Ein Quellenauszug aus
M
edizin unterm Hakenkreuz

erstellt von Reinhold Schramm     

05/09

trend
onlinezeitung

R.S. schreibt in seiner Vorbemerkung seiner Textauswahl, dass der Text von hoher Brisanz sei, da hier aktuelle Entwicklungstrends der Betreuung chronisch Kranker "im Rahmen der realen kapital- und sozialfaschistischen Gesundheitspolitik" sichtbar werden. (red. trend)

...Die Intensität der medizinischen und sozialen Betreuung chronisch Kranker, insbesondere solcher, die für lange Zeit oder auf Dauer nicht mehr arbeitsfähig sind und ständiger Behandlung und Fürsorge bedürfen, ist ein besonders bedeutsames Bewährungsfeld der in einer bestimmten Gesellschaft praktizierten Humanität. Die Art und Weise der Behandlung ist dabei von dem sich wandelnden medizinischen Erkenntnisstand abhängig; dessen praktische Nutzung wird jedoch weitgehend von den Haltungen der jeweils gesellschaftlich herrschenden Kräfte geprägt.  

 In der Weimarer Republik waren die sozialökonomischen und organisatorischen Bedingungen für die Sicherung der Betreuung chronisch Kranker widersprüchlich und derart beschaffen, dass die durch den medizinischen Erkenntnisfortschritt möglich gewordenen Verbesserungen nur zögernd und ansatzweise Wirksamkeit erlangen konnten. Während dabei auf der einen Seite die demokratische Staatsform und die partielle Mitwirkung auch von Interessenvertretungen der Werktätigen an der Gesetzgebung und praktischen Gestaltung der Sozialpolitik einige Voraussetzungen bot, Verbesserungen zu erreichen, bewirkten auf der anderen Seite die ökonomischen Machtpositionen der imperialistischen Kräfte und deren maßgeblicher Einfluss auf die Politik eine stete Begrenzung der für soziale und medizinische Zwecke einsetzbaren Ressourcen wie auch eine Orientierung auf solche Maßnahmen, die die Verbreitung der vor allem als bevölkerungspolitisch bedrohlich beurteilten Entwicklungen eindämmen oder verhindern sollten. Viele bedeutsame Initiativen der an progressiven sozialpolitischen Regelungen interessierten Kräfte, insbesondere der Parteien der Arbeiterbewegung, reichsgesetzliche Regelungen für dringend notwendige Verbesserungen der Behandlung und Betreuung, zum Beispiel für die große Zahl der an Tuberkulose Erkrankungen, zu erreichen, scheiterten am Widerstand der konservativen Parteien im Reichstag, deren ständig vorgebrachtes Argument lautete, dass die Mittel für umfangreiche Hilfsmaßnahmen nicht aufgebracht werden könnten. Soweit dennoch unter diesen Bedingungen vereinzelt Fortschritte beim Ausbau der Versorgungsleistungen durch den Staat oder die Krankenversicherung erreicht werden konnten - etwa durch die im Mai 1925 im Reichstag beschlossene >Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf gewerbliche Berufskrankheiten<, blieben derartige Regelungen auf relativ kleine Gruppen begrenzt und hinsichtlich der praktischen Umsetzung von den sich krisenhaft gestaltenden ökonomischen Bedingungen abhängig. 

 Für die große Gruppen der Bevölkerung hart belastenden chronischen Erkrankungen mit langer oder dauernder Arbeitsunfähigkeit, insbesondere für die Tuberkulosekranken, blieb die medizinische Betreuung den Leistungsmöglichkeiten und -bereitschaften der Krankenkassen überlassen. Diese übernahmen die finanziellen Absicherungen in der Regel nur für die ersten sechs Monate einer akuten Erkrankung und bewilligten Heilstättenbehandlungen nur dann, wenn noch günstige Aussichten auf Ausheilung bestanden. Die Fürsorge für jene Kranken, die keinen Versicherungsschutz mehr besaßen und bereits als unheilbar angesehen wurden, oblag den von den Kommunen finanzierten Wohlfahrtspflegediensten oder karitativen Hilfsorganisationen. 

 Den gleichen Bedingungen ungesicherter Rechtsansprüche und unzureichender staatlicher Unterstützung war auch die große Zahl der schwer Körperbehinderten unterworfen. Vorwiegend für Kranke mit erheblichen Bewegungseinschränkungen im Gefolge von Poliomyelitis, Knochentuberkulose oder traumatischen Schädigungen war ein besonderes System der >Krüppelfürsorge< ebenfalls bereits zu Beginn unseres Jahrhunderts [20.] entstanden und während der Weimarer Republik hauptsächlich über karitative Institutionen ausgebaut worden.  

 Widerspruchsvoll und im ganzen unzureichend blieben in dieser Zeit auch die Fürsorgebedingungen für geistig Behinderte, deren Betreuung fast ausschließlich karitativen Diensten der beiden großen christlichen Kirchen überlassen blieb, sowie für Patienten mit langdauernden und zu Chronifizierungen führenden psychischen Erkrankungen. Für die letzteren bestand zwar ein staatliches System der Versorgung in Gestalt der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten seit langem, das jedoch ebenfalls mit bescheidenen Mitteln unterhalten werden mußte und wenig Möglichkeiten bot, moderne Vorstellungen von einer offenen Fürsorge zu verwirklichen oder neue Verfahren einer aktiven Therapie wirksam zur Geltung zu bringen. (...)  

