Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Nach dem ersten Wahlgang der Präsidentenwahl:
Polarisierung zwischen Mitte und Rechts
 
Wer wird gewinnen: Schneewittchen oder der Giftzwerg?

05/07

trend
onlinezeitung
Wollte man den Ausgang der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl auf einen Schlüsselbegriff bringen, so würde er lauten: Le vote utile. Der Begriff (wörtlich übersetzt "Nützlich stimmen") beinhaltet im französischen Kontext der letzten fünf Jahre vor allem die Vorstellung, dass man besser nicht so sehr seinen Überzeugungen entsprechend abstimmen soll, da man sonst mit unvorgesehenen Übeln gestraft werden könne. Eine Vernunftehe, im übertragenen Sinne auf einen Kandidaten bezogen, könne deshalb einer politischen Liebesheirat vorzuziehen sein. So hatte bei der letzten Präsidentenwahl vor fünf Jahren die Enthaltung der klassischen Wählerschaft der Linksparteien, die von der Regierungspolitik des sozialdemokratischen Premiers Lionel Jospin zum Teil bitter enttäuscht war, überraschend den Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen zusammen mit Amtsinhaber Jacques Chirac in die Stichwahl befördert. Es war, wie sich jetzt zeigt, ein historischer "Wahlunfall", der nur deshalb zustande kam, weil niemand mit ihm gerechnet hatte. Entgegen vielen Unkereien und Vorhersagen blieb "der neue Ausrutscher", die - in Wirklichkeit von vielen erwartete - "völlig unerwartete Überraschung" in diesem Jahr aus.

Zugleich hat eine starke Konzentration auf die beiden großen politischen Blöcke, also auf einen sozialdemokratischen und einen konservativen Block zuzüglich eines erstarkten Zentrums rund um François Bayrou, stattgefunden. Links und Rechts davon stehende Kräfte sehen ihre Stimmenanteile zurückgehen. Dieser politische Konzentrationsprozess geht mit einem starken Anstieg der Wahlbeteiligung einher. Letztere liegt bei 84,6 Prozent (alle Ergebnisse für das europäische Frankreich ohne Überseegebiete) und damit weit höher als bei allen anderen Präsidentschaftswahlen der letzten 30 Jahre.

Spürbar geklettert ist die Teilnahme vor allem in jenen Schichten, die in den letzten Jahrzehnten dem politischen Geschehen, nicht allein in Form von Wahlen, eher fern standen. Also bei den sozial marginalisierten Bewohnern von Trabantenstädten, den abhängig Beschäftigten oder den Armen. Hier hatte man sich seit Jahren nichts von der Politik erhofft, sich nicht angesprochen gefühlt, sich selbst keinerlei Einfluss zugesprochen. Die große Wende kam nach den Unruhen in den französischen Trabantenstädten vom November 2005. Seitdem hat hier ein zuvor ungeahnter politischer Mobilisierungsschub stattgefunden, da vor allem die jüngeren Generationen nun mehrheitlich nicht mehr der Auffassung sind, dass all das Politikspektakel sie überhaupt nichts angehe. Die Figur des konservativen Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy, der bis zum 26. März dieses Jahres als Innenministers im Amt blieb, personifiziert in ihren Augen in sehr hohem Maße das abweisende, reiche und repressive Frankreich, das man abzustrafen wünscht.

Die Mobilisierung zu den Urnen trägt also in diesem Jahr Züge einer starken Polarisierung, die sich aber in diesem Jahr nicht an kleineren Parteien (links von der Sozialdemokratie oder rechts von den Konservativen) festmacht, sondern sich in einem Votum für die größeren politischen Kräfte selbst ausdrückt. Ein Gutteil der zusätzlich mobilisierten Wähler ging vor allem abstimmen, um Nicolas Sarkozy (und, nebenbei, Jean-Marie Le Pen) zu verhindern. So wie umgekehrt ein Teil der besserverdienenden und/oder innenstädtischen Wähler dezidiert für einen der rechts stehenden Kandidaten votierte, "um uns den Abschaum vom Hals zu halten", und sich dabei in Sarkozys Ausspruch von 2005 über La racaille (den Abschaum, das Gesocks) wiedererkannte. Das Votum ist somit also auch Spiegelbild einer sozial auseinander driftenden Gesellschaft - wobei noch selten ein Vertreter der bürgerlichen Rechten so "komplexfrei" (décomplexé), nach eigener Begrifflichkeit, auftrat wie Nicolas Sarkozy.

Frankreichweit haben sich 1,8 Millionen erwachsene Bürgerinnen und Bürger vor dem Anmeldeschluss, der am 31. Dezember vergangenen Jahres lag, zusätzlich auf den Wählerlisten registrieren lassen. Das entsprach einem Zuwachs in den Wählerverzeichnissen um 4 Prozent. Aber im Département Seine-Saint-Denis oder "93", dem (am Pro-Kopf-Einkommen gemessen) ärmsten Bezirk der Hauptstadtregion, der die nördlichen und östlichen Pariser Trabantenstädte umfasst, beträgt er doppelt so viel, über 8 Prozent.

