Berlin - Stadt der Mieter_innen?

05/11

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Immer mehr Menschen haben in Berlin mit teils drastischen Mieterhöhungen und deren vielfältigen Folgen zu kämpfen. Und entgegen den wohnungspolitischen Mythen von Rot-Rot hat dieser Senat ganz wesentlich dazu beigetragen. Anstatt aber nun den Grünen bei der Wahl ein falsches Vertrauen zu schenken, lassen wir die Parteien gleich ganz rechts liegen und nehmen die Dinge selbst in die Hand.

In Berlin gibt es überall genügend Wohnungen für alle

Falsch!
In Berlin hat sich der Wohnungsmarkt mittlerweile flächendeckend und in allen Preisbereichen deutlich angespannt. Das ist nicht nur das Gefühl vieler Menschen, die nach bezahlbaren Wohnungen suchen, sondern wird auch von der Immobilienbranche bestätigt. Der Anteil leer stehender Wohnungen in ganz Berlin wird auf gut drei Prozent geschätzt und hat sich damit seit 2005 fast halbiert. Der Verband der Wohnungsunternehmen in Berlin und Brandenburg geht bis 2015 sogar von einer Leerstandsquote von nur einem Prozent aus. Für 2025 wird ein Wohnungsdefizit von bis zu 9,3 Wohnungen auf 100 Haushalte vorausgesagt.

Berlin hat kein Mietenproblem

Falsch!
Die Mieten in Berlin steigen schon seit Jahren, und das nun auch fast im gesamten Stadtgebiet. Die durchschnittliche Miete von bereits bewohnten und neu vermieteten Wohnungen hat sich in den vergangenen zehn Jahren um ungefähr 25 Prozent auf nun über fünf Euro pro Quadratmeter erhöht. Besonders schnell stiegen die Mieten in letzter Zeit bei den neu vermieteten Wohnungen. Seit 2008 hat es hier einen Anstieg von ca. 20 Prozent gegeben. Der Wohnungsmarktbericht 2010 der Investitionsbank Berlin weist darauf hin, dass die Entwicklung der Mietpreise innerhalb des S-Bahn-Rings besonders drastisch ist und noch über den hier angegebenen Durchschnittswerten liegt. In Friedrichshain-Kreuzberg erhöhten sich die Neuange-botsmieten seit 2008 um 36 Prozent.

Gleichzeitig sind die Einkommen in Berlin leicht gesunken, was zusammen einen starken Anstieg der Mietbelastung von Haushalten bewirkt. Die letzten verfügbaren Zahlen sind schon etwas älter, aber bereits in 2006 lag die durchschnittliche Mietbelastung in Berlin bei knapp 25 Prozent, und damit auf demselben Niveau wie in München oder Hamburg. Guckt man etwas genauer hin, so wird deutlich, dass die Mietbelastung von Menschen mit geringem Einkommen noch weitaus höher ist. Haushalte mit weniger als 900 Euro im Monat müssen mindestens 40 Prozent ihres Einkommens für Wohnen ausgeben.

Besonders dramatisch ist die Situation im sozialen Wohnungsbau. Hier gab es in den letzten zehn Jahren ebenfalls einen Anstieg der Nettokaltmieten um 25 Prozent, hinzu kommt dann noch ein Anstieg der Heiz- und Warmwasserkosten um 39 Prozent. Der Wegfall der Anschlussförderung im sozialen Wohnungsbau hat hier noch einmal massiven Druck bei der Mietbelastung bewirkt. Teilweise sind die Mieten nun sogar höher als bei bislang nicht geförderten Wohnungen.

Einer Forsa-Umfrage zufolge hat jeder zweite Haushalt in Berlin in den vergangenen Jahren eine Mieterhöhung erhalten. Ein Viertel dieser Haushalte sieht sich demnach gezwungen, in eine preiswertere Wohnung umzuziehen.