 Auf den wichtigen Gebieten der Früherkennung, Behandlung und Betreuung von Krebskranken oder Diabetikern, die zahlenmäßig einen erheblichen Anteil der auf soziale Unterstützung angewiesenen chronisch Kranken ausmachten und deren Versorgung auch nach 1933 zunehmend als Problem gesehen worden ist, lagen in den Jahren der Weimarer Republik noch keine nennenswerten eigenständigen Betreuungssysteme vor. Dies lag zum Teil an den damals noch bescheidenen Möglichkeiten des Einsatzes wirksamer therapeutischer Verfahren sowie gleichfalls daran, dass auch für diese Patientengruppen die auf kommunaler Ebene entstandenen Wohlfahrtspflegeinstitutionen verantwortlich blieben.  

 Unter diesen hier nur in groben Umrissen charakterisierten Bedingungen erwuchsen in den letzten Jahren der Weimarer Republik, in denen die Sicherung von dringenden Aufgaben der medizinischen Betreuung und der sozialen Fürsorge ohnehin durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zunehmend erschwert worden ist, verstärkt sowohl sozialkritische als auch konservativ-antihumane programmatische Vorstellungen zur Lösung der unbewältigten Probleme. Die sozialkritische Haltung wurde dabei durch jene von Ärzten initiierten und getragenen Organisationen verkörpert, die im Zusammenwirken mit der revolutionären Arbeiterbewegung eine grundlegende Reform der Gesundheitsversorgung über die Vergesellschaftung der medizinischen und sozialen Dienste anstrebten, wie etwa der >Verein sozialistischer Ärzte< oder die >Ärztesektion der Internationalen Arbeiterhilfe<.  

 Im Zentrum der konservativ-antihumanen Bestrebungen stand dagegen die (...) sozialdarwinistische Doktrin, der zufolge ein Ausbau von Betreuungs- und Fürsorgeleistungen für große Gruppen chronisch Kranker eine >kontraselektorische< Wirkung auf die biologischen Prozesse der Reproduktion der Bevölkerung haben sollte. Verknüpft mit antikommunistischen und rassistischen Ideen, gewannen diese Vorstellungen zunehmend Einfluss. Die überaus leichtfertige Etikettierung vieler erblich bedingter oder als erblich bedingt angesehener Erkrankungen als Formen >minderwertigen< menschlichen Daseins trug dazu bei, sowohl diskriminierende Vorurteile aufzubauen. Betroffen waren davon in erster Linie die körperlich und geistig Behinderten sowie die psychisch Kranken. Jedoch wurden ähnliche Einstellungen auch gegenüber infektiösen Krankheiten mit chronischen Verläufen, insbesondere auch gegenüber den Geschlechtskrankheiten und der Tuberkulose nach und nach wirksam. An diesen Trend knüpfte die faschistische Wendung in der Gesundheitspolitik an, innerhalb derer die Absicherung der Betreuungs- und Fürsorgeleistungen der Medizin in erster Linie jenen zugute kommen sollte, die noch als heilbar oder wenigstens zu partiellen Arbeitsleistungen fähig angesehen worden sind.  

 Als überaus schwierig erweist sich die Bewertung der unter den Bedingungen der faschistischen Diktatur verfolgten Strategien der Behandlung der genannten Erkrankungen der dabei erreichten Ergebnisse. Hierbei ist zu bedenken, dass dieses Herrschaftssystem nur in dem relativ kurzen Zeitraum von 1933 bis 1939 neue und für seine Intentionen charakteristische Formen der Medizinischen Betreuungspraxis schaffen konnte und in den folgenden Jahren bis 1945 bereits unter den Bedingungen des von ihm selbst ausgelösten Krieges medizinische Betreuungsaufgaben sichern mußte.  

 Erhebliche Schwierigkeiten für die historische Urteilsbildung ergeben sich weiterhin aus dem Umstand, dass die bereits in den Jahren der Weimarer Republik wegen diagnostischer Unschärfen nur bedingt aussagefähigen medizinstatistischen Daten für die faschistische Herrschaftsperiode vollends unzuverlässig wurden oder für die letzten Kriegsjahre gar nicht mehr zusammengetragen worden sind. Diese Grenzzuverlässigkeit ergibt sich dabei vor allem daraus, dass die bereits seit 1933 einsetzenden Formen der repressiven Ausgrenzung politisch und rassisch verfolgter Gruppen, verbunden mit deren sich rapid verschlechternden Lebensbedingungen und mangelnder medizinischer Betreuung, zu hohen Sterblichkeitsziffern durch Unterernährung, Pneumonie und Tuberkulose geführt haben muss, die in den offiziellen medizinstatistischen Daten überhaupt nicht eingegangen sind - oder wenn doch, dann mit verfälschten Primärangaben. Die gesundheitlichen Verhältnisse der seit 1939 in wachsender zahl zu Erhaltung der deutschen Wirtschaft in Deutschland lebenden >Fremdarbeiter< und Kriegsgefangenen, deren Lebensbedingungen und medizinische Betreuung besonders schlecht waren, wurden ebenfalls in den statistischen Angaben zum Gesundheitszustand der deutschen Bevölkerung nicht berücksichtigt....

Editorische Anmerkungen

Quelle: Medizin unterm Hakenkreuz. VEB Verlag Volk und Gesundheit 1989.

Quellenauszug aus: 5. Entwicklungstrends der Betreuung chronisch Kranker im Rahmen der faschistischen Gesundheitspolitik. Hier: Ein unvollständiger Auszug: 5.1. Die Ausgangsbedingungen und methodologischen Probleme der Urteilsbildung, S. 111-113.

Vgl.: Quellenbezug und -angaben befinden sich in der Buchausgabe: Medizin unterm Hakenkreuz*

Der vollständige Text zum Quellenauszug in der Buchausgabe ist von: Dr. sc. med. Dr. phil. Susanne Hahn, Staatliche Arztpraxis Wintersdorf (1989). (*) Herausgegeben von  Achim Thom und Genadij Ivanovič Caregorodcev.