Das Philosophische Wörterbuch  BAND 2

hrg. von Georg Klaus & Manfred Buhr

05/09

trend
onlinezeitung

Negation der Negation, Gesetz der - objektiv wirkendes allgemeines Grundgesetz der materialistischen Dialektik
dem zufolge die Entwicklung als ständige Negation bestehender Qualitäten dergestalt vor sich geht, daß eine negierte Qualität eine erneute Negation erfährt und die Entwicklung somit wesentliche Seiten der ursprünglichen Qualität auf höherer Ebene gleichsam wiederholt. Die Auffassung der Negation der Negation als eines allgemeinen Gesetzes der Dialektik geht auf Hegel zurück, der sie allerdings nicht als ein Gesetz der in Zeit und Raum sich vollziehenden objektiven Entwicklung der Materie und ihrer Bewegungsformen begreift, sondern - idealistisch - als ein Entwicklungsgesetz der absoluten Idee. Hegel betrachtete das Gesetz von der Negation der Negation als das Grundgesetz der Dialektik schlechthin.

Es durchzieht sein System als leitendes und richtunggebendes Motiv und wird bei ihm zu einem künstlichen Entwicklungsschema, auf dessen Grundlage der Versuch unternommen wird, den Weltprozeß als ein System ineinandergeschachtelter Triaden - bestehend aus Position, Negation und Negation der Negation - darzustellen. Der dialektische Materialismus betont den objektiven Charakter der Negation der Negation. Von der idealistischen Hülle befreit, unter der sich der rationelle Kern der Negation der Negation bei Hegel verbirgt, erweist sich dieselbe als eine «sehr einfache, überall und täglich sich vollziehende Prozedur, die jedes Kind verstehn kann, sobald man den Geheimniskram abstreift, unter dem die alte idealistische Philosophie sie verhüllte» (Marx/ Engels 20,126). Da sich jede Entwicklung als eine dialektische Negation bestehender Qualitäten vollzieht, wobei die neue Qualität alles Positive der alten in sich aufbewahrt, die Entwicklung auf dieser Stufe aber nicht stehenbleibt, so muß auch die neue Qualität ihrerseits eine Negation erfahren. Als Resultat dieser zweiten Negation, also der Negation der Negation, entsteht eine neue Qualität, die - logisch gesehen - mit der ursprünglichen, der Position, identisch sein müßte, die aber, da sie um die positiven, progressiven Seiten der beiden ersten Entwicklungsphasen bereichert ist, nur eine formale Ähnlichkeit rnk dem Ausgangsstadium aufweist. Die Entwicklung wiederholt im Stadium der Negation der Negation bestimmte Züge und Merkmale voraufgegangener Stadien auf höherer Stufenleiter und kann daher bildlich durch die Form einer Spirale veranschaulicht werden. Es ist dies eine «Entwicklung, die die bereits durchlaufenen Stadien gleichsam noch einmal durchmacht, aber anders, auf höherer Stufe (,Negation der Negation'), eine Entwicklung, die nicht geradlinig, sondern sozusagen in einer Spirale vor sich geht...» (Lenin 21, 42 f). In seiner Darstellung der Elemente der Dialektik charakterisiert Lenin diese Seite der dialektischen Entwicklung als «... die Wiederholung bestimmter Züge, Eigenschaften etc. eines niederen Stadiums in einem höheren und ... die scheinbare Rückkehr zum Alten (Negation der Negation)» (Lenin 38, 214). Bei der Analyse von Entwicklungsprozessen materieller dynamischer Systeme aus der Sicht des Gesetzes der Negation der Negation ist zu beachten, daß die Stadien der Negation und der Negation der Negation sich auf denselben Bezugspunkt beziehen müssen, d. h., daß ihnen derselbe Negationsparameter zugrunde gelegt werden muß. Ein im Stadium der Negation der Negation relativ abgeschlossener Entwicklungszyklus wird stets durch einen bestimmten Negationsparameter charakterisiert. Mit Abschluß des Stadiums der Negation der Negation erfolgt die weitere Entwicklung des Systems nach anderen Negationsparametern. Ein System kann nun freilich im Laufe seiner Entwicklung nach ganz verschiedenen Parametern negiert werden. Diese Negationen nach Parametern, die sich von dem charakteristischen Negationsparameter des jeweiligen Entwicklungszyklus unterscheiden, bestimmen den Entwicklungsabstand, in dem sich das System im Stadium der Negation der Negation im Vergleich zum Ausgangsstadium der Position befindet. Wenn der Entwicklungsabstand seinen Ausdruck in einer höheren Organisiertheit und größeren Stabilität des Systems findet, so sprechen wir auch von einer progressiven, im umgekehrten Falle von einer regressiven Entwicklung.

