80 Jahre Blutmai
SPD mit dem Weimarer Staat aufs Engste verbunden

aus Geschichte der Arbeiterbewegung" Band 4, Berlin 1966, S.198ff

05/09

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Nach dem antifaschistischen Kongreß im März 1929 entfaltete sich in der Berliner Arbeiterschaft eine starke Protestbewegung gegen das vom sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Karl Zörgiebel erlassene Verbot von Demonstrationen und Versammlungen unter freiem Himmel, das der Arbeiterschaft das Recht auf die Straße auch am 1. Mai, dem internationalen Kampftag des Proletariats, streitig machte. Die Arbeiterklasse durfte diesen Anschlag auf die demokratischen Rechte nicht widerstandslos hinnehmen. Daher rief die KPD durch ihre Presse und durch Maueranschläge die Berliner Werktätigen zu einer machtvollen friedlichen Maidemonstration auf. Durch das Wirken der KPD entstanden in verschiedenen Stadtbezirken Maikomitees; in vielen Betrieben protestierten Arbeiter gegen das Demonstrationsverbot.

Obwohl sich bürgerliche und sozialdemokratische Zeitungen in den Tagen vor dem 1. Mai 1929 in der Veröffentlichung antikommunistischer Verleumdungen überboten, waren am 1. Mai 1929 fast 200 000 Berliner auf dem Wege zu den Stellplätzen. An vielen Treffpunkten bildeten sich Demonstrationszüge. Polizeieinheiten gingen brutal gegen die Menschenansammlungen vor und knüppelten die Demonstrationszüge, die von den Außenbezirken in das Stadtzentrum zu gelangen suchten, auseinander. Doch immer wieder schlossen sich unter Führung von Kommunisten, Mitgliedern des Roten Frontkämpferbundes und des Kommunistischen Jugendverbandes Gruppen von Demonstranten zusammen, um sich zum Stadtinnern durchzuschlagen. In der Mittagszeit schössen Polizisten gewissenlos in Ansammlungen von Demonstranten und in eine von etwa 3000 Teilnehmern besuchte Versammlung der Rohrleger in Kliems Festsälen. Am Senefelder- und am Bülowplatz sowie am Hackeschen Markt verursachten Polizeieinheiten blutige Zusammenstöße.

Die Berliner Arbeiter setzten sich erbittert gegen die Überfälle der Polizei zur Wehr. Sie errichteten Verkehrshindernisse, um den Einsatzwagen der Polizei den Weg zu versperren. In den Abend- und Nachtstunden des 1.Mai 1929 gingen Arbeiter in Neukölln und im Wedding spontan zur bewaffneten Abwehr über. Arbeiter bauten Barrikaden und verteidigten sie gegen die Angriffe der Polizei. In jenen Tagen wurde die Kösliner Straße im Wedding weit über Deutschland hinaus als Symbol des Abwehrwillens der klassenbewußten Berliner Arbeiter gegen den Polizeiterror bekannt. Trotz des Ausnahmezustandes dauerten die Abwehraktionen an einigen Stellen bis zum Abend des 3. Mai 1929 an.

Bei diesen Zusammenstößen fanden 31 Werktätige den Tod. Mehrere hundert Berliner wurden verletzt und über 1200 verhaftet. Am 3. Mai 1929 wurde „Die Rote Fahne" für sieben Wochen verboten. Das geschah in Preußen, von dem bürgerliche und sozialdemokratische Historiker behaupten, es sei ein „Bollwerk der Demokratie" gewesen.

In dieser schwierigen Situation bewies die KPD hohe politische Reife. Sie verteidigte die Demonstranten standhaft vor dem blutigen Polizeiterror, ließ sich jedoch durch die Selbstschutzmaßnahmen der Arbeiter nicht zum bewaffneten Aufstand verleiten, waren doch dafür keine Voraussetzungen gegeben. Die Partei durchschaute die provokatorischen Absichten des Klassenfeindes. Daher rief sie die Arbeiter zum politischen Proteststreik und damit zur Anwendung einer der Lage entsprechenden Kampfform auf. Ernst Thälmann begab sich in das Kampfgebiet, durch Kellerverbindungen die Polizeiabsperrung durchbrechend, um die kämpfenden Arbeiter in nächtlicher Beratung zu überzeugen, daß es notwendig sei, sich geordnet zurückzuziehen.

