iz3w  Zeitschrift zwischen Nord und Süd aktuell bei trend

iz3w Nr. 324 (Mai / Juni 2011)

Spezial: Revolte in der arabischen Welt
Schwerpunkt: Zehn Jahre nach Genua

05/11

trend
onlinezeitung

 Editorial: Der Traum geht weiter

Die Proteste und Umbrüche in den arabischen Ländern haben Milliarden Menschen weltweit regelrecht beflügelt. Was kaum jemand für möglich gehalten hatte, geschieht, und jeder kann es live im Fernsehen oder im Internetticker sehen: Junge Oppositionelle begehren auf gegen waffenstarrende Regime, sie können binnen kurzer Zeit zementierte Strukturen aufbrechen und haben bereits zwei Präsidenten aus dem Amt vertrieben.

»Die Angst hat das Lager gewechselt«, betitelten wir in der letzten iz3w einen Beitrag anlässlich des Beginns der Revolten. Das hat sich bewahrheitet. Denn nun sind es die Ancien Régimes der arabischen Welt, die mit dem Rücken zur Wand stehen und sich rechtfertigen müssen, nicht mehr die revoltierenden, meist jungen Demonstrierenden der Generation 2011. Fast alle verbliebenen Autokratien müssen jederzeit mit heftigem Protest rechnen, nur wenige Länder wie Saudi Arabien sind bislang davon ausgenommen. Aber wer weiß... bei Bahrain oder Syrien hat auch niemand damit gerechnet, dass sich ernsthaft Widerstand regt. Und doch geschieht das Wunder – wahr gemacht von ganz normalen Menschen.

Das Tempo der Ereignisse ist noch immer hoch. Doch die Euphorie der ersten Wochen ist verflogen. Zu viele Rückschläge ließen den schönen Traum von den befreiten Gesellschaften im Nahen und Mittleren Osten, den wir im Hefteditorial der letzten Ausgabe formulierten, phasenweise zu einem Alptraum werden. Insbesondere Libyen war eine Zäsur. Anders als Ben Ali und Mubarak trat Gaddafi nicht friedlich ab, sondern verwickelte das Land in einen Bürgerkrieg. Aus Tunesien und Ägypten waren vor allem Bilder von mal wütenden, mal euphorischen Demonstrierenden zu sehen. Aus Libyen sieht man hingegen fast nur Bilder von Bewaffneten und kriegerischen Auseinandersetzungen. Gaddafi hat die Militarisierung den Rebellen aufgezwungen. Der selbst ernannte »Revolutionsführer« hält eben nicht nur an seinen Pfründen fest, er ist vor allem ein ideologischer Fanatiker. Für seine verquasten antiimperialistischen und nationalistischen Ziele ist er bereit, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen – oder besser gesagt: kämpfen und sterben zu lassen. Im Vergleich zu ihm erscheint ein Kleptokrat wie Mubarak zweckrational und berechenbar.

Eine Zäsur ist Libyen auch aufgrund des internationalen militärischen Eingreifens. Nun können die Rebellen nicht mehr beanspruchen, Gaddafis Regime aus eigener Kraft vertrieben zu haben. Ihr Sieg wird immer ein von Frankreich und der NATO geschenkter Sieg bleiben, was wiederum eine Steilvorlage für alle WidersacherInnen des demokratischen Wandels in arabischen Ländern darstellt: Er kann nun als Werk äußerer Kräfte diskreditiert werden. Der syrische Noch-Präsident al-Assad spielt bereits mit dieser Karte.

Erklärungsmuster wie »imperialistische Eroberung« eines erdölreichen Landes, wie sie beispielsweise von Seiten der deutschen Friedensbewegung formuliert werden, treffen den Kern des Problems jedoch nicht. Sie sind gefangen in alten Weltbildern, die allerspätestens durch die Revolten obsolet wurden. Gaddafi hat als Partner des Westens doch bestens funktioniert, beim Ölverkauf ebenso wie bei der Flüchtlingsabwehr, eine imperialistische Eroberung war gar nicht nötig. Die Rebellen gaben sich ohnehin pro-westlich. Sie waren es, die die Intervention geradezu erflehten, als Gaddafis Truppen vor Bengasi standen. Und in diesem Moment gab es eigentlich auch keine Alternative, als das Schlimmste zu verhindern. Gewiss, das eine Übel wurde nur durch ein anderes Übel verhindert. Dass dieses Dilemma überhaupt entstehen konnte, verweist aber vor allem auf eines: Schon in den Jahrzehnten zuvor wurde alles falsch gemacht in Sachen Politik gegenüber autoritären Regimen wie in Libyen. Jetzt erntet man die bitteren Früchte der Kumpanei und der Waffenlieferungen an Despoten wie Gaddafi: Gewalt.

Wie sehr die aktuelle Situation in Libyen gängige Interpretationen und politische Muster durcheinander bringt, spiegelt sich auch in der deutschen Außenpolitik wider. Es kam zu kaum vorstellbaren Konstellationen: Außenminister Westerwelle und Kanzlerin Merkel waren zusammen mit Linkspartei, Friedensbewegung und junge Welt (»Hände weg von Libyen«) gegen die Beteiligung am militärischen Eingreifen. Die Grünen und die SPD waren dafür. Rot-Grün kritisierte Westerwelle für die Enthaltung Deutschlands im UN-Sicherheitsrat mit einem klassischen machtpolitischen Argument: Deutschland verringere dadurch seinen Einfluss und verspiele alle Chancen auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat. Schwarz-Gelb wollte sich durch die Beteiligung am Militäreinsatz offensichtlich nicht die guten Geschäftsbeziehungen zu arabischen und anderen Despoten verderben. Fast allen politischen Kräften gemeinsam ist, dass die humanitäre Situation der Opfer von Krieg und Despotie keine bedeutende Rolle in der Argumentation spielt. Der Umgang mit den Flüchtlingen beispielsweise auf Lampedusa legt ein beredtes Zeugnis davon ab.

Glücklicherweise scheren sich die Protestierenden in Daraa, Tunis oder Amman nicht um das Versagen deutscher Außenpolitik. Sie nehmen ihr Leben selbst in die Hand. Das kann weiterhin Hoffnung machen und zu Revolutionsträumen inspirieren.

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