Ein Brief an Dr. Max Stadler zuständig im Deutschen Bundestag für Fragen der Entschädigung von NS-Verfolgten 

von Dora Dick und Dr. Antonín Dick    

05/09

trend
onlinezeitung

Vorbemerkung

Zum augenblicklichen Stand der parlamentarischen Debatte über die Gesetzesinitiative zu Schutz und Förderung von Verfolgten des Naziregimes: Aus Anlass des vierundsechzigsten Jahrestages der Befreiung vom Faschismus haben die beiden Initiatoren dieser Gesetzesvorlage Dora Dick, verfolgte Jüdin und aktive Widerstandskämpferin, und Antonín Dick, Angehöriger der Zweiten Generation, an den Stellvertretenden Vorsitzenden des Innenausschusses des Bundestages und parlamentarischen Beauftragten für Fragen der Entschädigung von NS-Verfolgten Max Stadler (MdB) ein umfangreiches Schreiben gerichtet. Ziel dieses Schreibens ist die Verteidigung ihrer sozialen Rolle als Akteure eines regulären Gesetzgebungsprozesses entsprechend Artikel 21 Absatz 1 Satz 1 Grundgesetz sowie die Darstellung der gestiegenen Chancen dieser Gesetzesinitiative vor dem Hintergrund der aktuellen Verfassungsinitiative der SPD, die beide Verfassungswirklichkeiten, die der BRD und die der DDR, zu synthetisieren trachtet. Kopien dieses Schreibens wurden allen Adressaten der Gesetzesinitiative, also allen Fraktionen des Bundestages, aus Gründen der Transparenz  zugeleitet. / A. Dick

++++

Dora Dick 
Dr. Antonín Dick    

Herrn
Dr. Max Stadler (MdB)
Stellvertretender Vorsitzender
des Innenausschusses des Deutschen Bundestages
und zuständig für Fragen der Entschädigung von NS-Verfolgten  

DEUTSCHER BUNDESTAG
Platz der Republik 1
11011 Berlin                                                                                                             

8. Mai 2009

Parlamentsvorlage „Gesetz zur Rechtsstellung von anerkannten politisch,  rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus und ihren Angehörigen” 

Sehr geehrter Herr Dr. Stadler, 

Ihre Antwort vom 19. 03. 2009 auf unsere dreißig Seiten umfassende Initiative zu einem noch zu erarbeitenden Gesetz zur Rechtsstellung von anerkannten politisch,  rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus und ihren Angehörigen, dem Deutschen Bundestag aus Anlass des 70. Jahrestages der Reichspogromnacht am 9. November 1938 vorgelegt, haben wir dankend erhalten. Uns freut es sehr, dass Sie unserem Anliegen dezidiert positiv gegenüberstehen und insgesamt einschätzen, dass unsere “Initiative eine Reihe von zum Teil sehr konkreten Anregungen an den Gesetzgeber” beinhaltet. 

Gleichwohl ist unsererseits nach nochmaliger Erörterung der bisherigen Reaktionen festzuhalten, dass wir uns Ihrem Vorschlag, dieses gesellschaftlich relevante Gesetzesvorhaben nach bereits eröffneter Parlamentarierdebatte kurzerhand dem Petitionsausschuss zuzuleiten, um es dann im Rahmen eines Petititionsverfahrens einer abschließenden Bearbeitung zu unterziehen, nicht anschließen können und nicht anschließen werden.  

Warum nicht?  

