik am Kapital ausschließt, und stattdessen in ihrer gesamten Öffentlichkeitsarbeit die „Einzigartigkeit“ dieser Pleite unterstellt, die ausschließlich das Produkt einer unfähigen Geschäftsführung sei. So bleibt vorerst sicher gestellt, dass das Kapitalverhältnis selbst als Produzent der Massenarbeitslosigkeit ungeschoren davon kommt.

 

Editorische Anmerkungen

Der Artikel wurde Mitte April 2007 verfasst und uns zur Veröffentlichung in der Mainummer überlassen.