Nach dem antifaschistischen Kongreß
im März 1929 entfaltete sich in der Berliner Arbeiterschaft eine
starke Protestbewegung gegen das vom sozialdemokratischen
Polizeipräsidenten Karl Zörgiebel erlassene Verbot von
Demonstrationen und Versammlungen unter freiem Himmel, das der
Arbeiterschaft das Recht auf die Straße auch am 1. Mai, dem
internationalen Kampftag des Proletariats, streitig machte. Die
Arbeiterklasse durfte diesen Anschlag auf die demokratischen
Rechte nicht widerstandslos hinnehmen. Daher rief die
KPD durch ihre Presse und durch Maueranschläge die
Berliner Werktätigen zu einer machtvollen friedlichen
Maidemonstration auf. Durch das Wirken der KPD entstanden in
verschiedenen Stadtbezirken Maikomitees; in vielen Betrieben
protestierten Arbeiter gegen das Demonstrationsverbot.Obwohl
sich bürgerliche und sozialdemokratische Zeitungen in den Tagen
vor dem 1. Mai 1929 in der Veröffentlichung antikommunistischer
Verleumdungen überboten, waren am 1. Mai 1929 fast 200 000
Berliner auf dem Wege zu den Stellplätzen. An vielen
Treffpunkten bildeten sich Demonstrationszüge. Polizeieinheiten
gingen brutal gegen die Menschenansammlungen vor und knüppelten
die Demonstrationszüge, die von den Außenbezirken in das
Stadtzentrum zu gelangen suchten, auseinander. Doch immer wieder
schlossen sich unter Führung von Kommunisten, Mitgliedern des
Roten Frontkämpferbundes und des Kommunistischen Jugendverbandes
Gruppen von Demonstranten zusammen, um sich zum Stadtinnern
durchzuschlagen. In der Mittagszeit schössen Polizisten
gewissenlos in Ansammlungen von Demonstranten und in eine von
etwa 3000 Teilnehmern besuchte
Versammlung der Rohrleger in Kliems Festsälen. Am Senefelder-
und am Bülowplatz sowie am Hackeschen Markt verursachten
Polizeieinheiten blutige Zusammenstöße.
Die Berliner Arbeiter setzten sich erbittert gegen die
Überfälle der Polizei zur Wehr. Sie errichteten
Verkehrshindernisse, um den Einsatzwagen der Polizei den Weg zu
versperren. In den Abend- und Nachtstunden des 1.Mai
1929 gingen Arbeiter in Neukölln und im Wedding spontan zur
bewaffneten Abwehr über. Arbeiter bauten Barrikaden und
verteidigten sie gegen die Angriffe der Polizei. In jenen Tagen
wurde die Kösliner Straße im Wedding weit über Deutschland
hinaus als Symbol des Abwehrwillens der klassenbewußten Berliner
Arbeiter gegen den Polizeiterror bekannt. Trotz des
Ausnahmezustandes dauerten die Abwehraktionen an einigen Stellen
bis zum Abend des 3. Mai 1929 an.
Bei diesen Zusammenstößen fanden 31 Werktätige den Tod.
Mehrere hundert Berliner wurden verletzt und über 1200
verhaftet. Am 3. Mai 1929 wurde „Die Rote Fahne" für sieben
Wochen verboten. Das geschah in Preußen, von dem bürgerliche und
sozialdemokratische Historiker behaupten, es sei ein „Bollwerk
der Demokratie" gewesen.
In dieser schwierigen Situation bewies die KPD hohe
politische Reife. Sie verteidigte die Demonstranten standhaft
vor dem blutigen Polizeiterror, ließ sich jedoch durch die
Selbstschutzmaßnahmen der Arbeiter nicht zum bewaffneten
Aufstand verleiten, waren doch dafür keine Voraussetzungen
gegeben. Die Partei durchschaute die provokatorischen Absichten
des Klassenfeindes. Daher rief sie die Arbeiter zum politischen
Proteststreik und damit zur Anwendung einer der Lage
entsprechenden Kampfform auf. Ernst Thälmann begab sich in das
Kampfgebiet, durch Kellerverbindungen die Polizeiabsperrung
durchbrechend, um die kämpfenden Arbeiter in nächtlicher
Beratung zu überzeugen, daß es notwendig sei, sich geordnet
zurückzuziehen.