Unsere Gesetzesinitiative zu Schutz und Förderung von Naziverfolgten und ihren Nachkommen ist zu essentiell, um sie aus der politischen Debatte der Parlamentarier des Deutschen Bundestages und der einzelnen Fraktionen der gewählten Parteien der höchsten Volksvertretung plötzlich herauszunehmen. Sie widersprechen mit Ihrem Vorschlag auch direkt dem Kollegen Ihrer Fraktion Herrn Markus Löning, der ja aus demselben Grund und mit unserer ausdrücklichen Zustimmung im Herbst 2008 unsere Initiative an Sie, der Sie im Auftrag aller Parlamentarier unserer obersten Volksvertretung für Fragen der Rechte der NS-Verfolgten zuständig sind, weitergeleitet hat und eben nicht an den Petitionsausschuss oder einen anderen Parlamentsausschuss. Sie sind zuständig und kompetent, und Sie haben den  Gesamtüberblick über den augenblicklichen politischen Diskussionsstand in den einzelnen Fraktionen des Deutschen Bundestages.  

Außerdem kommt noch hinzu, dass Ihr Vorschlag aus verfassungsrechtlichen Erwägungen heraus alles andere als belastbar ist, wie eine gründliche Prüfung inzwischen ergeben hat. Die Einreichung unserer Gesetzesinitiative basiert auf Artikel 21 Absatz 1 Satz 1 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Hier heißt es unmißverständlich: “Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.” Die Einreichung unserer Gesetzesinitiative zur Sicherstellung der Rechte von Naziverfolgten, geschehen  im Geist des Artikels 139 Grundgesetz sowie des Zwei-plus-Vier-Vertrages, ist ein Akt der politischen Willensbildung des Volkes, der der Mitwirkung der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien qua Grundgesetz sicher ist, wie bereits die bisherigen parlamentarischen und außerparlamentarischen Reaktionen zu unserer Vorlage eindrucksvoll bestätigen. Aus diesem Einreichungszusammenhang, der immerhin zuverlässigen  Verfassungsschutz besitzt, folgt zwangsläufig, daß wir eben nicht als Petenten im Sinne von Artikel 17 Grundgesetz, wie Sie dies irrtümlicherweise unterstellen, einzustufen sind, sondern, wie bereits mehrfach dargelegt, als souveräne Akteure eines Gesetzgebungsprozesses im Sinne von Artikel 21 Absatz 1 Satz 1 Grundgesetz.  Als Akteure eines konkreten politischen Willensbildungsprozesses unterliegen wir, eine anerkannte Verfolgte des verbrecherischen Staats- und Gesellschaftssystems des Nationalsozialismus und ein Angehöriger der “Zweiten Generation”, mithin den objektiven Gegebenheiten und Verfahrensregeln eines parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens der obersten Volksvertretung der Bundesrepublik Deutschland. 

