R.S. schreibt in
seiner Vorbemerkung seiner Textauswahl, dass der Text von
hoher Brisanz sei, da
hier aktuelle
Entwicklungstrends der Betreuung chronisch Kranker
"im Rahmen der realen kapital- und
sozialfaschistischen Gesundheitspolitik"
sichtbar werden.
(red. trend)
...Die
Intensität der medizinischen und sozialen Betreuung chronisch
Kranker, insbesondere solcher, die für lange Zeit oder auf Dauer
nicht mehr arbeitsfähig sind und ständiger Behandlung und
Fürsorge bedürfen, ist ein besonders bedeutsames Bewährungsfeld
der in einer bestimmten Gesellschaft praktizierten Humanität.
Die Art und Weise der Behandlung ist dabei von dem sich
wandelnden medizinischen Erkenntnisstand abhängig; dessen
praktische Nutzung wird jedoch weitgehend von den Haltungen der
jeweils gesellschaftlich herrschenden Kräfte geprägt.
In der
Weimarer Republik waren die sozialökonomischen und
organisatorischen Bedingungen für die Sicherung der Betreuung
chronisch Kranker widersprüchlich und derart beschaffen, dass
die durch den medizinischen Erkenntnisfortschritt möglich
gewordenen Verbesserungen nur zögernd und ansatzweise
Wirksamkeit erlangen konnten. Während dabei auf der einen Seite
die demokratische Staatsform und die partielle Mitwirkung auch
von Interessenvertretungen der Werktätigen an der Gesetzgebung
und praktischen Gestaltung der Sozialpolitik einige
Voraussetzungen bot, Verbesserungen zu erreichen, bewirkten auf
der anderen Seite die ökonomischen Machtpositionen der
imperialistischen Kräfte und deren maßgeblicher Einfluss auf die
Politik eine stete Begrenzung der für soziale und medizinische
Zwecke einsetzbaren Ressourcen wie auch eine Orientierung auf
solche Maßnahmen, die die Verbreitung der vor allem als
bevölkerungspolitisch bedrohlich beurteilten Entwicklungen
eindämmen oder verhindern sollten. Viele bedeutsame Initiativen
der an progressiven sozialpolitischen Regelungen interessierten
Kräfte, insbesondere der Parteien der Arbeiterbewegung,
reichsgesetzliche Regelungen für dringend notwendige
Verbesserungen der Behandlung und Betreuung, zum Beispiel für
die große Zahl der an Tuberkulose Erkrankungen, zu erreichen,
scheiterten am Widerstand der konservativen Parteien im
Reichstag, deren ständig vorgebrachtes Argument lautete, dass
die Mittel für umfangreiche Hilfsmaßnahmen nicht aufgebracht
werden könnten. Soweit dennoch unter diesen Bedingungen
vereinzelt Fortschritte beim Ausbau der Versorgungsleistungen
durch den Staat oder die Krankenversicherung erreicht werden
konnten - etwa durch die im Mai 1925 im Reichstag beschlossene
>Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf
gewerbliche Berufskrankheiten<, blieben derartige Regelungen auf
relativ kleine Gruppen begrenzt und hinsichtlich der praktischen
Umsetzung von den sich krisenhaft gestaltenden ökonomischen
Bedingungen abhängig.
Für die
große Gruppen der Bevölkerung hart belastenden chronischen
Erkrankungen mit langer oder dauernder Arbeitsunfähigkeit,
insbesondere für die Tuberkulosekranken, blieb die medizinische
Betreuung den Leistungsmöglichkeiten und -bereitschaften der
Krankenkassen überlassen. Diese übernahmen die finanziellen
Absicherungen in der Regel nur für die ersten sechs Monate einer
akuten Erkrankung und bewilligten Heilstättenbehandlungen nur
dann, wenn noch günstige Aussichten auf Ausheilung bestanden.
