Mindestlohn und Armutsgrenze - Eine Argumentationshilfe

von Dieter Carstensen

05/10

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Dieser Beitrag ist als eine kleine Argumentationshilfe für einen gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohn von 10 Euro / Stunde gedacht, welcher bewusst auf große, komplexe und theoretische Zusammenhänge verzichtet, sowie auf zig Quellenangaben. Es ist ein Beitrag aus der Praxis für die Praxis.

Für mich ist es vollkommen unstrittig, dass wir in Deutschland einen Mindestlohn brauchen, um die inflationär fortschreitende Verarmung und Verelendung immer größerer Teile unserer Bevölkerung zu stoppen. Immer mehr kleine Geschäfte gehen pleite, da die Binnennachfrage immer mehr zusammenbricht, was ja kein Wunder ist, wenn man bedenkt, dass mittlerweile ein Drittel der Bevölkerung an der Armutsgrenze, oder darunter lebt.

Die reale Zahl der verzweifelt Arbeit suchenden Menschen liegt über 6.000.000 Betroffenen, wenn man die ganzen Statistiktricks der Regierenden heraus rechnet, wir haben also schon längst mindestens in diesem Punkt wieder "Weimarer" Verhältnisse.

Es braucht gar nicht der "großen" inhaltlichen Argumente, mit Statistiken und Quellenangaben ohne Ende untermauert, um Menschen von der Notwendigkeit eines Mindestlohnes zu überzeugen und vor allem auch von der Höhe eines Mindestlohnes in der Höhe von 10 Euro / Stunde, wie ihn, leider, bisher einzig und alleine die Partei "Die Linke" fordert, welche damit Mut und Realitätssinn beweist.

Auf der Webseite des DGB wurde noch im November 2009 gefordert: "Kein Lohn unter 7,50 Euro". Direkt darunter wurde in einem Artikel definiert, was Armutslöhne sind. Dort wurden Stundenlöhne unter 8,67 Euro (bei 38,5 Std/Woche) als Armutslöhne beziffert.

Merken die nicht einmal mehr, dass sie einen Mindestlohn fordern, der unter der von ihnen selbst benannten Armutsgrenze liegt? Wundern tut mich das nicht, ohne die billigende Unterstützung des DGB und seiner Gewerkschaften hätte Schröder niemals die Agenda 2010 durchsetzen können. Die Gewerkschaften betreiben seit Jahren mehrheitlich eine "blinde Kuh Politik" gegenüber der explodierenden Massenverelendung und Arbeitslosigkeit, sie sind NICHT diejenigen, von denen Hartz IV Betroffene Hilfe erwarten können.

Die Gewerkschaft Verdi z.B. sorgt sich eher um ihre Beschäftigten in den Argen und Jobcentern, als um ihre arbeitslos gewordenen Kolleginnen und Kollegen, die unter dem Handeln der von Verdi fürsorglichst unterstützten Leute leiden. Arbeitslose zahlen eben kaum oder keine Gewerkschaftsbeiträge, Beschäftigte schon. So platt und einfach erklärt sich das Handeln der sich immer weiter selber überflüssig machenden Gewerkschaften.

Die Parteien SPD und Grüne überbieten sich neuerdings, ähnlich wie die Gewerkschaften, in abstrusen Vorschlägen zur Höhe eines Mindestlohnes. 7,50 Euro oder 8,50 Euro usw. - viel Gerede um Nichts. Da will man "prüfen" lassen, "Arbeitskreise einsetzen", "Armutsgrenzen definieren" lassen und vieles Andere mehr. Eine aberwitzige und überflüssige Diskussion, Augenwischerei mit Blick auf das Wahlvolk, frei nach dem Motto: "Wir tun was für Euch."

Mir fällt dazu folgendes Zitat ein: "Inkompetente ziehen nicht nur irrige Schlüsse, ihre Unfähigkeit beraubt sie auch der Möglichkeit, dies überhaupt wahrzunehmen." - J. Kruger, D. Dunning (Sozialpsychologen)

Ich lebe in Waldbröl, einer Kleinstadt im Oberbergischen Kreis, südliches NRW, mit ca. 12 % Arbeitslosigkeit nach offizieller, geschönter Statistik, nach meinen eigenen Analysen als Sozialarbeiter, bereinigt um die Propagandazahlen der Politik ca. 18 % real existierenden Arbeitslosigkeit.