Auf den ersten Blick hin mag es möglicherweise ungewöhnlich erscheinen, dass zwei Mitglieder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, zwei Bürger der Bundesrepublik Deutschland als Einreicher einer Gesetzesvorlage beim Deutschen Bundestag auf den Plan treten, also nicht, wie es in etlichen Fällen bisher üblich war, eine der im Bundestag vertretenen demokratischen Parteien oder Parlamentariergruppe. Aber nur auf den ersten Blick hin. Auf dem 6. Kongress der European Association of Legislation (EAL), der Europäischen Vereinigung für Gesetzgebung, zu deren Mitgliedern selbstverständlich auch Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland gehören, führte der Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Gesetzgebung Luzius Mader zu dieser grundlegenden Verfassungstatsache demokratischer Gesellschaften prinzipiell aus: “Gesetzesvorbereitung und Gesetzgebung gehören zu den zentralen Aufgaben der staatlichen Behörden. Die praktische Gesetzgebungsarbeit scheint vor allem die Verwaltung, die Regierung und das Parlament sowie allenfalls noch die politischen Parteien zu beschäftigen. Sie gilt als eine Tätigkeit, die sich im Wesentlichen im relativ engen Kreis des politisch-administrativen Komplexes abspielt. Diese Betrachtungsweise ist jedoch nur beschränkt zutreffend. Sie trägt sowohl den theoretischen Ansprüchen (Bedeutung der Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürgern in einer Demokratie) als auch den faktischen Gegebenheiten (breiter Einbezug der Zivilgesellschaft) nicht ausreichend Rechnung ... Die Gesetzgebungsarbeit ist keine exklusive Domäne und kein Privileg des formellen Gesetzgebers sowie der Legistinnen und Legisten in der Verwaltung. Nicht nur in der Schweiz, wo der Einbezug der Bevölkerung und der direkt betroffenen Kreise auf Grund der direkt-demokratischen Institutionen und gewisser korporatistischer Ansätze seit je praktiziert worden ist, sondern auch in andern Staaten wirkt die Zivilbevölkerung an der Gesetzgebung mit: Verwaltungsexterne Expertinnen und Experten, Vertreter und Vertreterinnen von Nichtregierungsorganisationen und Medien, spontane Gruppierungen und einzelne Bürgerinnen und Bürger beteiligen sich in unterschiedlichen Formen und mit unterschiedlicher Intensität in den verschiedenen Phasen des Gesetzgebungsprozesses ... Diese Beteiligung ist nicht als Resultat eines Versagens der politischen Parteien zu sehen. Den Parteien kommt zweifellos grosse Bedeutung in Bezug auf die politischen Meinungs- und Willensbildung und in Bezug auf das praktische Funktionieren der staatlichen Institutionen zu. Sie verfügen aber über kein Monopol in diesem Bereich, und es wäre verfehlt, die Mitwirkung der verschiedenen Kräfte oder Akteure der Zivilgesellschaft als Konkurrenzierung der politischen Parteien zu betrachten. Ein möglichst breiter Einbezug der Zivilgesellschaft in den Gesetzgebungsprozess entspricht der Vorstellung, dass das Recht in einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft grundsätzlich nicht von oben nach unten, sondern in koordinativen und diskursiven Prozessen festgelegt wird. Gesetze sollen in einem offenen, transparenten Verfahren geschaffen werden, das die adäquate Berücksichtigung  aller relevanten Informationen und Interessen gewährleistet. Ein solches Verfahren verlangt, dass die Zivilgesellschaft in den Gesetzgebungsprozess einbezogen wird.” 

Kommen wir nun zu den Essencials, zu den “relevanten Informationen und Interessen” hinsichtlich des augenblicklichen Standes der “koordinativen und diskursiven Prozesse” zu vorliegender Gesetzesinitiative zur Rechtsstellung von anerkannten politisch,  rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus und ihren Angehörigen.  

Erste Feststellung: 

Von fachlich ausschlaggebender Bedeutung bei der Bearbeitung dieser wichtigen Gesetzesinitiative sollte, wie wir dies auch schon  im Text der Gesetzesinitiative explizit dargelegt haben, zunächst und vor allem die Einbeziehung der Opferverbände wie die VVN-BdA, der wir beispielsweise angehören, sein. Die Naziverfolgten sind die unmittelbar Betroffenen und daher die eigentlichen rechtlichen Subjekte eines zukünftigen Gesetzes zur Rechtsstellung von Naziverfolgten, konkret, eines Gesetzes  zu Schutz und Förderung von Opfern des deutschen Faschismus. Es wird Sie daher als verantwortlicher Parlamentarier für Fragen der Entschädigung von Opfern des Faschismus sicherlich freuen, nunmehr zur Kenntnis nehmen zu können, dass ein solcher Prozess der aktiven Einbeziehung der Betroffenen bereits eingesetzt hat: Die Fraktion von Bündnis 90 / Die Grünen des Deutschen Bundestages hat den staatlich geförderten Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte inzwischen damit beauftragt, bezüglich der Bearbeitung vorliegender Gesetzesinitiative ein praktikables Thesenpapier zu den sozialen, ökonomischen, psychologischen und rechtlichen Aspekten der Lebenssituation der “Zweiten Generation” der Überlebenden der Verbrechen des nationalsozialistischen Herrschaftsregimes zu erarbeiten. Anfang Dezember des vorigen Jahres hat sich dazu bereits eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe des Bundesverbandes  Information & Beratung für NS-Verfolgte konstituiert, die inzwischen auch ihre ehrenvolle Arbeit aufgenommen hat. Diesem Gremium gehören auch Töchter und Söhne von Verfolgten des Naziregimes an.  