Längerfristige Perspektiven

Die französische politische Landschaft nimmt eine Entwicklung, die in groben Zügen mit jener in Italien während der letzten Jahre vergleichbar ist. Dabei schälen sich, längerfristig, zwei grobe politische Blöcke heraus. Auf der einen Seite steht ein „Mitte-Links-Pol“, innerhalb dessen klassische Sozial- und Christdemokraten sich derart annähern, dass sie kaum noch voneinander unterscheidbar werden. Den anderen Pol könnte man als erneuerte, „harte Rechte“ bezeichnen. 

Die erstere Variante verbindet sich derzeit mit den Namen Ségolène Royal und François Bayrou, die zweite mit dem des mehrjährigen Innenministers Nicolas Sarkozy. In den zwei Wochen zwischen den beiden Durchgängen der französischen Präsidentschaftswahl haben sich die beiden erstgenannten Protagonisten einander spürbar angenähert. Am vergangenen Samstag debattierten Royal und Bayrou, der Wahlverlierer in der ersten Runde, im Fernsehsender BFM TV miteinander und unterstrichen Gemeinsamkeiten, aber auch ein paar inhaltliche Unterschiede – darauf kam es nicht an, vor allem das Symbol zählt. Eine offene Wahlempfehlung für die Kandidatin Royal sprach der christdemokratische Politiker Bayrou zwar nicht aus, denn das würde seine Partei, die UDF, zur Explosion bringen: Ihre Mitglieder stehen historisch klar eher rechts als links, aber ein bedeutender Teil von Bayrous Wählern bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl kam von der moderaten Linken. Es handelte sich überwiegend um sozialdemokratische Wähler, die taktisch wählten, da sie Royal nicht zutrauten, in der Stichwahl gegen Sarkozy zu siegen - dem Mitte-Rechts-Politiker dagegen schon eher. Diese Wähler umwirbt Royal nun vorrangig, wobei sie sichzu Wochenanfang in ‚Le Monde’ aber auch bereit erklärte, Bayrou im Falle eines Wahlsiegs eventuell zu ihrem Premierminister zu machen. Eine ähnliche Annäherung zwischen Royals Parti Socialiste (PS) und der UDF hatten im Wahlkampf bereits führende Protagonisten des wirtschaftsliberalen PS-Flügels gefordert, darunter Ex-Premier Michel Rocard, Ex-Wirtschaftsminister Dominique Strauss-Kahn und der ehrgeizige Streber Bernard Kouchner. Akzidentell und nur der Konjunktur der Wahlprognosen geschuldet ist das auf keinen Fall. Rocard hatte von 1988 bis 91 unter Präsident François Mitterrand bereits mit UDF-Ministern regiert, in einem „Kabinett der Öffnung“. Nur hatte das damals noch nicht dieselbe Bedeutung, da der bis dahin bestehende Sozialstaat noch nicht annähernd in vergleichbarem Ausmab durch neoliberale „Reformen“ aufgebrochen worden war. Die zweite Amtszeit Mitterrands, ab 1988, markierte in dieser Hinsicht sogar eher eine „Reformpause“ nach der rechten Sturm-und-Drang-Phase des Kabinetts von Premierminister Chirac in den zwei Jahren zuvor. Heute hingegen besteht ein völlig anderer Kontext. 

Auf dem rechten Pol wiederum ist es gelungen, einige ehemalige Neofaschisten ins bürgerliche politische Spiel zu integrieren. Im französischen Falle geht es dabei eher um die Wähler denn um die Kader, im Unterschied zu Italien: Rund 30 Prozent der bisherigen Wähler Jean-Marie Le Pens hat der stramme Kandidat der Konservativen, Nicolas Sarkozy, bereits im ersten Wahlgang direkt für sich gewonnen. In vielen Regionen, wie dem Elsass und der Côte d’Azur, lässt sich der Aufschwung für die Konservativen unmittelbar mit dem Rückgang der Nationalen Front (FN) zahlenmäbig verknüpfen. Auch rechts versteht man eben mitunter, für das „kleinere Übel“ zu stimmen. Der harte Kern der extremen Rechten möchte dagegen dem Sog hin zu Sarkozy widerstehen: Le Pen selbst rief am 1. Mai zur Wahlenthaltung in der Stichwahl auf. Eine Hintertür für spätere Annäherungen hielt er sich allerdings offen, da er sein Angebot von Anfang April erneuerte, im Falle einer tieferen Krise in ein „Kabinett der nationalen Rettung“ unter konservativer Führung einzutreten. Und zwei Drittel seiner Wähler aus der ersten Runde wollen trotz allem im zweiten Durchgang für Sarkozy votieren.  