Die Fürsorge für jene Kranken, die keinen Versicherungsschutz
mehr besaßen und bereits als unheilbar angesehen wurden, oblag
den von den Kommunen finanzierten Wohlfahrtspflegediensten oder
karitativen Hilfsorganisationen.
Den
gleichen Bedingungen ungesicherter Rechtsansprüche und
unzureichender staatlicher Unterstützung war auch die große Zahl
der schwer Körperbehinderten unterworfen. Vorwiegend für Kranke
mit erheblichen Bewegungseinschränkungen im Gefolge von
Poliomyelitis, Knochentuberkulose oder traumatischen
Schädigungen war ein besonderes System der >Krüppelfürsorge<
ebenfalls bereits zu Beginn unseres Jahrhunderts [20.]
entstanden und während der Weimarer Republik hauptsächlich über
karitative Institutionen ausgebaut worden.
Widerspruchsvoll und im ganzen unzureichend blieben in dieser
Zeit auch die Fürsorgebedingungen für geistig Behinderte, deren
Betreuung fast ausschließlich karitativen Diensten der beiden
großen christlichen Kirchen überlassen blieb, sowie für
Patienten mit langdauernden und zu Chronifizierungen führenden
psychischen Erkrankungen. Für die letzteren bestand zwar ein
staatliches System der Versorgung in Gestalt der
Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten seit langem, das jedoch
ebenfalls mit bescheidenen Mitteln unterhalten werden mußte und
wenig Möglichkeiten bot, moderne Vorstellungen von einer offenen
Fürsorge zu verwirklichen oder neue Verfahren einer aktiven
Therapie wirksam zur Geltung zu bringen. (...)
Auf den
wichtigen Gebieten der Früherkennung, Behandlung und Betreuung
von Krebskranken oder Diabetikern, die zahlenmäßig einen
erheblichen Anteil der auf soziale Unterstützung angewiesenen
chronisch Kranken ausmachten und deren Versorgung auch nach 1933
zunehmend als Problem gesehen worden ist, lagen in den Jahren
der Weimarer Republik noch keine nennenswerten eigenständigen
Betreuungssysteme vor. Dies lag zum Teil an den damals noch
bescheidenen Möglichkeiten des Einsatzes wirksamer
therapeutischer Verfahren sowie gleichfalls daran, dass auch für
diese Patientengruppen die auf kommunaler Ebene entstandenen
Wohlfahrtspflegeinstitutionen verantwortlich blieben.
Unter
diesen hier nur in groben Umrissen charakterisierten Bedingungen
erwuchsen in den letzten Jahren der Weimarer Republik, in denen
die Sicherung von dringenden Aufgaben der medizinischen
Betreuung und der sozialen Fürsorge ohnehin durch die
Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zunehmend erschwert worden
ist, verstärkt sowohl sozialkritische als auch
konservativ-antihumane programmatische Vorstellungen zur Lösung
der unbewältigten Probleme. Die sozialkritische Haltung wurde
dabei durch jene von Ärzten initiierten und getragenen
Organisationen verkörpert, die im Zusammenwirken mit der
revolutionären Arbeiterbewegung eine grundlegende Reform der
Gesundheitsversorgung über die Vergesellschaftung der
medizinischen und sozialen Dienste anstrebten, wie etwa der
>Verein sozialistischer Ärzte< oder die >Ärztesektion der
Internationalen Arbeiterhilfe<.
Im Zentrum
der konservativ-antihumanen Bestrebungen stand dagegen die (...)
sozialdarwinistische Doktrin, der zufolge ein Ausbau von
Betreuungs- und Fürsorgeleistungen für große Gruppen chronisch
Kranker eine >kontraselektorische< Wirkung auf die biologischen
Prozesse der Reproduktion der Bevölkerung haben sollte.