Zweite Feststellung:  

In Ihrer wichtigen Funktion als parlamentarischer Beauftragter für Fragen der Entschädigung für rassisch und politisch Verfolgte des Nationalsozialismus erteilen Sie uns mit Ihrem Schreiben vom 19. 03. 2009 die Auskunft, dass in vorliegender  “Sache ein einheitliches Vorgehen aller Fraktion im Deutschen Bundestag bislang nicht erreicht werden konnte und insbesondere die SPD-Bundestagsfraktion (unserem) Anliegen offensichtlich sehr zögerlich gegenübersteht ... ”  

Wir stimmen mit dieser Einschätzung ohne Einschränkung überein, sehr geehrter Herr Dr. Stadler. Doch die alles entscheidende Frage, die sich aus dieser ebenso wichtigen wie richtigen Einschätzung ergibt, ist die Frage nach der Erzielung eines einheitlichen Vorgehens, d. h. nach dem messbaren Progress der diskursiven Prozesse, dem wir vor dem Hintergrund des Auftrags der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland auf keinen Fall ausweichen dürfen. Und bezüglich dieser entscheidenden Frage hat es in den letzten Wochen seitens der politischen Führung der SPD erfreulicherweise einen Durchbruch gegeben, der für den Erfolg vorliegender Gesetzesinitiative von unschätzbarer Bedeutung ist. 

Worin besteht dieser Durchbruch? 

In der Forderung der SPD, ihres Vorstandes und ihrer Fraktion im Deutschen Bundestag,  nach einer gesamtdeutschen Verfassung. Die gleichlautende Pressemeldung dazu, die sich am 12. 04. 2009 bundesweit in Windeseile verbreitete: “Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer hat der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering eine gesamtdeutsche Verfassung angeregt und sich für eine differenzierte Beurteilung der DDR ausgesprochen. Es habe nie wirklich eine Wiedervereinigung gegeben, die DDR sei vielmehr der Bundesrepublik ‘zugeschlagen worden’, so Müntefering.” Franz Müntefering ist gewähltes Mitglied des Deutschen Bundestages und zudem ordentliches Mitglied des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.  

Unsere Gesetzesinitiative ist, nach genauem Studium betrachtet, im heuristischen Sinne des Wortes ein kleiner, aber nicht übersehbarer Vorgriff auf diese SPD-gestützte Verfassungsinitiative – auf jeden Fall ein gedanklicher Vorbote.  

Wie ist dieser Vorgriff zu definieren?  