Die Unterscheidung zwischen den beiden Blöcken markiert dabei vor allem die Geschwindigkeit beim „Umbau des Sozialstaats“, also bei der Abtragung bisheriger gesellschaftlicher Errungenschaften sowie ihrer Anpassung an die Bedürfnisse eines modernisierten und von vielen früheren Fesseln befreiten Kapitalismus. „Links“ – aber dieser Begriff hat in dem Zusammenhang kaum noch einen Sinn – versucht man dabei, noch einiges von den Trümmern des historischen Sozialstaats zu bewahren und dem nationalen Standortstaat seine „Wettbewerbsfähigkeit“ im internationalen Wirtschaftskrieg vor allem durch erhöhte Bildungsausgaben zu garantieren. Letztere bildeten etwa eines der herausragenden und ernsthaftetesten Wahlkampfversprechen der Kandidatin Ségolène Royal. Also, kurz und knapp, es geht darum, ins „Humankapital“ zu investieren, soweit die Menschen sich als solches verhalten wollen – wenn nicht, soll aber mit der „sozialen Hängematte“ auch rasch Schluss sein, wie Royal mit ihrem Lob der „valeur travail“ (Arbeit als Werthaltung) ebenfalls verdeutlichte. Rechts, und diesen Begriff kann man getrost ohne Anführungszeichen verwenden, rückt man den bestehenden sozialen Garantien schneller und brutaler zu Leibe. Zum Ausgleich gibt es Brot und Spiele. Also konkret: das Versprechen auf Erfüllung von Bestrafungswünschen, und ab und zu spektakuläre Polizeieinsätze, die den zum Mitmachen Bereiten stets aufs Neue vorführen sollen, dass gegen die Anderen – „das Gesindel“, die Bewohner von Sozialghettos und Trabantenstädten – hart vorgegangen wird, damit sie selbst sich „dazugehörig“ fühlen dürfen. Ach ja, das Brot: „Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen“ verspricht Sarkozy denen, die bereit sind, die Überstunden zu vervielfachen, „früher aufzustehen“ oder am Wochenende zu schuften. Das bedeutet im Klartext: Lohnerhöhungen kommen nicht in die Tüte, aber wer das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit als gegeben hinnimmt und das Rückgrat beugt, für den oder die soll – dank Mehrarbeit  - am Ende auch zusätzlich etwas abfallen. Dumm nur, dass das Kapital mit diesem Programm zugleich weniger Arbeitskräfte benötigen wird.

Ausblick und Bewertung 

Zwischen den beiden Blöcken gibt es, ja, tatsächlich ein „gröberes Übel“. Man darf auf gar keinen Fall darauf hoffen, dass sich im Falle eines Wahlsiegs Ségolène Royals am 6. Mai irgend etwas verbessern würde. Aber man kann getrost sicher sein, dass sich mit Nicolas Sarkozy als Präsident vieles in einem rasanteren Tempo und auf brutalere Art und Weise verschlechtern würde. Insofern ist zu hoffen, dass die Wähler am 6. Mai eine Richtungsentscheidung treffen zwischen den Trümmern des Sozialstaats und einem Parfoceritt in einen autoritaristischen Wirtschaftsliberalismus. Viele ihrer Wähler auch schon im ersten Wahlgang kneifen sich über Ségolène Royal die Nase zu, betonen ihre Inkompetenz, Arroganz und ihre Appelle an reaktionäre „Werte“. Zu Recht. Aber das ist gut und nicht schlecht: Je illusions- und hoffnungsloser sie – so ist zu hoffen – am 6. Mai für Royal votieren, desto weniger lassen sich diese Stimmen als Unterstützung für die nächste Regierung werten. Diese wird, möglicherweise in verlangsamtem Tempo als in den letzten fünf Jahren, ebenfalls an der Verschärfung der kapitalistischen Realitäten arbeiten. Je weniger reale Zustimmung es dafür gibt und je eher die Stimmen für Royal nur ein vote anti-Sarkozy darstellen, desto bessere Aussichten bietet das für künftige gesellschaftliche Kämpfe.

Das böte auch neue Perspektiven für die Linke, diesseits der neuen Achse Royal/Bayrou. Diese ist im ersten Wahlgang unter die Räder gekommen, da das stark polarisierende Auftreten Sarkozys sie – im Namen des „kleineren Übels“, das es anders als 2002 dieses Mal unbedingt in die Stichwahl schaffen sollte - in die Arme Royals (und Bayrous) getrieben hatte. Statt 19 Prozent vor fünf Jahren hatten die Bewerber links von der PS-Kandidatin, Grüne eingeschlossen, in diesem Jahr noch 10 Prozent verzeichnet. Aber falls es die Wahlen gewinnt, wird sich das „kleinere Übel“ dann auch konkret an der Regierung beweisen müssen.

 

Editorische Anmerkung

Der Artikel wurde uns vom Autor am 3.5.07 zur Verfügung gestellt.