Eine Verdrängung Geringverdienender und Erwerbsloser findet nicht statt

Falsch!
Menschen mit wenig Geld werden in Berlin mal mehr, mal weniger schleichend aus bestimmten Stadtteilen verdrängt. Über 80 Prozent der 1993 in Prenzlauer Berg lebenden Menschen mussten den Stadtteil angesichts enorm gestiegender Mieten verlassen. Systematische Verdrängung gibt es ebenfalls in Friedrichshain-Kreuzberg. Eine Studie aus 2008 kommt zu dem Schluss, dass sich in SO36 immer mehr Menschen das Wohnen aufgrund von Mieterhöhungen und Modernisierungen nicht mehr leisten können. Ein Drittel der Bewohner_innen ist akut von Verdrängung bedroht. Betroffen sind hier zuallererst Menschen mit kleinen Einkommen und Erwerbslose. In Friedrichshain gibt es bereits seit ein paar Jahren praktisch keine Wohnungen mehr für Bezieher_innen von ALG II. Und durch den Wegfall der Anschlussförderung im sozialen Wohnungsbau droht 28.000 Berliner_innen quasi über Nacht der Zwangsauszug. Im Fanny-Hensel Kiez in Kreuzberg stieg die Miete dadurch sprunghaft um 32%, und das sogar rückwirkend auf mehrere Monate. Kündigungen wurden ausgesprochen, viele Mieter_innen mussten bereits wegziehen.

Menschen, deren Miete über soziale Transferleistungen bezahlt wird weil sie erwerbslos sind oder trotz Arbeit nicht genug verdienen, sind besonders von Verdrängung aus ihren Wohnungen bedroht. Schon jetzt droht hier einem Fünftel über kurz oder lang der Zwangsumzug, in Kreuzberg ist es jetzt schon ein Drittel dieser Mieter_innen. Nach der Veröffentlichung des nächsten Mietspiegels im Mai ist damit zu rechnen, dass Hartz-4-Empfänger_innen bald komplett aus der Berliner Innenstadt wegumziehen müssen.

Auch im Karl-Kunger-Kiez in Alt-Treptow stehen langjährige Mieter_innen vor der Frage, ob sie sich ihre Wohnung noch leisten können, nachdem die Wohnungsbaugesellschaft Stadt & Land dort in vielen Wohnungen die Mieten willkürlich und ohne Verbesserungen für die Mieter_innen um bis zu 20 Prozent erhöht hat. Gleichzeitig formieren sich in diesem Kiez immer mehr so genannte Baugruppen wohlhabender Menschen, die sich moderne Eigentumswohnungen bauen, und damit das Wohnen und Leben im gesamten Kiez teurer machen. Haushalten, die hier finanziell nicht mithalten können, droht die Verdrängung.

Rot-Rot ist der Senat der Mieter_innen

Falsch!
Rot-Rot ist der Senat der Eigentümer_innen und Immobilienwirtschaft. Abgesehen von dem Versuch, sich durch eine von vornherein zum Scheitern verurteilte Bundesratsinitiative zur Änderung der Mietgesetzgebung im Dezember 2010 noch rechtzeitig vor den Wahlen als Mieter_innenkoalition zu präsentieren, haben sich alle wohnungspolitischen Maßnahmen der letzte Jahre gegen die Mieter_innen gerichtet. Rot-Rot hat damit ganz maßgeblich zu Mieterhöhungen und Verdrängung beigetragen:

Sozialer Wohnungsbau: Neubau von gerade einmal 35 Wohnungen. Gleichzeitig Kappung der Anschlussförderung für 28.000 Wohnungen, bei der die Vorteile der Eigentümer_innen auf Kosten der Mieter_innen bewahrt wurden. Zudem massiver Anstieg der Sozialmieten in den verbleibenden Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus

Öffentlicher Wohnungsbestand: Privatisierung von über 120.000 Wohnungen bzw. einem Drittel des Gesamtbestandes seit Regierungsantritt. Dadurch Verlust wohnungs- und sozialpolitischer Steuerungsmöglichkeiten. Gleichzeitige Verpflichtung der städtischen Wohnungsbaugesellschaften auf renditeorientiertes Wirtschaften mit ebenfalls verheerenden Folgen für Mieter_innen.

Verschärfung der AV Wohnen: immer mehr durchgeführte Zwangsumzüge, keine Angleichung der Richtsätze für die Kosten der Unterkunft trotz steigender Mieten, vermutlich sogar eine Herabsenkung der Mietrichtsätze bei Inkrafttreten des neuen Satzungsrechts in diesem Jahr

Zweckentfremdungsverbot: Wegfall nach OVG-Urteil aufgrund von Senatseinschätzung, der Berliner Wohnungsmarkt sei entspannt. Erst jetzt, kurz vor dem Wahlkampf neue Überlegungen, das Verbot wieder einzuführen.