Wie Sie nach dem Studium der umfangreichen Gesetzesinitiative vom 9. November 2008 sofort bemerkt haben werden, sehr geehrter Herr Dr. Stadler, rekurrieren wir, meine Mutter und ich, im Zuge der Argumentation für ein spezielles Gesetz zur Gewährleistung  der Rechte von NS-Verfolgten immer wieder auf die für die DDR geltende Anordnung zur Sicherung der rechtlichen Stellung der anerkannten Verfolgten des Naziregimes, eine Anordnung mit Gesetzescharakter, die übrigens auch im Einigungsvertrag, wenn auch mit fast durchgehender Annulierung,  zum Tragen kommt. Bezeichnenderweise wurde diese Anordnung noch vor Gründung der DDR erlassen, war also schon im Ansatz Ausdruck  eines gesamtgesellschaftlichen Interesses in Aufarbeitung der Folgen des NS-Regimes für Gesamtdeutschland. Wenn nun die politische Führung der SPD, wie kürzlich nachzulesen war, eine gesamtdeutsche Verfassung anstelle der jetzt gültigen BRD-Verfassung anstrebt, so heißt dies im Umkehrschluß auch, daß Aspekte der DDR-Verfassung unbedingt in der noch auszuarbeitenden gesamtdeutschen Verfassung berücksichtigt werden müssten.  Wendet man nun diese Erkenntnis konsequent auf vorliegende Rechtsproblematik an, so gelangt man unvermeidlicherweise zu dem Schluss, dass die neue Präambel  einer solchen gesamtdeutschen Verfassung vor allem den Bezug auf den Antifaschismus, den die  Präambel der DDR-Verfassung aufweist, zu enthalten hätte, eine Neuerung, die aus BRD-Perspektive  keinerlei Schwierigkeiten bereiten dürfte, denn die völkerrechtsrelevante Erklärung des Bundesaußenministers bei der Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages in Moskau weist ebenfalls unmißverständlich auf diesen politischen Gründungszusammenhang eines antifaschistischen und demokratischen Deutschland hin. Und eine zweite zwingende Schlussfolgerung wird gleichermaßen deutlich: Es entspräche uneingeschränkt dem Geist des Zwei-plus-Vier-Vertrages, den prononciert antifaschistischen Gehalt von Artikel 139 der Verfassung der BRD sowie den prononciert antifaschistischen Gehalt von Artikel 6 Satz 1 der Verfassung der DDR gleichberechtigt aufzunehmen und entsprechend den neuen politischen Rahmenbedingungen in einem neuen Artikel einer gesamtdeutschen Verfassung rechtlich und politisch zu synthetisieren.  

Für die vorliegende Gesetzesinitiative hätte dieser von der SPD initiierte Verfassungsprozess, der selbstverständlich noch von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland getragen werden müsste, enorme Konsequenzen. Die im Einigungsprozess  vorgenommene faktische Annulierung der Anordnung zur Sicherung der rechtlichen Stellung der anerkannten Verfolgten des Naziregimes müsste dann im Interesse von Zehntausenden von Verfolgten des Naziregimes, die in der jetzigen Bundesrepublik Deutschland leben,  revidiert werden.  Das gesamtgesellschaftliche Projekt einer gesamtdeutschen Verfassung impliziert eine Renaissance der Intentionen der in der Gesetzesinitiative herausgestellten Anordnung zur Sicherung der rechtlichen Stellung der anerkannten Verfolgten des Naziregimes der damaligen Zentralverwaltung in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands vom 05. 10. 1949 (ZVOBl. I. Nr. 89). Die vorliegende Parlamentsvorlage zu einem  Gesetz zur Rechtsstellung von anerkannten politisch,  rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus und ihren Angehörigen ist also Geist und politischer Willen vom Geist und politischen Willen des von der SPD angestoßenen und in diesen Tagen bereits angelaufenen  gesamtdeutschen Verfassungsprozesses.  