Das Oberbergische ist CDU Land, christliche Sekten an allen Ecken und Enden, strukturschwach, sozusagen am Ende der Welt. In Waldbröl, wie in vielen Städten in NRW ist der wirtschaftlich Verfall, die zunehmende Verelendung, für jeden ersichtlich, der sehenden Auges durch die Welt läuft.

Immer mehr Einzelhandelsgeschäfte haben in den letzten Jahren geschlossen, unsere Einkaufsstraße wirkt schon fast wie eine Geisterstraße aus einem US - Western. Und - immer mehr Menschen sieht man an ihrer Kleidung, an ihren abgehärmten, verzweifelten Gesichtern an, in welchem Elend sie wirklich leben. In einer Kleinstadt wie der unseren, wo man sich kennt, sticht das besonders ins Auge.

Ich bin mit den Menschen im Gespräch, täglich, mit den Einzelhändlern, wo ich einkaufe, mit denjenigen, wie z.B. meine Frisörin, welche Dienstleitungen für mich erbringen und mit den vielen Arbeitssuchenden, die ich z.T. noch aus der Grundschule kenne.

Und - wir reden natürlich auch über die Frage des Mindestlohnes!

Die Meisten Menschen hier erreiche ich nicht mit einer komplizierten, theoretischen Argumentation, zumal diejenigen, die kleine Ladenbesitzer oder Geringverdienende sind, häufig an die neoliberale Propagandalüge vom bequemen und schönen Leben in der "Hartz IV Hängematte" glauben und häufig sogar Hass auf die Betroffenen zum Ausdruck bringen.

Ich argumentiere dann einfach, an praktischen Beispielen:

Ich rechne vor, dass bei ca. 350 Euro / Monat Hartz IV Leistung zunächst einmal ca. 30 Euro für Strom (viele glauben, das gäbe es extra), ca. 20 Euro für Telefon (Telefon als notwendig leuchtet allen ein), ca. 20 Euro für die nötigsten Versicherungen (Hausrat- und Haftpflicht) und 50 Euro Rücklagen, für Leistungen also, die es in der früheren Sozialhilfe als einmalige Beihilfen gab und gestrichen wurden, (insofern ist es eine der vielen Lügen der Schröder Regierung, durch Hartz IV wäre die Sozialhilfe angehoben worden) z.B. für kaputte Elektrogeräte, Renovierung, Kleidung etc., abzuziehen sind.

Verbleiben also 230 Euro / Monat Rest für Verpflegung, Fahrkarten, kulturelle Teilhabe am Leben usw.! Wenn ich das so vorrechne, wie es wirklich ist, kommt die Botschaft an. Ich nehme dann immer gerne das Beispiel der Verkäuferin bei KIK, den Laden haben wir hier, die für FÜNF Euro die Stunde arbeiten geht, oder das Beispiel unserer Frisörinnen, mit ihren Niedrigstlöhnen, um zu erklären, dass durch die fehlende Kaufkraft der Arbeitssuchenden und der Niedrigstentlohnten logischerweise unsere ganze Stadt verfällt und die Elendsspirale immer weiter nach unten führt.

An den konkreten Beispielen vor Ort wird meine Argumentation für die Menschen hier plastisch, nicht durch eine abgehobene wirtschafts- und finanzpolitische theoretische Argumentation, zu der ich zwar durchaus in der Lage wäre, welche aber die Menschen in ihren Befindlichkeiten nicht dort abholen würde, wo sie wirklich stehen.

Zur Begründung der notwendigen Höhe eines Mindestlohnes von 10 Euro habe ich mir folgende einfache, plastische und vor allem für alle nachvollziehbare Argumentationskette aufgebaut, mit der ich z.B. gestern beim Haareschneiden auch meine junge Frisörin überzeugen konnte:

Ich gehe immer von einer ledigen Person aus. Es ist völlig legitim, der Einfachheit halber, bei Ledigen vom Bruttoeinkommen ca. 40 % als Steuern und Sozialabgaben abzuziehen, bei dieser Argumentation. Würde ich da mit den Einkommenssteuertabellen etc. auf den Punkt genau argumentieren, würde mich kein Mensch verstehen.