Keine flächendeckende Verlängerung der Kündigungsschonfrist bei Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen trotz gesetzlichen Spielraums

Abbau von Schutzmechanismen für von Verdrängung bedrohte Mieter_innen in Sanierungs- und Milieuschutzgebieten

Rot-Rot hat nicht nur durch die aufgezählten Maßnahmen Mieter_innen unter Druck gesetzt, sondern sich auch immer wieder durch Ignoranz der Probleme hervorgetan. Im Falle des Wegfalls der Anschlussförderung im sozialen Wohnungsbau und den daraus resultierenden horrenden Mietsteigerungen für viele Mieter_innen sah der Senat keinen besonderen Handlungsbedarf für eine Ausnahme-regelung. Die zuständige Stadtent-wicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer wiederholt bis heute gebetsmühlenartig, dass es ihrer Ansicht nach keine Anspannung des Berliner Wohnungsmarktes gäbe und somit auch kein Mietenproblem in der Stadt. Auch Bürgermeister Klaus Wowereit verhöhnte unzählige Berliner_innen, als er Anfang des Jahres meinte, steigende Mieten seien doch ein gutes Zeichen für die Entwicklung der Stadt. Solche Äußerungen sind nicht nur ein Schlag ins Gesicht derer, die Monat für Monat ihre Miete zusammenkratzen müssen, sondern entlarven auch die Arroganz dieses Senats, indem die Alltagsprobleme Hunderttausender schlichtweg geleugnet werden.

Was tun?

Die rot-rote Koalition hat ganz klar versagt, Menschen mit wenig Geld vor Mieterhöhungen und Verdrängung zu schützen. Bei der kommenden Wahl nun die Grünen zu wählen, ist allerdings auch keine Alternative. Deren Klientel ist gerade die neue Mittelschicht, die jetzt bereits in den Wohnungen wohnt, in denen vorher die Menschen mit geringem Einkommen wohnten. Oder sie setzen sich gleich ihr schickes Baugruppenprojekt in die Brache zwischen den unsanierten Altbauten. Und von einer prinzipiell marktfreundlichen Partei ist eine stärke Regulierung des Wohnungs-marktes ohnehin nicht zu erwarten.

Da sich die Verantwortlichen in Senat und Abgeordnetenhaus sowieso hoffnungslos von den Problemen ärmerer Berliner_innen entfernt haben, nehmen wir die Dinge jetzt einfach selber in die Hand. Wir organisieren uns im Haus und in der Nachbarschaft, um gegen steigende Mieten, Zwangs-umzüge, Verdrängung und fiese Vermieter_innentaktiken vorzugehen. Wir nehmen uns gemeinsam Rechtsbeistand, veranstalten Stadtteilversammlungen und Kiezspaziergänge oder besuchen direkt die Wohnungsbaugesellschaften, die uns die Mieten erhöhen wollen. Denn wir wollen in unserem Kiez wohnen bleiben, ganz gleich welches Einkommen wir haben, welche Sprache wir sprechen oder welche Hautfarbe wir haben. Eine wirkliche Aufwertung bedeutet, dass sich unser Leben in der Stadt zu unseren Gunsten verändert, dass wir finanziell abgesichert sind und nicht von Amt und Behörden schikaniert werden, dass unser Haus für uns modernisiert wird und nicht für diejenigen, die danach in unsere Wohnungen ziehen.

Wir bleiben alle dort wohnen, wo wir wohnen möchten, denn hier haben wir unsere Freundschaften und unseren Alltag, und hier fühlen wir uns zu Hause. Und das einzufordern ist nicht konservativ, sondern einfach nur menschlich.

Editorische Hinweise

April 2011. Erstveröffentlichung auf Indy. Der Text wird in den nächsten Wochen auch als gedruckte Flugschrift erscheinen, und richtet sich vor allem an Leute außerhalb irgendwelcher Szenezirkel. Weiterverbreitung oder Verlinkung erwünscht!