Aufruhr in der arabischen Welt: Libyen
Manuskript eines Radiobeitrags


von
GegenStandpunkt Marburg

05/11

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Libyen ist in jeder Hinsicht ein anderer Fall. Dort liegt die Sache schon vom Ausgangspunkt her anders, weil dieser Staat kein prowestliches Geschöpf ist wie Ägypten und Tunesien. Libyen hat sich über Jahrzehnte bemerkbar gemacht durch die antiimperialistische Außenpolitik von Gaddafi, vor allem gegen die USA. Gaddafi wollte dem Imperialismus seine Grenzen aufzeigen – in Israel (dazu hat er versucht, ein vereinigtes Arabien zu schmieden), in Arabien und in Afrika (in Südafrika hat er die Anti-Apartheid-Bewegung unterstützt, was seine auch heute noch vorhandene Freundschaft zur Republik Südafrika begründet und in den letzten Jahren versucht, ein vereinigtes Afrika zu schaffen). Seiner antiimperialistischen Politik hat er mit Terroranschlägen Nachdruck zu verleihen versucht – siehe La Belle, Lockerbie. Das hat ihm Bombenangriffe seitens der USA und ein Embargo seitens USA und UNO eingetragen.

Nicht aus Überzeugung, sondern aus Berechnung, weil ihm der Preis seiner antiimperialistischen Politik zu hoch geworden war, hat er einen Schwenk vollzogen. Das nationale Fortkommen sah er ab 2003 besser aufgehoben durch Arrangements mit dem Westen. Er hat seine Atomprogramm weggeschmissen, US-Firmen eingeladen, in Libyen Öl zu fördern, und der EU angeboten, ihr die schwarzafrikanischen Boat People vom Leib zu halten. Dafür hat er auf dem letzten AU-Gipfel 4 Milliarden Euro gefordert mit der Drohung: „Sonst wird Europa schwarz!“ Daran sieht man: Das Arrangement von Gaddafi mit dem Westen bestand darin, dass zwar Dienste von ihm zu haben waren, aber keine Verlässlichkeit. Denn seine Dienstbarkeit war nicht Bestandteil des nationalen Standpunkts Libyens, sondern kam aus eigensüchtigen antinationalen Motiven. Libyen stand bei allen Veränderungen hin zum Kapitalismus nach wie vor für einen eigenständigen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus.

Dieser nationale Standpunkt hat Widerhall in der Diplomatie gefunden. Gaddafi trat im Ausland immer mit seinem Beduinenzelt auf und hat verlangt, dass er es auf den Champs-des-Elysees oder neben dem UN-Gebäude in New York aufstellen kann. Deshalb galt er als Exzentriker und Verrückter.
- Das diplomatische Prozedere einmal als Geschmacksfrage genommen: Ob das normale zwischenstaatliche diplomatische Protokoll so viel geschmackvoller ist? Das sieht vor, dass dem ausländischen Gast ein roter Teppich ausgerollt und ein Spalier von Bewaffneten aufgestellt wird und er sich vor den fremden Waffen verneigt. Gastfreundschaft stellt man sich anders vor! Exzentrisch war Gaddafi also nur gemessen am normalen Protokoll.
- Was Gaddafi damit ausgedrückt hat, war nicht eine persönliche Marotte, sondern eine diplomatische Botschaft: Libyen ist erstens ein Staat auf Augenhöhe, der eine entsprechende Behandlung verlangen kann, und zweitens ein anderer Staat. Der Westen hat das als Marotte der Person Gaddafi abgehakt, und auch das war eine diplomatische Botschaft: Was man am Staat nicht leiden kann, verschiebt man auf die Person, weil man mit dem Staat sein Auskommen sucht.