Da sich die Entwicklung eines materiellen dynamischen Systems nach verschiedenen Negationsparametern vollzieht, jedes dieser Systeme aber eine Hauptentwicklungsrichtung aufweist, muß bei der Einschätzung seiner Entwicklung aus der Sicht des Gesetzes der Negation der Negation vor allem analysiert werden, welches der Hauptnegationsparameter des Systems ist. Es ergibt sich aus dem Studium des Hauptwiderspruchs, welcher der Entwicklung des Systems zugrunde liegt. Ist der Hauptnegationsparameter auf Grund einer konkreten Analyse des Systems und seiner Wechselwirkungen mit der Umwelt gefunden, so ist es insbesondere möglich, die weitere Entwicklung des Systems in Gestalt der Stadien der Negation bzw. der Negation der Negation der diesem Parameter entsprechenden Verhaltensweise des Systems vorauszusagen.

Für den dialektischen Materialismus ist das Gesetz der Negation der Negation nicht das Grundgesetz der Dialektik schlechthin. Es beschreibt nur eine bestimmte Seite der Entwicklung: zum Unterschied vom Gesetz der Einheit und des «Kampfes» der Gegensätze, das die Ursache und die Quelle der Entwicklung aufdeckt, und dem Gesetz vom Umschlagen quantitativer Veränderungen in qualitative, das den Charakter der Lösung der Widersprüche und den inneren Mechanismus der Entwicklung kennzeichnet, weist das Gesetz der Negation der Negation auf den inneren Zusammenhang der einzelnen Entwicklungsstadien hin und gibt die allgemeine Tendenz und Richtung der Entwicklung an. Als solches ist es ein «äußerst allgemeines und eben deswegen äußerst weitwirkendes und wichtiges Entwicklungsgesetz der Natur, der Geschichte und des Denkens» (Marx/Engels 20, 131). Engels erläuterte dieses Gesetz an einer Reihe anschaulicher Beispiele aus verschiedenen Bereichen: «Nehmen wir ein Gerstenkorn. Billionen solcher Gerstenkörner werden vermählen, verkocht und verbraut, und dann verzehrt. Aber findet solch ein Gerstenkorn die für es normalen Bedingungen vor, fällt es auf günstigen Boden, so geht unter dem Einfluß der Wärme und der Feuchtigkeit eine eigne Veränderung mit ihm vor, es keimt; das Korn vergeht als solches, wird negiert, an seine Stelle tritt die aus ihm entstandne Pflanze, die Negation des Korns. Aber was ist der normale Lebenslauf dieser Pflanze? Sie wächst, blüht, wird befruchtet und produziert schließlich wieder Gerstenkörner, und sobald diese gereift, stirbt der Halm ab, wird seinerseits negiert. Als Resultat dieser Negation der Negation haben wir wieder das anfängliche Gerstenkorn, aber nicht einfach, sondern in zehn-, zwanzig-, dreißigfacher Anzahl. Getreidearten verändern sich äußerst langsam, und so bleibt sich die Gerste von heute ziemlich gleich mit der von vor hundert Jahren. Nehmen wir aber eine bildsame Zierpflanze, z. B. eine Dahlia oder Orchidee; behandeln wir den Samen und die aus ihm entstehende Pflanze nach der Kunst des Gärtners, so erhalten wir als Ergebnis dieser Negation