Obwohl die Staatsorgane gemeinsam mit den Unternehmern jeden
Protest gegen die Polizeiprovokation zu ersticken bemüht waren,
traten in Berlin etwa 25 000 Arbeiter, vor allem Bauarbeiter,
Rohrleger, Schuhmacher und Tabakarbeiterinnen, und im
Ruhrgebiet, in Hamburg und in anderen Städten etwa 50 000
Arbeiter in den ersten politischen Massenstreik seit 1923. In
Massenkundgebungen in Bielefeld, Bottrop, Breslau, Düsseldorf,
Essen, Gelsenkirchen, Hamburg, Köln, München,
München-Gladbach, Rheydt, Solingen und anderen Städten brachten
die Versammelten ihre Empörung über das abscheuliche Blutbad in
Berlin zum Ausdruck. Die sowjetischen Werktätigen und die
klassenbewußten Arbeiter in Kopenhagen, Prag und Wien, in
französischen Städten, in Großbritannien und in anderen Ländern
bekundeten den revolutionären deutschen Arbeitern ihre
Solidarität. Am 8. Mai 1929, dem Tag der Beisetzung der
Ermordeten, legten Arbeiter in vielen Betrieben zeitweilig die
Arbeit nieder. Wilhelm Pieck und Ernst Thälmann brandmarkten den
Polizeiterror in ihren Trauerreden auf dem Friedhof
Friedrichsfelde vor vielen Berlinern und zahlreichen
Arbeiterdelegationen aus fast allen Gebieten Deutschlands und
mahnten, das Vermächtnis der Toten zu erfüllen.
Für die blutigen Zusammenstöße am 1. Mai 1929 trug die
preußische Regierung die volle Verantwortung. Die bürgerliche
Presse und die meisten sozialdemokratischen Zeitungen aber
erzeugten eine antikommunistische Hysterie, die an die
Oktobertage 1923 erinnerte. Die Kommunisten wurden als
„Putschisten" verleumdet, um ihren Einfluß in der Arbeiterklasse
zurückzudrängen und das Kleinbürgertum gegen die KPD
aufzubringen. Die preußische Regierung nutzte die
antikommunistische Hetze aus, um mit Zustimmung der
Reichsregierung am 3. Mai 1929 den Roten Frontkämpferbund zu
verbieten. In den folgenden Tagen schlossen sich die übrigen
Landesregierungen - zum Teil nach direkter Aufforderung durch
den sozialdemokratischen Reichsminister des Innern Carl Severing
- diesem Unterdrückungsfeldzug an. Das Verbot des etwa 150000
Mitglieder zählenden RFB in der Amtszeit der
Hermann-Müller-Regierung und eingeleitet durch die
sozialdemokratisch geführte preußische Koalitionsregierung war
ein schwerer Schlag gegen die Arbeiterklasse und alle
demokratischen Kräfte und erleichterte die antirepublikanische
und antidemokratische Tätigkeit der militaristischen und
faschistischen Organisationen.
Angesichts der zahlreichen Verleumdungen, die gegen die KPD
erhoben wurden, war es von großer Bedeutung, daß sich
hervorragende Angehörige der Intelligenz, aufrechte bürgerliche
Demokraten und Vertreter der Arbeiterklasse in einem Ausschuß
zur Untersuchung der Berliner Maivorgänge vereinten, der im Juni
1929 in aller Öffentlichkeit nachprüfte, wer für die
Maiereignisse verantwortlich war. Dieser Ausschuß, dem Alfred
Apfel, Alfred Döblin, Ottomar Geschke, Alfons Goldschmidt, Egon
Erwin Kisch, Heinrich Mann, Carl von Ossietzky, Herwarth Waiden
und andere angehörten und dessen Vorsitz Stefan Großmann
übernommen hatte, befragte in öffentlicher Versammlung Hunderte
von Zeugen - unter ihnen auch Wilhelm Pieck, den Politischen
Sekretär der Bezirksorganisation der KPD
Berlin-Brandenburg-Lausitz-Grenzmark - über den Verlauf der
Ereignisse. Die Verhandlungen des Ausschusses wurden eine Art
Volkstribunal, das die Verantwortung der Polizei für die
blutigen Ausschreitungen gegen friedliche Demonstranten und
Bürger in den ersten Maitagen einwandfrei nachwies. Daher
stellte sich der Untersuchungsausschuß eindeutig auf die Seite
des klassenbewußten Berliner Proletariats. Mutig forderte Carl
von Ossietzky: „Zörgiebel muß weg!" Auch die 4000 Berliner,
die an einer Tagung des Untersuchungsausschusses im
Großen Berliner Schauspielhaus teilnahmen, machten aus ihrer
Empörung über den Arbeitermord kein Hehl.