Für seine antiimperialistische Außenpolitik hat sich Gaddafi den Staat Libyen zurecht gemacht. 1969 hat er gegen König Idris vom Stamm der Senoussi im Osten geputscht. Das in Libyen herrschende Stammeswesen mit seinen vorstaatlichen Loyalitäten aber hat er nicht einfach abgeschafft, sondern für den Staat Libyen benutzen wollen. Dazu hat er die Stämme personell in die Herrschaft einbezogen und eingeladen, in Militär und Politik mitzumachen (den Senoussi-Stamm aus Benghasi hat er dabei benachteiligt. Die Senoussi galten ihm als der Stamm des weggeputschten Königs immer als unzuverlässig). Und er hat sie materiell einbezogen. Die Verteilung der Öleinnahmen, von denen der Staat Libyen lebt, ist gemeinsam in der Volks-Dschamariyah geregelt worden. Gaddafi selber hat sich als Stammesführer einerseits als Gleicher unter Gleichen, andererseits als ein herausgehobener Gleicher („Bruder Führer“) gesehen. Andererseits hat er gewusst: Die vorstaatlichen Loyalitäten bestehen zu lassen und für den Staat zu benutzen birgt die Gefahr, dass sie sich gegen den Staat wenden. Denn es steht ja immer der Konflikt auf der Matte, ob sich die Stammesführer und -mitglieder im gemeinsamen Staat besser aufgehoben sehen oder in ihrem Stamm. Deshalb hat Gaddafi neben der Armee ihm gegenüber loyale Milizen aus seinem eigenen Stamm aufgebaut.

Auf diesen Widerspruch zwischen Stammes- und Staatsloyalität hat sich der Aufstand in Libyen ganz schnell zugespitzt. Sein Ausgangspunkt war eine Demonstration in Benghasi aus Anlass des 15. Jahrestages eines Massakers an verhafteten Studenten vom Senoussi-Stamm im Salim-Gefängnis.
In Libyen hat also kein Volksaufstand gegen eine staatliche Zentralmacht stattgefunden, sondern eine gewaltsame Auseinandersetzung von Stämmen. Es standen sich – weil Armeeangehörige der Senoussi die Armee verlassen haben und zu ihrem Stamm zurückgekehrt sind – von Anfang an bewaffnete Parteien gegenüber – wenn auch die Bewaffnung unterschiedlich gut ist. Damit war der Zerfall des Landes fertig.

Dass die Stammesauseinandersetzung den Aufstand geprägt hat, konnte man auch an den mitgeführten Utensilien sehen: In Ägypten sind die Demonstranten mit Nationalfahnen aufmarschiert. Sie wollten ein besseres Ägypten. Die Benghasi-Leute wollten von Anfang an kein besseres Libyen, sondern einen anderen Staat. Deshalb haben sie nicht die libysche Fahne geschwenkt, sondern die der alten Monarchie.

Die Benghasi-Leute würden wir genau so kritisieren wie die Aufständischen in Ägypten und Tunesien: Ihr solltet euch darum kümmern, eure Lebensumstände zu verbessern, und nicht die Herrschaft, die euch kommandiert, für das Entscheidende halten und euch dafür gegenseitig umbringen! Kümmert euch um die soziale Frage und nicht um die nationale!

Der Westen hat eine ganz andere Antwort gegeben: Krieg

Um sich klarzumachen warum, muss man die Kriegsbegründungen scheiden vom tatsächlichen Kriegsgrund. Die Begründungen:

1. „Gaddafi führt Krieg gegen sein eigenes Volk!“
-Sachlich genommen ist das undenkbar. Krieg kann keine one-man-show sein. Gaddafi muss Unterstützer haben, die die Panzer fahren und von den Dächern schießen. Das hat er ja auch: Bis auf einen halten alle westlichen Stämme zu ihm. In Libyen führt also nicht ein Machthaber Krieg gegen ein Volk, sondern da gibt es Kriegsparteien.
- Wenn es in einem Staat eine Separatistengruppe gibt, die mit Waffengewalt den Staat kippen oder sich abspalten will, dann lässt sich das kein Staat der Welt gefallen – siehe Großbritannien und IRA, Spanien und ETA. Was Gaddafi anstellt, ist widerwärtig, aber von genau derselben Widerwärtigkeit, in der Staaten in solchen Fällen immer vorgehen. Bewaffnete Separatisten werden mit allen Mitteln bekämpft. Ihr Widerstand ist illegitim, deshalb heißen sie im Unterschied zur staatlichen Gewalt, die kein bisschen feiner vorgeht, „Terroristen“, denn der Staat als die überlegene rechtsetzende Instanz definiert, was legitim und was illegitim ist. Dass das jetzt bei Libyen anders ist, kommt daher, dass da ein drittes Subjekt hinzutritt, eine dem Staat Libyen überlegene Gewalt, und den Rechtsstatus der Beteiligten definiert: Gaddafi ist im Unrecht; er ist der Terrorist.

2. „Der Krieg hat den Zweck (das steht auch in der UN-Resolution), den Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten.“ Ist das wirklich der Zweck der Bombardements?
- Sachlich genommen kann das nicht sein. In Bahrein schießen 3000 Soldaten aus Saudi-Arabien im vollen Einverständnis mit den Westmächten den Protest zusammen. Wie kommt es, dass in Libyen dasselbe eine Todsünde ist, was in Bahrein gefordert ist? In Bahrein geht das Niederschießen der Protestierer in Ordnung, weil in Bahrein die 5. US-Flotte stationiert ist, eine sunnitische Minderheit über eine schiitische Mehrheit herrscht, und wenn die Schiiten gewinnen sollten, der Iran Einfluss auf das Land bekommt. Solche Berechnungen sind es, warum der eine Protest unterstützt, der andere niedergemacht wird, nicht der „Schutz der Bevölkerung“.
- Das Mittel Krieg taugt für den angeblichen Zweck, Schutz der Bevölkerung, gar nicht. Krieg ist nie Schutz der Menschen, weil er auf die Tötung von Menschen aus ist: Die der gegnerischen Partei, um dem Feind seine Mittel aus der Hand zu schlagen, und die der eigenen Leute, deren Draufgehen dabei in Kauf genommen wird.
- Der wirkliche Kriegsgrund liegt auf einem ganz anderen Feld. Gaddafi will einen Konflikt zwischen zwei Kriegsparteien zu seinen Gunsten entscheiden. Das gilt in den westlichen Hauptstädten als Anmaßung. Die großen westlichen Mächte nennen sich nämlich selbst „Weltordnungsmächte“. Sie bestehen darauf, dass sie es sind, die entscheiden, wer auf der Welt gegen wen wie vorgehen darf. Jede militärische Verschiebung des Kräfteverhältnisses muss von ihnen lizensiert sein. Ohne Lizenz geht gar nichts (siehe Irak-Kuwait, 1. Golfkrieg; siehe Iran). Mit Lizenz geht ziemlich viel (siehe Israel). Es geht also nicht darum, Blutvergießen zu verhindern, sondern dass das Blutvergießen von den westlichen Mächten genehmigt sein muss. Dass Gaddafi eigenmächtig Krieg führt, ist ein Verbrechen. Und erst recht ist es ein Verbrechen, dass dieser Typ das tut, der dem Westen sowieso nicht recht genehm ist. Insofern ist klar: Dagegen muss man mit Krieg eingreifen!

Dieser Krieg hat mit der Lage in Libyen also nichts zu tun. Dafür ein paar Hinweise:

Der Krieg ist gar keine gemeinsame Aktion von humanistisch inspirierten Westmächten, sondern von Anfang an ein Gezerre um die Federführung: Frankreich hat als erste Macht dreingeschlagen. Warum? Es hat vor Jahren schon mit der „Mittelmeerunion“ die Zuständigkeit für die Lage südlich und östlich des Mittelmeeres beansprucht. Wenn man aber Führungsmacht beansprucht, dann muss man auch mal Flagge zeigen, damit Ägypten, Tunesien, Marokko und alle anderen dort wissen, mit wem sie sich ins Benehmen zu setzen haben in allen wichtigen Fragen. Aus genau demselben Grund (sie wollen selber das Sagen haben) sind England und die USA dagegen, dass Frankreich sich als Führungsmacht profiliert. Die USA wollen den Libyen-Krieg zur NATO-Sache machen, denn in der NATO haben sie die Führung. Das will Frankreich genau deshalb nicht haben.