der Negation nicht nur mehr Samen, sondern auch qualitativ verbesserten Samen, der schönere Blumen erzeugt, und jede Wiederholung dieses Prozesses, jede neue Negation der Negation steigert diese Vervollkommnung. - Ähnlich wie beim Gerstenkorn vollzieht sich dieser Prozeß bei den meisten Insekten, z. B. Schmetterlingen. Sie ent-stehn aus dem Ei durch Negation des Ei's, machen ihre Verwandlungen durch bis zur Geschlechtsreife, begatten sich und werden wieder negiert, indem sie sterben, sobald der Gattungsprozeß vollendet und das Weibchen seine zahlreichen Eier gelegt hat. Daß bei ändern Pflanzen und Tieren der Vorgang nicht in dieser Einfachheit sich erledigt, daß sie nicht nur einmal, sondern mehrmal Samen, Eier oder Junge produzieren, ehe sie absterben, geht uns hier noch nichts an; wir haben hier nur nachzuweisen, daß die Negation der Negation in den beiden Reichen der organischen Welt wirklich vorkommt» (Marx/Engels 20, 126f). Das gleiche läßt sich auch für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zeigen. So wurde das urkommunistische Gemeineigentum an den Produktionsmitteln im Laufe seiner Entwicklung durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln negiert, das den einheitlichen Typ der Produktionsverhältnisse in der Sklaverei, im Feudalismus und im Kapitalismus bestimmt. Dieses wiederum wird im Laufe seiner Entwicklung ebenfalls zur Fessel der Produktion und wird notwendig durch die Wiederherstellung des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln im Sozialismus negiert. Die hier vorliegende Negation der Negation bedeutet jedoch keine einfache Rückkehr zum Gemeineigentum und dem Typ der Produktionsverhältnisse der Urgesellschaft. Das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln steht vielmehr auf einer qualitativ höheren Stufe, die in erster Linie durch den höheren Entwicklungsstand der Produktivkräfte bestimmt ist. Der für den Entwicklungszyklus Urgesellschaft - Klassengesellschaft - Sozialismus charakteristische Negationsparameter ist der Typ der Produktionsverhältnisse. Mit Abschluß dieses Zyklus, d. h. mit der Errichtung sozialistischer Produktionsverhältnisse, erfolgt die weitere Entwicklung nach anderen Negationsparametern.

Besonders eindrucksvoll zeigt sich das Wirken des Gesetzes der Negation der Negation in der Entwicklung der menschlichen Erkenntnis. Eine neue wissenschaftliche Theorie entsteht in der Regel als die Negation einer alten Anschauung, als deren Antithese, und wird im Prozeß der weiteren Entwicklung selbst wieder negiert, wobei die Negation der Negation als dialektische Synthese der früheren Erkenntnisse auftritt, die sich vom Standpunkt der neuen Theorie als Spezialfälle herausstellen. Das Gesetz der Negation der Negation dient in der marxistisch-leninistischen Philosophie nicht zu willkürlichen Konstruktionen, die der Wirklichkeit aufgezwungen werden sollen. Die methodischen Forderungen für die wissenschaftliche Arbeit und das praktische Handeln der Menschen, die aus ihm - wie aus jedem objektiven Gesetz -abgeleitet werden können, haben nichts mit willkürlichen Spekulationen zu tun; sie dienen in erster Linie als Methode zur Auffindung neuer Resultate, keinesfalls aber als Instrument des Beweisens. Engels unterstreicht, daß marx, der im Kapital nachweist, wie die geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation zur Aufhebung des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln führen muß, und diesen Prozeß als Negation der Negation bezeichnet, nicht daran denkt, ihn schon dadurch als einen geschichtlich notwendigen beweisen zu wollen. «Im Gegenteil: Nachdem er geschichtlich bewiesen hat, daß der Vorgang in der Tat teils sich ereignet hat, teils noch sich ereignen muß, bezeichnet er ihn zudem als einen Vorgang, der sich nach einem bestimmten dialektischen Gesetz vollzieht» (Marx/Engels 20,125).

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde entnommen aus:

Buhr, Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S.775ff

OCR-Scan red. trend