Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Antillen/Überseegebiete
Generalstände ohne „General“beteiligung. Das Positivste bleibt der Streik

05/09

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Regierung eröffnet die „Generalstände Überseefrankreichs“ ohne Beteiligung der Streikbewegungen. Geringe Legitimität garantiert. Unterdessen zeichnen Umfragen auf der französischen Antilleninsel Guadeloupe ein positives Bild vom kollektiven Meinungsklima, was die Ergebnisse des Streiks vom Januar/Februar/März 2009 betrifft: 78 % billigen ihm positive Resultate zu. Die Regierung versucht unterdessen, das erneute Aufflammen sozialer Konflikte zu verhindern – und ist notfalls bereit, die Lohnerhöhungen (statt der Arbeitgeber) dauerhaft selbst zu finanzieren.

Was tun, wenn man mit ernsthaften Problemen konfrontiert ist? Man beruft eine Kommission ein, um einmal ernsthaft darüber zu reden. Und zu reden und zu reden... Diese hohe Kunst beherrschen nicht nur deutsche „Sozialpartner“, sondern auch die französische Regierung. Deshalb berief sie, mit einigem Getöse und Posaunenklängen, ab dem 15. April dieses Jahres so genannte „Generalstände für Überseefrankreich“ (Etats-généraux de l’outre-mer) ein, die in der Hauptstadt Paris eröffnet werden und sich mit Beratungen in den einzelnen „Überseebezirken“ fortgesetzt werden sollten. Aufgrund von Verzögerungen und Verspätungen, die auf Regierungsseite lagen, gab das Pariser Kabinett nun an diesem Mittwoch (22. April) den Startschuss für die „Generalstände“, die ihren Namen unter Anlehnung an das Quasi-Parlament im französischen Feudalstaat - die zuletzt 1789 zusammentraten und in die Rebellion gegen die Monarchie mündeten – erhielten. Am Mittwoch dieser Woche präsentierten also die französische Innenministerin Michèle Alliot-Marie und ihr „Staatssekretär für Überseefrankreich“, Yves Jégo, in Paris offiziell die „Generalstände“ und ihre „historische Dimension“. Statt, wie ursprünglich geplant, bis im Mai/Juni sollen die Arbeitsgruppen und Beratungen in den Kommissionen der „Generalstände“ nun noch bis Ende Juli 2009 dauern.

Aber ach!, von wegen „historische Dimension“: Die Legitimität des ganzen Prozedere ist von Anfang an arg angeknabbert und angekratzt. Denn einige der wichtigsten Akteure, die sich in den letzten Wochen und Monaten in den französischen „Überseegebieten“ – insbesondere auf den Antillen oder zu Frankreich gehörenden Karibikinseln – lautstark zu Wort melden, sind gar nicht dabei. Die aus Gewerkschaften, sozialen Initiativen und „zivilgesellschaftlichen“ Vereinigungen bestehenden Kollektiven, die den Generalstreik auf Guadeloupe (ab dem 20. Januar und bis o5. März dieses Jahres) und La Martinique (ab dem o5. Februar und bis Anfang März) anführten, hatten ihre Teilnahme von vornherein abgesagt. So versprachen sich das Kollektiv LKP – kreolisch für  „Zusammen gegen Ausbeutung“ – auf Guadeloupe und das „Kollektiv vom o5. Febuar“ auf La Martinique nichts von einer Beteiligung an dem Kongress, den die Regierung anleierte und den sie als pure Showveranstaltung betrachten. Das LKP tritt unterdessen für die Schaffung einer „Verfassunggebenden Versammlung“ der Bevölkerung von Guadeloupe, als eine ihrer wesentlichen Forderungen, ein.