Diese so zerstrittene imperialistische Gemeinde richtet sich an die restliche Staatenwelt, dass die ihre Kompetenz zum Zuschlagen gefälligst anerkennen soll und ihnen mit einer UN-Resolution ihr Plazet erteilt. Das ist nicht wunschgemäß verlaufen. Russland uns China haben sich enthalten. Ein Veto einlegen wollten sie nicht, denn dann hätten sie sich ja zu praktischen Verhinderern des Krieges machen müssen, um nicht wie Papiertiger dazustehen. Das war ihnen die Sache nicht wert. Mit ihrer Enthaltung haben sie den Krieg zu einer bloß regionalen Frage heruntergestuft, obwohl er ganz universell als Demonstration der Definitionshoheit über Krieg und Frieden auf der Welt gemeint war. Den größten Skandal in der hiesigen Öffentlichkeit aber hat die deutsche Enthaltung ausgelöst. Den Grund präsentiert der alte Haudegen General a.D. Naumann: Deutschland enthält sich, weil es die eigenen militärischen Kapazitäten als zu gering einstuft, um in so einem Krieg Maßstäbe zu setzen. Nur mitmachen will Deutschland nicht. Wenn, dann will es Führungsmacht sein. Das kriegt es aber mangels Gerät nicht hin. Also steht es lieber abseits, als Erfüllungsgehilfe der Franzosen zu sein. Das verstehen die Franzosen genau so, wie es gemeint ist, und drohen deshalb, Deutschland werde für seine Enthaltung „einen hohen Preis bezahlen“ – gemeint ist, dass Frankreich die deutsche Bewerbung als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates nicht mehr unterstützt.

Die EU bietet sich jetzt mit Soldaten an für humanitäre Hilfe in Libyen. Das lehnt die UN strikt ab, weil humanitäre Hilfe gar nicht erforderlich wäre. Was sieht man daran? Die humanitäre Hilfe ist das Instrument, um einen Krieg zu lancieren, und nicht umgekehrt der Krieg das Mittel, humantitäre Hilfe zu ermöglichen.

Es ist ja gar nicht so, dass der Westen in Libyen eine gute Alternative zu Gaddafi wüsste, die er jetzt mit aller Gewalt an die Macht bringen will. Die Typen aus Benghasi gelten als so wenig zuverlässig und Al-Qaida-nahe, dass die USA sie nicht mit Waffen versorgen wollen. Bis auf Frankreich und Italien konnte sich noch kein westlicher Staat zu ihrer diplomatischen Anerkennung durchringen. Dennoch wird verbissen Krieg geführt – eben weil es nicht um Libyen, sondern um die Frage geht, wer beim Weltordnen die Hosen anhat.

Was hat das alles mit der Lebenslage der Leute in Libyen zu tun, von denen immer behauptet wird, es ginge um ihren Schutz?
- einerseits gar nichts. Was die Leute in Tripolis demnächst essen und trinken, das interessiert keine Sau. Der Krieg dreht sich darum, wer auf wen hören muss auf der Welt, nicht um die Verhältnisse in Libyen. Die sind das Material dafür.
- Andererseits sehr viel. Die Lebenslage der Leute in Libyen wird nämlich von dem Kriegskalkül der westlichen Mächte bestimmt. Von dem hängt ab, wer in Libyen demnächst wieder Bomben aufs Haupt bekommt.

Editorische Anmerkungen

Wir wurden gebeten den Text zu spiegeln. Erstveröffentliccht wurde er unter:
http://www.gs-marburg.de/texte/2011-05-11aufruhrinderarabischenwelt.htm