Obwohl die Staatsorgane gemeinsam mit den Unternehmern jeden Protest gegen die Polizeiprovokation zu ersticken bemüht waren, traten in Berlin etwa 25 000 Arbeiter, vor allem Bauarbeiter, Rohrleger, Schuhmacher und Tabakarbeiterinnen, und im Ruhrgebiet, in Hamburg und in anderen Städten etwa 50 000 Arbeiter in den ersten politischen Massenstreik seit 1923. In Massenkundgebungen in Bielefeld, Bottrop, Breslau, Düsseldorf, Essen, Gelsenkirchen, Hamburg, Köln, München, München-Gladbach, Rheydt, Solingen und anderen Städten brachten die Versammelten ihre Empörung über das abscheuliche Blutbad in Berlin zum Ausdruck. Die sowjetischen Werktätigen und die klassenbewußten Arbeiter in Kopenhagen, Prag und Wien, in französischen Städten, in Großbritannien und in anderen Ländern bekundeten den revolutionären deutschen Arbeitern ihre Solidarität. Am 8. Mai 1929, dem Tag der Beisetzung der Ermordeten, legten Arbeiter in vielen Betrieben zeitweilig die Arbeit nieder. Wilhelm Pieck und Ernst Thälmann brandmarkten den Polizeiterror in ihren Trauerreden auf dem Friedhof Friedrichsfelde vor vielen Berlinern und zahlreichen Arbeiterdelegationen aus fast allen Gebieten Deutschlands und mahnten, das Vermächtnis der Toten zu erfüllen.

Für die blutigen Zusammenstöße am 1. Mai 1929 trug die preußische Regierung die volle Verantwortung. Die bürgerliche Presse und die meisten sozialdemokratischen Zeitungen aber erzeugten eine antikommunistische Hysterie, die an die Oktobertage 1923 erinnerte. Die Kommunisten wurden als „Putschisten" verleumdet, um ihren Einfluß in der Arbeiterklasse zurückzudrängen und das Kleinbürgertum gegen die KPD aufzubringen. Die preußische Regierung nutzte die antikommunistische Hetze aus, um mit Zustimmung der Reichsregierung am 3. Mai 1929 den Roten Frontkämpferbund zu verbieten. In den folgenden Tagen schlossen sich die übrigen Landesregierungen - zum Teil nach direkter Aufforderung durch den sozialdemokratischen Reichsminister des Innern Carl Severing - diesem Unterdrückungsfeldzug an. Das Verbot des etwa 150000 Mitglieder zählenden RFB in der Amtszeit der Hermann-Müller-Regierung und eingeleitet durch die sozialdemokratisch geführte preußische Koalitionsregierung war ein schwerer Schlag gegen die Arbeiterklasse und alle demokratischen Kräfte und erleichterte die antirepublikanische und antidemokratische Tätigkeit der militaristischen und faschistischen Organisationen.

Angesichts der zahlreichen Verleumdungen, die gegen die KPD erhoben wurden, war es von großer Bedeutung, daß sich hervorragende Angehörige der Intelligenz, aufrechte bürgerliche Demokraten und Vertreter der Arbeiterklasse in einem Ausschuß zur Untersuchung der Berliner Maivorgänge vereinten, der im Juni 1929 in aller Öffentlichkeit nachprüfte, wer für die Maiereignisse verantwortlich war. Dieser Ausschuß, dem Alfred Apfel, Alfred Döblin, Ottomar Geschke, Alfons Goldschmidt, Egon Erwin Kisch, Heinrich Mann, Carl von Ossietzky, Herwarth Waiden und andere angehörten und dessen Vorsitz Stefan Großmann übernommen hatte, befragte in öffentlicher Versammlung Hunderte von Zeugen - unter ihnen auch Wilhelm Pieck, den Politischen Sekretär der Bezirksorganisation der KPD Berlin-Brandenburg-Lausitz-Grenzmark - über den Verlauf der Ereignisse. Die Verhandlungen des Ausschusses wurden eine Art Volkstribunal, das die Verantwortung der Polizei für die blutigen Ausschreitungen gegen friedliche Demonstranten und Bürger in den ersten Maitagen einwandfrei nachwies. Daher stellte sich der Untersuchungsausschuß eindeutig auf die Seite des klassenbewußten Berliner Proletariats. Mutig forderte Carl von Ossietzky: „Zörgiebel muß weg!" Auch die 4000 Berliner, die an einer Tagung des Untersuchungsausschusses im Großen Berliner Schauspielhaus teilnahmen, machten aus ihrer Empörung über den Arbeitermord kein Hehl.