Ich rechne dann wie folgt vor: 10 Euro / Stunde minus 4 Euro / Stunde Steuern und Sozialabgaben ergibt einen Nettostundenlohn von 6 Euro. Bei einer 40 Stundenwoche also 240 Euro / Woche, bei 4 Wochen / Monat also ein Nettoeinkommen von ca. 960 Euro im Monat.

Davon ziehe ich dann im Gespräch die Wohnkosten incl. Nebenkosten, Strom, Heizung ab, was je nach Wohnort ca. 400 Euro / Monat Minimum sind.

So plastisch vorgeführt, ist mir bisher noch niemand begegnet, der das nicht nachvollziehen konnte. Selbst mein Tabakhändler, der mir immer über Kundenschwund die Ohren volljammert, ist mittlerweile für den Mindestlohn von 10 Euro und reale Hartz IV Bezüge von ca. 600 Euro netto, da er ja auch weiß, ohne vernünftiges Einkommen keine Kunden. Auch meine Frisörin überzeugte dies, da viele ihrer früheren monatlichen Stammkunden nur noch alle 3 bis 4 Monate kommen, wegen Geldmangels.

Als Krönung des Ganzen argumentiere ich dann immer mit den Pfändungsfreigrenzen für das persönliche monatliche Arbeits- oder Sozialeinkommen bei Überschuldung:

Laut gesetzlich gültiger Tabelle für Schuldner beträgt der unpfändbare Betrag bei Ledigen zur Zeit 989,99 Euro / Monat. ALLE deutschen Gerichte und interessanterweise auch der Gesetzgeber gehen davon aus, dass sich unter diesem Betrag für keinen Schuldner mehr die Aufnahme einer Arbeit lohnen würde, da er dann in Armut leben würde!!!

Wir haben also schon längst in Deutschland eine gesetzlich definierte Armutsgrenze, was interessanterweise kaum bekannt ist, oder wahrgenommen wird, von 989,99 Euro im Monat / netto! Alles was darunter liegt ist Armut!

Wie o.a. nachgewiesen, käme bei einem Mindestlohn von 10 Euro / brutto ein Nettomonatseinkommen von ca. 960 Euro / Monat raus, was also knapp an der gesetzlich bereits seit 2005 über die Pfändungsfreibeträge definierten ARMUTSGRENZE liegt.

So argumentiert, hat mir bisher noch niemand widersprochen, was meine Forderung nach 10 Euro Mindeststundenlohn angeht.

Dass ich alle Forderungen von DGB, Gewerkschaften, SPD, Grünen nach Mindestlöhnen unter 10 Euro, basierend auf dieser einfachen, aber aus meiner Sicht in sich schlüssigen, Argumentationskette für blanken Irrsinn halte, ergibt sich von selbst.

Wenn sich ein Frank Bsirske von Verdi jetzt auch noch stolz hinstellt und Tarifabschlüsse für das Wachdienstgewerbe in Höhe von unter 8 Euro / Stunde als Erfolg verkauft, stelle ich mir die Frage, nach seinem geistigen Gesundheitszustand. Da reicht ja schon das kleine Einmaleins um solche "Tarifabschlüsse" als puren Irrsinn zu entlarven.

In Sachen Mindestlohn oder Tarifverträge unter 10 Euro / Stunde, halte ich alle, die solch einen offenkundigen Schwachsinn fordern, für nicht ernst zu nehmen, ich spreche diesen Leuten jegliche ökonomische Kenntnis ab.

"Manche Politiker muss man behandeln wie rohe Eier. Und wie behandelt man rohe Eier? Man haut sie in die Pfanne." (Dieter Hallervorden)


Editorische Anmerkung

Den Artikel erhielten wir zur Zweitveröffentlichung vom Autor. Erstveröffentlicht wurde er unter
http://www.dieter-carstensen-waldbroel-nrw.homepage.t-online.de/371101.html