Knapp
300.000 laut Polizei (exakt sind es ihren Angaben zufolge
296.000), und 700.000 laut Gewerkschaften: Dies sind die
Zahlen der Teilnehmer/innen an Demonstrationen in insgesamt
150 französischen Städten am gestrigen Donnerstag. Allein in
Paris gingen n. Polizeiangaben 28.000 und laut
VeranstalterInnen 70.000 Menschen auf die Strabe.
Und nach eigenen Beobachtungen des Autors dieser Zeilen waren
es, in der französischen Hauptstadt, zwischen 40.000 und
50.000 (mit starker Präsenz vor allem der CGT).
Die Proteste richteten sich gegen die nächste Stufe der „Rentenreform“,
die in ihrem Kern im April 2003 vom damaligen Arbeits- und
Sozialminister François Fillon (dem jetzigen Premier)
vorgestellt worden war und am 24. Juli 2003 vom französischen
Parlament verabschiedet worden ist. In ihrem Grundsatz sah die
„Reform“ bereits damals vor, die Lebensarbeitszeit – für jene,
die eine Pension zum vollen Satz beziehen wollen – von zuvor
37,5 Beitragsjahren zur Rentenkasse (eine Zahl, die vor 1993 für
alle abhängig Beschäftigten und zehn Jahre später bereits nur
noch für die Staatsbediensteten gültig war) auf perspektivisch
42,5 Beitragsjahre bis im Jahr 2020 verlängert werden. In diesem
Jahr 2008 wurde nun, in diesem Rahmen, nach schrittweiser
Anhebung, die Schwelle der 40 Beitragsjahre für alle
Lohnabhängigen und also auch für die Staatsbediensteten erreicht.
Nur soll laut dem Beschluss von 2003 jedes weitere (Beitrags-)Jahr
Anhebung durch die Regierung, „nach Konsultation der
Sozialpartner”, nochmals ausdrücklich bestätigt werden.
Dies sollte
damals die „Sozialpartner“ beruhigen, insbesondere die
rechtssozialdemokratische CFDT, die trotz massiver Proteste und
Demonstrationen seit dem 15. Mai 2003 die „Reform“ auch
ausdrücklich unterstützte – aber sich als „Gegenleistung“ diese
„Garantie“ der späteren nochmaligen Überprüfung bzw.
„Bilanzierung“ durch die Regierung geben lieb.
Dieses
Jahr steht nun also deswegen die Bestätigung des Übergangs von
40 auf 41 Beitragsjahre an. Und das steht auch im Moment konkret
auf der Tagesordnung. Das Kabinett von François Fillon, wie auch
sein Arbeits- und Sozialminister Xavier Bertrand, haben den
Gewerkschaften in punkto „Konsultation” ganz klar signalisiert:
„Wir können gerne reden und noch weiter reden, aber in der Sache
werden wir gar nichts am Beschlossenen ändern.” Denn der
Beschluss sei ja bereits im Jahr 2003 gefallen.
Und da
mindestens ein grober
Gewerkschaftsbund – die rechtssozialdemokratische CFDT, die 2003
die “Reform” im Grundsatz unterstützt hat – im Moment zwar
verbal protestiert, aber zugleich nicht an der von ihr
mitgetragenen „Reform” von 2003 rütteln will, gibt es nicht
einmal eine gewerkschaftliche Einheit in dieser Frage.
Die CFDT nimmt verbal gegen die autoritäre Methode, mit der die
Regierung die erneute Anhebung der Zahl der erforderlichen
Beitragsjahre einfach (wie schon seit 2003 geplant) durchzieht,
Stellung. Und fordert zumindest erneut – wie theoretisch auch
schon 2003 – „Gegenleistungen“, etwa in Form einer Anhebung des
Grads der in Lohn und Brot stehenden Beschäftigten oberhalb von
50 Jahren. Da nämlich einerseits die Betriebe diese „Senioren“
als „zu alt, zu teuer, zu unproduktiv“ systematisch los zu
werden versuchen, andererseits aber die Lebensarbeitzeit
theoretisch wächst, entsteht im Prinzip ein Widerspruch. In der
Praxis wird dieser scheinbar Widerspruch freilich dadurch (aus
Sicht der Bourgeoisie bestens) gelöst, dass die Leute einfach
mit niedrigen Pensionen aufgrund von Abschlagszahlungen in (Früh-)Pension
gehen – oder aber, und hier liegt der Hase im Pfeffer, zum
Abschluss privater Zusatzversicherungen oder Betriebsrenten
gezwungen werden. Ihrerseits setzt nun die CFDT an dem
vermeintlichen Widerspruch (der in Wirklichkeit keiner ist,
sondern dem Resultat eines politischen Willens entspricht) an,
um Beschäftigungsförderungsprogramme für die „Senioren“ ab 50 zu
reklamieren. Ein Wunsch, den die Regierung theoretisch auch teil,
weshalb sie einige Programme dazu aufgelegt hat, die freilich
nur geringe Wirkung entfalten.