Guadeloupe (und La Martinique)

In einem Interview mit der linken französischen Wochenzeitung ‚Siné Hebdo’, das dort am 15. April 2009 erschien, kündigte eines der führenden Mitglieder des LKP – Alex Lollia, dessen brutale Verhaftung und rassistische Beschimpfung durch Polizisten Anfang Februar für erheblichen Aufruhr sorgte – an: „Wenn jemand über die Abhaltung von Generalständen auf Guadeloupe zu entscheiden hat, dann sind es ihre Einwohner. Diese hier gehören offenkundig zu einem Versuch von Monsieur Sarkozy, die Revolte auf den Antillen einzudämmen und schlussendlich zum Schweigen zu bringen. Er wird also gegenüber von sich – ich drücke das mal so aus, denn ich wette, dass er selbst auch nicht hingehen wird – nur unsere Abgeordneten, die uns (= den Generalstreik) mit Ausnahme eines einzigen nicht unterstützt haben, die Institutionen und die Bosse/Arbeitgeber, welch letztere eine Steuerbefreiung und eine Freihandelszone für sich fordern, und einige viel Lärm veranstaltende Intellektuelle sitzen haben. Kurz, nur Leute, die durch die Bevölkerung als suspekt betrachtet werden.“

Alex Lollia scheint soweit recht zu behalten:  Die Legitimität der vorgestern eröffneten „Generalstände“ lâsst doch erheblich zu wünschen übrig. So titelt die liberale Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ in ihrer Freitags-Ausgabe: „Überseefrankreich: Die Glaubwürdigkeit der Generalstände wird durch den Boykott beeinträchtigt.“ Auch die andere Hälfte der Doppelwette, der er in dem Interview lanciert hatte, dürfte Alex Lollia gewinnen. Denn Präsident Nicolas Sarkozy lieb sich bei der Eröffnungsveranstaltung nicht blicken. Auch seine angekündigte Reise auf die Antillen (die laut Ankündigung im Februar, während des Streiks, stattfinden sollte „sobald wieder Ruhe eingekehrt ist“) ist vorläufig „auf ein unbekanntes Datum verschoben“, wie ‚Le Monde’ ebenfalls vermeldet.

Unterdessen ergibt eine Meinungsumfrage auf Guadeloupe, dass 78 Prozent der Befragten „eine positive Bilanz aus dem Generalstreik“ in den ersten Jahresmonaten ziehen. So hoch ist jedenfalls der Prozentsatz jener, die die Auffassung vertreten, dass die 45 Tage Generalstreik und soziale Mobilisierung „sich lohnten“. Knapp 80 Prozent denken demnach, dass die Kaufkraft infolge des Streiks und der Vereinbarungen bei seinem Abschluss zugenommen habe. Und zwei Drittel sind der Auffassung, dass der Ausstand „die unterschiedlichen Bestandteile“ der Inselgesellschaft, die bislang von postkolonialen und rassistischen Strukturen geprägt ist, einander „angenähert“ habe. (Vgl. http://www.clicanoo.com/

Noch ist insgesamt unklar, was auf Dauer aus den Errungenschaft des Generalstreiks vom Januar/Februar/März 2009 wird. Denn die Erhöhung aller niedrigen Löhne (bis zu 140 Prozent des gesetzlichen Mindestlohns SMIC) um 200 Euro, die durch das Abkommen namens ‚Accord Jacques Bino’ – benannt nach einem Gewerkschafter, der am 16. Februar dieses Jahres getötet wurde – festgeschrieben wird, sind nur auf die Dauer von drei Jahren hinaus gewährt. Während dieser drei Jahre müssen die Arbeitgeber 50 Euro zusätzlich bezahlen, die Inselregierung übernimmt ihrerseits 50 Euro, und der französische Zentralstaat bezahlt seinerseits 100 Euro hinzu. Nach Ablauf der drei Jahre jedoch sollen die Arbeitgeber die bisherigen Anteile der öffentlichen Hand übernehmen und selbst hinzuzahlen. Dies verweigern jedoch Viele von ihnen bisher, und die Anfang April erfolgte Allgemeinverbindlich-Erklärung des Abkommens (das dadurch auf alle Arbeitgeber Anwendung findet) spart diese Garantie über drei Jahre hinaus ausdrücklich aus. Nach drei Jahren entfällt also die Lohngarantie. Doch der französische „Übersee-Staatssekretär“ der Regierung von François Fillon, Yves Légo, lieb inzwischen durchblicken, dass der französische Zentralstaat „seine“ einhundert Euro auch über den Ablauf der drei Jahre hinaus bezahlen könnte. (Vgl. http://www.google.com/) Dies ist einerseits offenkundig ein Ausdruck des erheblichen sozialen Drucks, der besonders auf Guadeloupe immer noch herrscht. Andererseits zeichnet es die Konturen eines ebenso interessanten und bemerkenswerten wie bedenklichen „Modells“, in dem der Staat auf die Dauer den (privaten) Arbeitgebern Lohngarantien abnähme und durch Lohnsubventionen ersetzte.