Die Vorgänge am 1. Mai 1929 hatten die Rolle der
Hermann-Müller-Regierung beleuchtet. Auch dieses Kabinett
vertrat die Interessen der herrschenden Monopolkreise. Alle
wichtigen Wahlversprechungen der SPD hatten die
sozialdemokratischen Minister gebrochen: Anstatt neue
Rüstungsausgaben zu verhindern, stimmten sie dem Bau des
Panzerkreuzers A zu; anstatt entschlossene Maßnahmen gegen die
militaristische Reaktion zu ergreifen und die faschistische
Hitlerbewegung zu unterdrücken, wurden die revolutionären
Arbeiter verfolgt, ihre Zeitungen verboten, die Tätigkeit ihrer
Organisationen behindert oder gar, wie es mit dem RFB geschah,
unterdrückt; anstatt die Massensteuern zu senken, stimmten auch
die sozialdemokratischen Minister ihrer Erhöhung zu; anstatt
gegen die Monopolgewaltigen aufzutreten, wich die
Reichsregierung vor ihnen zurück, wie es sich bei der
Aussperrung der Ruhrarbeiter augenscheinlich gezeigt hatte. Von
einer „Endschlacht" um den Achtstundentag war keine Rede mehr.
Auch der sozialdemokratische Reichsarbeitsminister verfügte
Schiedssprüche mit Arbeitszeiten von neun und zehn Stunden
täglich und setzte die Schlichtungsmaschine gegen die
Tarifbewegungen der Arbeiter und Angestellten in Gang.
In den Verbänden des ADGB bewirkten rechte Sozialdemokraten
den Ausschluß vieler Kommunisten. Sozialdemokratische
Funktionäre trugen die organisatorische Spaltung auch in andere
proletarische Massenorganisationen. Dies traf besonders für den
Arbeiter-Turn-und-Sport-Bund zu, dessen Bundestag im Juni 1928
in Leipzig den oppositionellen Delegierten die Mandate aberkannt
hatte. In den folgenden Monaten veranlaßte der Bundesvorstand
den Ausschluß Zehntausender Arbeitersportler aus dem
Arbeiter-Turn-und-Sport-Bund.
Viele führende Sozialdemokraten waren mit dem Weimarer Staat
aufs engste verbunden, stellte doch die SPD in dieser Zeit nach
unvollständigen Angaben neben vielen Landesministern,
Oberbürgermeistern und Polizeipräsidenten über 684 Reichstags-
und Landtagsabgeordnete, fast 4800 Abgeordnete in
Provinziallandtagen und Kreistagen und 2400 Bürgermeister,
besoldete Stadträte und Gemeindevorsteher. 46800
Sozialdemokraten waren in den Gemeindevertretungen und als
Stadtverordnete tätig. Zehntausende Sozialdemokraten waren in
den Gewerkschaften und in den Genossenschaften, im
Versicherungswesen, in den Krankenkassen und in verschiedenen
proletarischen Massenorganisationen angestellt. Insgesamt
arbeiteten etwa 300000 Mitglieder der SPD in staatlichen Ämtern,
im Partei- und im Gewerkschaftsapparat sowie in den
selbständigen Unternehmen der Sozialdemokratie und des ADGB. Je
höher die Funktionen waren, die Mitglieder der SPD ausübten,
desto enger fühlten sie sich in der Regel mit dem Weimarer Staat
und der kapitalistischen Ordnung verbunden, desto weniger waren
sie gewillt, die sozialen und demokratischen Interessen der
Werktätigen entschieden zu vertreten.
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