Verknüpft mit antikommunistischen und rassistischen Ideen,
gewannen diese Vorstellungen zunehmend Einfluss. Die überaus
leichtfertige Etikettierung vieler erblich bedingter oder als
erblich bedingt angesehener Erkrankungen als Formen
>minderwertigen< menschlichen Daseins trug dazu bei, sowohl
diskriminierende Vorurteile aufzubauen. Betroffen waren davon in
erster Linie die körperlich und geistig Behinderten sowie die
psychisch Kranken. Jedoch wurden ähnliche Einstellungen auch
gegenüber infektiösen Krankheiten mit chronischen Verläufen,
insbesondere auch gegenüber den Geschlechtskrankheiten und der
Tuberkulose nach und nach wirksam. An diesen Trend knüpfte die
faschistische Wendung in der Gesundheitspolitik an, innerhalb
derer die Absicherung der Betreuungs- und Fürsorgeleistungen der
Medizin in erster Linie jenen zugute kommen sollte, die noch als
heilbar oder wenigstens zu partiellen Arbeitsleistungen fähig
angesehen worden sind.
Als überaus
schwierig erweist sich die Bewertung der unter den Bedingungen
der faschistischen Diktatur verfolgten Strategien der Behandlung
der genannten Erkrankungen der dabei erreichten Ergebnisse.
Hierbei ist zu bedenken, dass dieses Herrschaftssystem nur in
dem relativ kurzen Zeitraum von 1933 bis 1939 neue und für seine
Intentionen charakteristische Formen der Medizinischen
Betreuungspraxis schaffen konnte und in den folgenden Jahren bis
1945 bereits unter den Bedingungen des von ihm selbst
ausgelösten Krieges medizinische Betreuungsaufgaben sichern
mußte.
Erhebliche
Schwierigkeiten für die historische Urteilsbildung ergeben sich
weiterhin aus dem Umstand, dass die bereits in den Jahren der
Weimarer Republik wegen diagnostischer Unschärfen nur bedingt
aussagefähigen medizinstatistischen Daten für die faschistische
Herrschaftsperiode vollends unzuverlässig wurden oder für die
letzten Kriegsjahre gar nicht mehr zusammengetragen worden sind.
Diese Grenzzuverlässigkeit ergibt sich dabei vor allem daraus,
dass die bereits seit 1933 einsetzenden Formen der repressiven
Ausgrenzung politisch und rassisch verfolgter Gruppen, verbunden
mit deren sich rapid verschlechternden Lebensbedingungen und
mangelnder medizinischer Betreuung, zu hohen
Sterblichkeitsziffern durch Unterernährung, Pneumonie und
Tuberkulose geführt haben muss, die in den offiziellen
medizinstatistischen Daten überhaupt nicht eingegangen sind -
oder wenn doch, dann mit verfälschten Primärangaben. Die
gesundheitlichen Verhältnisse der seit 1939 in wachsender zahl
zu Erhaltung der deutschen Wirtschaft in Deutschland lebenden
>Fremdarbeiter< und Kriegsgefangenen, deren Lebensbedingungen
und medizinische Betreuung besonders schlecht waren, wurden
ebenfalls in den statistischen Angaben zum Gesundheitszustand
der deutschen Bevölkerung nicht berücksichtigt....
Editorische
Anmerkungen
Quelle:
Medizin unterm Hakenkreuz. VEB Verlag Volk und Gesundheit
1989.
Quellenauszug aus: 5. Entwicklungstrends der Betreuung
chronisch Kranker im Rahmen der faschistischen
Gesundheitspolitik. Hier: Ein unvollständiger Auszug: 5.1. Die
Ausgangsbedingungen und methodologischen Probleme der
Urteilsbildung, S. 111-113.
Vgl.: Quellenbezug und -angaben befinden sich in der
Buchausgabe: Medizin unterm Hakenkreuz*
Der vollständige Text zum Quellenauszug in der Buchausgabe ist
von: Dr. sc. med. Dr. phil. Susanne Hahn, Staatliche
Arztpraxis Wintersdorf (1989). (*) Herausgegeben von Achim
Thom und Genadij Ivanovič
Caregorodcev.
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