Unterdessen ruft die CFDT – am gestrigen Tage zusammen mit allen
anderen französischen Gewerkschaftsorganisationen, die
irgendeine Bedeutung haben – zwar zu den Demonstrationen gegen
die „nächste Stufe der Rentenreform“ mit auf. Aber gleichzeitig
verhinderte sie, dass realer Druck entfaltet werden konnte,
indem etwa eine Konvergenz der unterschiedlichen
gesellschaftlichen Kämpfe der letzten Wochen und Monate
entstanden wäre. So gibt es seit März dieses Jahres eine breite
Protestbewegung von Oberschüler/inne/n (lycéens) und auch
Lehrer/innen gegen den für das nächste Schuljahr geplanten Abbau
von 11.800 Lehrer/innen/stellen im nationalen öffentlichen
Bildungswesen. (Im „Ausgleich“ sollen nunmehr die – überwiegend
katholischen, und zahlungspflichtigen – Privatschulen kräftig
gefördert werden, was zudem als prächtiger Ausweg für die
Bildungsmisere in den Sozialghettos der französischen Banlieues
verkauft und regierungsamtlich angepriesen wird.) Ihren
Höhepunkt fand diese Bewegung Ende März, als 40.000 bis 50.000
Oberschüler/innen, Lehrer/innen und auch Eltern allein in
Paris
demonstrierten. Danach sank das Mobilisierungsniveau, u.a.
aufgrund der 14tägigen Frühjahrsferien im Unterricht während des
April, zeitweise ab.
Doch seit
Anfang Mai kam die Bewegung nochmals – obwohl schwächer als
zuvor – in Schwung.
Aber
nun setzt Bildungsminister Xavier Darcos offen auf das „Aussitzen
des Problems“ und darauf, dass nun in Bälde – im Juni – das
Abitur beginnen wird, was die Betreffenden schon zu einem
Aussetzen des Protests zwingen werde. Am Ende der vergangenen
Woche erfuhr die Protestbewegung nochmals ein Aufbäumen: Am
Donnerstag fanden Streiks im Bildungswesen und parallel dazu
Demonstrationen in zahlreichen französischen Städten statt. Und
am Sonntag rief die gröbte
Lehrer/innen/gewerkschaft FSU frankreichweit zu einem
Demonstrationstag „zur Verteidigung des öffentlichen Schulwesens“
auf, in Paris kamen dazu rund 50.000 Menschen. Nun hätte es also
nahe gelegen, diese relativ breite Protestbewegung mit jener
gegen die „Rentenreform“ zusammenzulegen – so, wie der
Massenstreik im Frühjahr 2003 gegen den Kern der „Rentenreform“
perfekt mit einem massiven Ausstand im französischen
Bildungswesen zusammenfiel, wobei die Lehrer/innen damals die „Speerspitze“
der allgemeinen sozialen Kämpfe bildeten. Aber das verhinderte
insbesondere der Einspruch der CFDT(-Spitze): Deren
Generalsekretär François Chérèque bemängelte im Vorfeld, im
Falle eines Zusammenführens der beiden Kämpfe würden „die (Ober)Schüler
nur instrumentalisiert“, durch die Erwachsenen bzw.
Gewerkschaften.
Als ob es
sich um unmündige Kinder handele, und als ob die Jugendlichen an
den Oberschulen nicht um Unterstützung für ihren Protest rufen
würden... Aus diesem Grunde also kam es nicht zu einer „Fusion“
der Protesttage, sondern zu auseinanderfallenden
Mobilisierungsdaten. Jene, die an mehreren Demonstrationen –
etwa am Donnerstag vergangener Woche, am Sonntag und jetzt
wiederum am gestrigen Tag – teilnahmen, zeigen entsprechend
begreifliche Ermüdungserscheinungen. Dennoch waren einige
kämpferisch wirkende Lehrerblocks mit eigenen Transparenten in
der gestrigen Pariser Demo vertreten, neben Blocks der
streikenden Sans papiers.
Aus
all den genannten Gründen ist jedoch nicht anzunehmen, dass der
Protest auf seinem jetzigen Niveau genügen dürfte, um die
nächste Stufe bei der Anhebung der Lebensarbeitszeit in
Frankreich zu verhindern.
Dazu wäre schon mehr erforderlich...
Editorische
Anmerkungen
Den Text
erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung
|