Die Vorgänge am 1. Mai 1929 hatten die Rolle der Hermann-Müller-Regierung beleuchtet. Auch dieses Kabinett vertrat die Interessen der herrschenden Monopolkreise. Alle wichtigen Wahlversprechungen der SPD hatten die sozialdemokratischen Minister gebrochen: Anstatt neue Rüstungsausgaben zu verhindern, stimmten sie dem Bau des Panzerkreuzers A zu; anstatt entschlossene Maßnahmen gegen die militaristische Reaktion zu ergreifen und die faschistische Hitlerbewegung zu unterdrücken, wurden die revolutionären Arbeiter verfolgt, ihre Zeitungen verboten, die Tätigkeit ihrer Organisationen behindert oder gar, wie es mit dem RFB geschah, unterdrückt; anstatt die Massensteuern zu senken, stimmten auch die sozialdemokratischen Minister ihrer Erhöhung zu; anstatt gegen die Monopolgewaltigen aufzutreten, wich die Reichsregierung vor ihnen zurück, wie es sich bei der Aussperrung der Ruhrarbeiter augenscheinlich gezeigt hatte. Von einer „Endschlacht" um den Achtstundentag war keine Rede mehr. Auch der sozialdemokratische Reichsarbeitsminister verfügte Schiedssprüche mit Arbeitszeiten von neun und zehn Stunden täglich und setzte die Schlichtungsmaschine gegen die Tarifbewegungen der Arbeiter und Angestellten in Gang.

In den Verbänden des ADGB bewirkten rechte Sozialdemokraten den Ausschluß vieler Kommunisten. Sozialdemokratische Funktionäre trugen die organisatorische Spaltung auch in andere proletarische Massenorganisationen. Dies traf besonders für den Arbeiter-Turn-und-Sport-Bund zu, dessen Bundestag im Juni 1928 in Leipzig den oppositionellen Delegierten die Mandate aberkannt hatte. In den folgenden Monaten veranlaßte der Bundesvorstand den Ausschluß Zehntausender Arbeitersportler aus dem Arbeiter-Turn-und-Sport-Bund.

Viele führende Sozialdemokraten waren mit dem Weimarer Staat aufs engste verbunden, stellte doch die SPD in dieser Zeit nach unvollständigen Angaben neben vielen Landesministern, Oberbürgermeistern und Polizeipräsidenten über 684 Reichstags- und Landtagsabgeordnete, fast 4800 Abgeordnete in Provinziallandtagen und Kreistagen und 2400 Bürgermeister, besoldete Stadträte und Gemeindevorsteher. 46800 Sozialdemokraten waren in den Gemeindevertretungen und als Stadtverordnete tätig. Zehntausende Sozialdemokraten waren in den Gewerkschaften und in den Genossenschaften, im Versicherungswesen, in den Krankenkassen und in verschiedenen proletarischen Massenorganisationen angestellt. Insgesamt arbeiteten etwa 300000 Mitglieder der SPD in staatlichen Ämtern, im Partei- und im Gewerkschaftsapparat sowie in den selbständigen Unternehmen der Sozialdemokratie und des ADGB. Je höher die Funktionen waren, die Mitglieder der SPD ausübten, desto enger fühlten sie sich in der Regel mit dem Weimarer Staat und der kapitalistischen Ordnung verbunden, desto weniger waren sie gewillt, die sozialen und demokratischen Interessen der Werktätigen entschieden zu vertreten.

 

 

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