Dieser nicht hoch genug zu veranschlagende politische Durchbruch bei der SPD schafft, wie man sieht, die wesentliche Voraussetzung dafür, das anfängliche Zögern der SPD-Fraktion gegenüber unserer Parlamentsvorlage aufzugeben und, befreit von einseitiger BRD-zentrierter Sicht auf unseren Rechtsstaat, in die Zukunft zu blicken und offen zu sein für solche und andere zentrale antifaschistische Rechtsstaatsprojekte, wozu übrigens auch das Verbot der neonazistischen NPD gemäß Artikel 139 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gehört, das die SPD dieser Tage so vehement vorbereitet, nicht zuletzt aus Gründen des Schutzes der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Zehntausenden von Verfolgten des Naziregimes. Die Ausarbeitung eines Gesetzes zur Rechtsstellung von anerkannten politisch,  rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus und ihren Angehörigen  ist selbstverständlich als integraler Bestandteil dieses neuen Denkens gesamtdeutscher Verfassungswirklichkeit anzusehen, folglich ohne Verzug  anzugehen. Dazu ist noch einmal das hervorzuheben, was wir am Schluss unserer ausführlichen Gesetzesinitiative als Naziverfolgte unmißverständlich feststellen und ganz sicher auch den politischen und rechtlichen Intentionen dieses SPD-Vorstoßes voll und ganz entspricht:  “Eines muss aber auch klar und unmissverständlich hier gesagt sein: Unser Zeitfonds für diese Diskussionen und Fachgespräche in Vorbereitung dieses Gesetzes ist begrenzt. Seien wir der Tatsache eingedenk, dass es sich bei diesem Gesetz nur um schnellstmöglich herbeigeführte  rechtliche Regelungen handeln kann. Ein Großteil der Überlebenden des Holocaust und des antifaschistischen Widerstandes, aller Verfolgten des Naziregimes, weilt schon nicht mehr unter uns. Es muss gehandelt werden, und zwar jetzt. Die Bundesrepublik Deutschland steht unter dem Gebot der Verantwortung.” 

Sehr geehrter Herr Dr. Stadler, wir haben nicht ohne Bedacht diese  ausführliche Antwort heute, am Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus, erarbeitet und Ihnen per Einschreiben auf dem Postweg zugeleitet. Dieser 8. Mai 2009 sollte der zweite Auftakt sein zu einer politisch verantwortungsbewussten und vorwärtsweisenden Debatte aller Abgeordneten aller Fraktionen des Deutschen Bundestages über unser Anliegen. Der erste Auftakt dazu war der Gedenktag aus Anlass der antijüdischen Reichspogromnacht vom 9. November 1938 im Deutschen Reich. Beide Tage des Gedenkens bringen unübergehbare Botschaften zum Ausdruck, sprechen einen bestimmten Auftrag an uns alle aus, lassen uns innehalten in unserem alltäglichen Tun und Denken, erinnern uns gebieterisch daran, in welcher historischen Verantwortung wir alle stehen. Es ist unser sehnlichster Wunsch – der von meiner Mutter, einer verfolgten Jüdin und aktiven Widerstandskämpferin, und der meinige, eines Angehörigen der Zweiten Generation – , dass spätestens bis zum 8. Mai 2010, d. h. bis zum fünfundsechzigsten Jahrestag der militärischen Niederringung des verbrecherischen Hitlerstaates, ein neues Gesetz zur Rechtsstellung von anerkannten politisch,  rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus und ihren Angehörigen auf den Weg gebracht sein wird – zum Wohle aller unter uns lebenden Überlebenden des Naziterrors und ihrer Nachkommen, zur Ermutigung aller um Demokratie, Toleranz und inneren und äußeren Frieden tagtäglich ringenden Bürger unseres demokratischen Gemeinwesens.  

Erlauben Sie uns bitte, die an diesem denkwürdigen Tag erarbeitete Antwort auf Ihr Schreiben vom 19. 03. 2009 allen im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien zur weiteren Anregung der bereits aufgenommenen Diskussion über die vorliegende umfangreiche Gesetzesinitiative für die Sicherstellung der Rechte der Verfolgten des Naziregimes zuzuleiten. Wir denken, dies ist auch in Ihrem Interesse als Beauftragter der Parlamentarier des Deutschen Bundestages für Fragen der Entschädigung und rechtlichen Stellung der Verfolgten des Naziregimes. 

Wir, meine Mutter Frau Dora Dick und ich, danken Ihnen sehr herzlich für Ihre bisherige tatkräftige Unterstützung dieses wichtigen politischen Vorhabens und verbleiben in Erwartung Ihrer baldigen Nachricht. 

Mit vorzüglicher Hochachtung

Dora Dick
Dr. Antonín Dick

 

Editorische Anmerkungen

Den Text und die Vorbemerkung  erhielten wir von den AutorInnen zur Veröffentlichung.