La Réunion

Unterdessen wurde bekannt, dass die Verhandlungen um eine Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung auf La Réunion (im Indischen Ozean, rund 800.000 Einwohner/innen) Fortschritte verzeichneten. Dort führt das, mit dem LKP vergleichbare, „zivilgesellschaftliche“ Kollektiv COSPAR („Kollektiv der sozialen, politischen und bürgerinitiativförmigen Organisationen von La Réunion“) den Sozialprotest an. Auch das COSPAR boykottiert die „Generalstände“, wie alle anderen vergleichbaren Kollektive aus Gewerkschaften, Sozialinitiativen und „Zivilgesellschaften“ in den französischen „Überseebezirken“.

Auf La Réunion wurden am 31. März und 1. April zwei Abkommen zur Senkung der Preise von Grundversorgungsgütern unterzeichnet, die dort ähnlich wie in anderen „Überseebezirken“ und „-gebieten“ unverschämt überhöht ausfallen – da die Insel durch einen „Konsumkorridor“ (so die kritische Analyse der französischen KP) von der Metropole aus versorgt wird, statt bevorzugt Beziehungen zu ihrem geographischen Umfeld zu unterhalten.

Hingegen steht ein Abkommen zur Anhebung der (unteren) Löhne, ähnlich dem auf den Antilleninseln Guadeloupe und La Martinique – wo jeweils 200 Euro Erhöhung für die Niedriglöhne herausgeholt werden konnten – bislang noch aus.Allerdings scheint das soziale Kräfteverhältnisse, das es erlauben könnte, solcherlei Zugeständnisse zugunsten der örtlichen Bevölkerung und ihrer Lohnabhängigen herauszuholen, nun nachzulassen: Der Druck ist inzwischen mehr oder minder abgeflaut. Vorläufig? Beobachter/innen sprechen von einem „halben Erfolg und halben Scheitern“ der bisherigen Bemühungen des COSPAR. (Vgl. http://www.clicanoo.com/

Französisch-Guyana

Auch in Französisch-Guyana finden in den letzten Wochen vergleichbare Verhandlungen statt. Letzteres „Überseegebiet“ wird jedoch durch die französische Staatsmacht, gemessen am Umgang mit den anderen dreien, vergleichsweise mit Samthandschuhen angefasst: Französisch-Guyana ist der Standort der strategisch wichtigen Abschussbasis für die ‚Ariana’ und andere weitreichende Raketen, die in Kourou (bei Cayenne) stationiert ist. Auch dort müssen die Probleme des Lebensniveaus angepackt werden, doch finden sie eine vergleichsweise einvernehmliche Lösung. Schon im Herbst 2008 wurden dort nach ersten Protesten schnell die Treibstoffpreise gesenkt, und der örtliche Arbeitgeberverband MEDEF beeilte sich, entsprechende Forderungen von Gewerkschaften und Sozialinitiativen zu unterstützen. Auf anderen Gebieten haben Verhandlungen über die Frage der Lebenshaltungskosten begonnen. Zum Thema „Kaufkraft“ wurden die Verhandlungen Ende März eröffnet. (Vgl. http://www.lexpress.fr )

Auch hier vertritt ein Kollektiv namens ‚Mayouri Kont Leksplwatasyon’ (Kollektiv gegen Ausbeutung) die Teilnehmer/innen am Sozialprotest. Es hat ebenfalls beschlossen, die „Generalstände“ zu boykottieren. Hingegen nehmen örtliche Oppositionsparteien an ihnen teil, da sie sich eine eventuelle Abänderung des rechtlichen Status des „Überseebezirks“ im französischen Staatsverband erhoffen. In Französisch-Guyana hatten bereits 1997 ähnliche „Generalstände“ stattgefunden, im Anschluss an die heftigen Unruhen, die den Bezirk im Jahr 1996 erschütterten.

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor..