Jeden Tag fahren in der Region Turin einige 10000
Pendler zur Arbeit (und wieder zurück). Das bedeutet für
sie nicht nur eine Verlängerung ihres Arbeitstages,
sondern auch eine starke finanzielle Belastung. Manchmal
macht diese mehr als 15000 Lire im Monat aus. Einige
Unternehmen zahlen zwar ihren Lohnabhängigen einen
Fahrtkostenausgleich, andere übernehmen selbst den
Transport ihrer Arbeitskräfte. Sehr oft aber, und das
gilt insbesondere für FIAT, müssen die Arbeiter die
Fahrtkosten aus eigener Tasche bezahlen.
Für die Arbeiter ist jede Fahrpreiserhöhung ein
direkter Angriff auf die Kaufkraft ihrer Löhne. Die
Entscheidung zweier privater Busunternehmen, in der
Krisensituation im Sommer und Herbst 1974 die Fahrpreise
um 20 bis 50 % (je nach Entfernung) zu erhöhen,
mußte zu einer unmittelbaren Reaktion der Arbeiter
führen. Bemerkenswert war jedoch die Form dieser
Reaktion, mit der sie eindeutig mit ihren bisherigen
Kampftraditionen brachen. Die Bewegung begann Mitte
August 1974, nachdem die Regionalregierung (die
lediglich eine nationale Entscheidung ausführte) die
Preiserhöhungen der Verkehrsgesellschaften genehmigt
hatte.
Die Gewerkschaften der FLM hatten natürlich nicht
erst auf die Preiserhöhungen von 1974 gewartet, um sich
mit Beförderungsproblemen zu beschäftigen. Bereits seit
mehreren Jahren stellten sie eine Reihe von Forderungen
auf, die sich vor allem um drei Punkte drehten:
- Schluß mit dem privaten und staatlich
subventionierten Beförderungssystem; die FLM forderte
die öffentliche Kontrolle über die überregionalen
Verkehrsmittel;
- schrittweise Einführung des Nulltarifs für die
Fahrt zum Arbeitsplatz innerhalb der nächsten zehn
Jahre; die Verkehrsmittel sollen von der Region
verwaltet und von den Unternehmen finanziert werden;
- bis zu diesem Zeitpunkt gerechtere Verkehrstarife,
insbesondere für die Arbeiter mit langen
Anfahrtswegen.
Gleichzeitig versuchten die im FlAT-Werk präsenten
Gewerkschaften die Produktionsziele in der Fabrik zu
beeinflussen: Sie wollten den Produktionsanteil von
Massenverkehrsmitteln gegenüber dem Produktionsanteil
von Privatwagen verstärken.
Diese Forderungen der lokalen Gewerkschaften der FLM
kamen oft auf Demonstrationen zum Ausdruck oder wurden
von Delegationen vorgetragen, die auch die Aufnahme von
Verhandlungen mit der Regionalregierung forderten. In
den Fabriken versuchten sie, mit mehrstündigen Streiks,
manchmal auch mit Bummelstreiks, diesen Forderungen mehr
Gewicht zu verleihen.
Erfolge blieben zwar nicht ganz aus, doch waren sie
andererseits auch nicht überwältigend. Wichtigste
Errungenschaft war die kostenlose Beförderung für
bestimmte Gruppen von Rentnern in verschiedenen
Buslinien nach Turin. In diesen Jahren nahmen die Kämpfe
zunehmend spontanere Formen an, z. B. unter der
Parole „Mit Verspätung zur Arbeit". Die meisten
spontanen Reaktionen gab es im Rahmen der Aktionen zur
Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs (Forderungen
nach günstigeren Fahrtzeiten, gegen den Einsatz
überalterter Busse und für die Bereitstellung
ausreichender Beförderungskapazitäten usw.). Dennoch
blieb dies ohne große Perspektiven. Erst durch die
Bewegung zur „autoriduzione" der Fahrpreise kam es zum
Bruch einerseits mit den traditionellen und wenig
effektiven, andererseits den spontanen, aber nur wenig
beständigen Kampfformen. Seit Mitte August 1974 hatten
die zwei bereits genannten Verkehrsgesellschaften ihre
Fahrpreise erhöht. Das war das Vorspiel zur allgemeinen
Erhöhung der privaten wie der öffentlichen Omnibustarife
in der Region. Eine böse Überraschung für die Arbeiter,
die gerade aus den Ferien zurückkamen. Eine Woche lang
zeigten sie keine Reaktion. Zunächst akzeptierten sie
die Erhöhung. Die ersten Reaktionen, die kamen, nachdem
der Uberraschungseffekt vorbei war, waren spontan und
unorganisiert: In Pinerello, einem wichtigen Sammelpunkt
für die Arbeiter von Rivalta und Mirafiori, wurden die
Busse an der Weiterfahrt gehindert. Delegationen zogen
vor die Rathäuser von Pinerello und Rivalta und zur
Regionalregierung. Flugblätter wurden verteilt. Die FLM
von Rivalta traf daraufhin die Entscheidung, die
Organisation des Kampfes gegen die Fahrpreiserhöhung in
die Hand zu nehmen, und begann mit der „autoriduzione":
für die Wochenkarte wurde der alte Preis bezahlt. An
dieser Entscheidung entzündete sich schnell eine
politische Diskussion. Anders als bei Diskussionen um
die „autoriduzione" von Heizungsgeld, Miete oder
Elektrizitätsgebühren vertrat hier kaum jemand die
Auffassung, einfach jede Zahlung einzustellen: In diesem
Falle würden die Verkehrsgesellschaften ihre Busse nicht
mehr fahren lassen, und das hätte bedeutet, daß man
während der Dauer des Boykotts nicht hätte zur Arbeit
fahren können oder aber Privatautos hätte benutzen
müssen, was nicht immer möglich und auch angesichts der
allgemeinen politischen Linie der Gewerkschaften kaum
vertretbar gewesen wäre. Da ein Boykott schwierig und
ein Proteststreik in der Fabrik wirkungslos gewesen
wäre, begann in Pinerello die Bewegung zur
„autoriduzione" der Fahrpreise. Davon betroffen waren
etwa 3000 Arbeiter. Ab Samstag, den 24. August 1974,
standen Gewerkschafter neben den Schaltern, an denen die
Arbeiter normalerweise ihre Wochenkarten kauften, und
verteilten Flugblätter. In den Bussen fuhren
Gewerkschaftskollegen mit, die gegen eine von den
Gewerkschaften vorbereitete Quittung das Geld für die
Wochenkarte zum alten Tarif einsammelten. Die
Gewerkschafter sammelten und übergaben das Geld dann den
jeweiligen Busgesellschaften.(2) Die kleinsten
Unternehmen weigerten sich zunächst, das Geld
anzunehmen, hoben dann aber diese Entscheidung schnell
wieder auf. Alle Busunternehmen drohten damit, bei
Fortsetzung der „autoriduzione" durch die Arbeiter
einige Linien einzustellen. Aber nach verschiedenen
Demonstrationen und — so scheint es — auch auf Druck der
FIAT intervenierte die Regionalregierung bei den
betroffenen Unternehmen, die dann auch die angedrohten
Einstellungen zurücknahmen und sich bereit erklärten,
die Busse bis zu einer Übereinkunft mit den
Gewerkschaften zum alten Preis fahren zu lassen. Bei der
Entscheidung der Regierung, die Einstellung bestimmter
Buslinien nicht zu akzeptieren, hat das „legalistische"
Moment dieser Form von „autoriduzione", d. h. die
Tatsache, daß die Verkehrs-unternehmen die von den
Gewerkschaften eingesammelten Gelder akzeptierten, mit
Gewißheit eine entscheidende Rolle gespielt. So wurde
denen recht gegeben, die sich gegen eine
Schwarzfahrerpolitik ausgesprochen hatten.
Während dieser Zeit (Ende August bis Anfang
September) verstärkte sich die Bewegung, ohne sich
wirklich auszuweiten, durch die Aktivität der
Gewerkschaften, aber auch dank der Initiative
unorganisierter Arbeiter. Es kam zwar zu keiner
generellen Ausweitung der Bewegung, aber doch zu einer
Verschiebung des Kräfteverhältnisses zuungunsten der
Transportunternehmer: sie hatten zwar die „legale"
Möglichkeit, die Fahrpreise zu erhöhen, aber angesichts
der sich entfaltenden Bewegung wagte es in dieser Zeit
niemand, dem Beispiel der Busgesellschaften zu folgen,
die als erste die Preise erhöht hatten. Für die
Gewerkschaften, die sowohl den Kampf organisierten als
auch die Verhandlungen mit der Regionalregierung
führten, wurde die Belastung immer größer: die
Flugblätter, das Einsammeln der Gelder, die Geldübergabe
usw; all das bedeutete ein Maß an Mehrarbeit, das nicht
über längere Zeit oder in großem Umfang geleistet werden
konnte, zumal sich noch andere Auseinandersetzungen
abzeichneten. Insbesondere ging es um die Verhandlungen
mit dem Regionalrat, der ebenfalls daran interessiert
war, den Konflikt zu beenden, und deshalb am 17.
September eine Entscheidung zugunsten einer
Preiserhöhung fällte. Darüber hinaus mußten aber auch
noch allgemeinere Forderungen durch die Turiner
Gewerkschaften vertreten werden. Die Fahrpreiserhöhungen
lagen ungefähr 50 % unter den vor einem Monat verfügten
Erhöhungen. Bei einer Fahrtstrecke von 18 km oder
weniger lagen sie 25 %, bei einer Strecke von mehr als
18 km nur 15 % über dem seit 1972 gültig gewesenen
Tarif. Die Erhöhung traf also Kurzstreckenreisende
härter. Die Region sicherte außerdem zu, bis 1978 die
Hälfte der zur Zeit privaten Busgesellschaften zu
verstaatlichen, die Fahrpreise in der Region zu
vereinheitlichen und die kostenlose Beförderung auf
weitere Gruppen von Rentnern auszudehnen.
Diese Regelung war zweifellos ein Erfolg. Das wird
auch deutlich aus der Tatsache, daß sich sofort nach der
Einigung und nach schneller Realisierung der Beschlüsse
die „autoriduzione"-Bewegung fast über ganz Piemont
ausbreitete. Für die an den Kämpfen Beteiligten aber war
es weit mehr als nur ein ökonomischer Sieg. Tatsächlich
hatte der Kampf die Behörden gezwungen, eine einseitige,
ohne Hinzuziehung der Gewerkschaften zustande gekommene
Entscheidung zurückzunehmen. Das war ein wichtiges
politisches Ergebnis. Um genau zu sein: die großen
Verlierer waren die Besitzer der Verkehrsunternehmen,
die zum größten Teil zu den an den Rand gedrängten
Kleinkapitalisten gehörten, deren Interessen der
Staatsapparat mehr oder weniger vernachlässigen konnte.
Wie auch immer, die Tatsache, daß eine direkte Aktion
zu einem so schnellen und großen Erfolg geführt hatte,
war von erstrangiger Bedeutung, und sei es auch nur für
die Diskussion in den Gewerkschaften und linken
Organisationen über die Frage der richtigen Kampfformen.
Was das Feld der Auseinandersetzungen selbst
betrifft, so war eine gewisse Ausweitung
außerhalb der Fabrik gelungen: die Transportprobleme, um
die es ging, hingen direkt mit der Produktion zusammen,
und es wäre gewagt zu behaupten, es wäre dabei um
eigentlich urbane Fragen gegangen, also um Fragen im
Zusammenhang mit Konsump-tion und Reproduktion der
Arbeitskraft. Aber andererseits fand der Kampf auch
nicht mehr in der Fabrik statt, am Ort der
Produktion, sondern an der Nahtstelle von Fabrik und
Stadtteil oder Dorf, d. h. auf einem Feld, das die
Entwicklung von breiten Kämpfen im Konsumbereich erst
anzeigt, ohne schon deren typische Eigenschaften
aufzuweisen (Beteiligung unterschiedlicher Klassen;
Schwierigkeit, die Verbindung mit den
Auseinandersetzungen in der Fabrik herzustellen).
Vor allem aber stellte diese Kampfform einen
Bruch mit den herkömmlichen, insgesamt ziemlich
ineffektiven Vorgehensweisen dar. Diese Art der
Intervention für ein konkretes Ziel erlaubte es, im
Kampf selbst eine Forderung aufzustellen. Die
Bewegung setzte sich das Ziel, die Regionalregierung zu
Verhandlungen über die Fahrpreiserhöhungen zu zwingen.
Die „autoriduzione" war nicht Sache einiger weniger
isolierter Individuen. Sie wurde vielmehr, und das ist
von zentraler Bedeutung, von den Gewerkschaften
organisiert, die sie aktiv unterstützten und ihr eine
einheitliche Aktionsform gaben. Einige Jahre zuvor wäre
so etwas undenkbar gewesen. Sie stellte - ideologisch
und politisch — innerhalb der Gewerkschaften so etwas
wie einen Durchbruch von Forderungen und Aktionsformen
der „Neuen Linken" dar. Diese Entwicklung war eine
Reaktion auf die mangelnde Effizienz gewerkschaftlicher
Vorgehensweisen in der Vergangenheit. Man darf sich
jedoch über das Ausmaß dieser Entwicklung keine
Illusionen machen: die „autoriduzione" der Fahrpreise in
den regionalen Verkehrsmitteln blieb ein lokal
begrenztes Phänomen, mit dem nur die lokalen
Metallarbeitergewerkschaften etwas zu tun hatten, wobei
es dabei außerdem nur um die Durchsetzung einer
begrenzten Forderung ging. Niemals stand die Ausweitung
auf nationaler Ebene zur Debatte. Erst mit den Aktionen
auf dem Elektrizitätssektor, die von der Provinzleitung
der FLM mit einer vergleichbaren Strategie begonnen
wurden, erlangte die „autoriduzione"-Bewegung eine
neue Dimension, einen wirklichen Massencharakter.
3. Die Bewegung zur „autoriduzione" der Strompreise
Den Sommer ausnutzend, beschieß die Regierung Anfang
Juli 1974 die seit einem Jahr mehr oder weniger
voraussehbare Erhöhung der Elektrizitätspreise ...
Für die privaten Haushalte bedeutete dies eine
Erhöhung des durchschnittlichen Kilowattpreises um 72 %.
Für die wichtigsten Industrien erhöhte sich der
Strompreis dagegen nur um 55 %. Damit würden die
privaten Haushalte, die 22,5 % der Energie verbrauchten,
32 % des Gesamtverbrauchs bezahlen, während die
Großindustrie, die 39,7 % des Gesamtverbrauchs
konsumierte, nur 24 % bezahlen würde. Bei Bekanntwerden
dieser Zahlen beschlossen die Gewerkschaften zu
reagieren, und das um so entschlossener, als ihre
passive Haltung gegenüber den von der Regierung im Juli
beschlossenen Preiserhöhungen für öffentliche
Dienstleistungen in den vorausgegangenen Monaten von der
Basis heftig kritisiert worden war. Die Erhöhung der
Elektrizitätsgebühren stand am Anfang einer ganzen Reihe
von geplanten vergleichbaren Maßnahmen und stellte für
die Regierung so etwas wie einen politischen Testfall
dar. Sie würde die nächsten Gebührenerhöhungen (Telefon,
öffentliche Verkehrsmittel usw.) um so schneller und
leichter durchsetzen können, je schwächer und
unentschlossener die Reaktionen auf ihre erste Maßnahme
waren. Die Gewerkschaften mußten also schnell handeln.
Von Anfang an verzichteten sie auf traditionelle
Methoden (Demonstrationen, Petitionen, Delegationen
usw.). Jeder wußte, daß sie nichts nützten und außerdem
von der Basis nicht akzeptiert werden. Die Gewerkschaft
CISL-Elektrizität(3) machte den Vorschlag, eine Aktion
zu starten, die auf dem Prinzip der „autoriduzione"
beruhte. Sie stützte sich dabei auf das Beispiel der
Aktionen gegen die Fahrpreiserhöhungen, deren Ergebnisse
weitgehend positiv gewesen waren und die die, wenn auch
vielleicht nur relative, Effizienz des Prinzips der
„autoriduzione" bewiesen hatten. Seit September 1974
ging es in den Diskussionen darum nur noch um die Frage
der Anwendung der „autoriduzione".
Aber wenn sich auch alle Gewerkschafter darin einig
waren, daß die Erhöhung der Stromgebühren bekämpft
werden mußte, so wurden doch die von der
CISL-Elektrizität vorgeschlagenen Aktionsformen nicht
gleich von den anderen Gewerkschaften (CGIL und UIL)
akzeptiert. Selbst innerhalb der CISL gab es in dieser
Frage Widerspruch. In den Einzelgewerkschaften und deren
Dachverbänden wurden heftige Diskussionen geführt. Gegen
die Vertreter der „traditionellen" Kampfformen
entwickelten die Gewerkschafter, die die „autoriduzione"
der Preise befürworteten, eine Argumentation, die auf
einer Analyse der konjunkturellen Entwicklung basierte.
In einer Situation der wirtschaftlichen Krise (im Sommer
1974 erstes Auftreten von Kurzarbeit und starker Anstieg
der Arbeitslosigkeit) kann die Mobilisierungsbasis für
einen Kampf zur Durchsetzung von Forderungen im
Konsumbereich nicht die Fabrik sein. Außerdem können
angesichts geplanter Gebührenerhöhungen und
galoppierender Inflation der Lohn und die Kaufkraft
nicht allein durch den Kampf in der Fabrik
(Arbeiterstreik) verteidigt werden. Die „traditionellen"
Kampfformen - Demonstration, Delegation oder Teilstreik
- reichen dazu nicht aus. Sie sind ineffizient geworden
und werden von der Basis kritisiert. Damit wurden
Argumente der Verfechter traditioneller Kampfformen
gegen die Strompreiserhöhungen widerlegt. Anschließend
begann eine andere Diskussion: sollte man die
Stromrechnungen auf die Hälfte herabsetzen, oder sollte
man sich - scheinbar eine radikalere Lösung -darauf
einigen, die Zahlung ganz zu verweigern?
Die zweite Lösung lief Gefahr, sich gegen die zu
richten, die sie anwandten: verschiedene Versuche auf
diesem Weg waren gescheitert (vor allem 1971, als
Pajetta, Abgeordneter der KPI, die Parole ausgegeben
hatte, keine Fernsehgebühren mehr zu zahlen, und damit
ohne Erfolg geblieben war). Außerdem war das eine
Kampfform, die, wie die linken Gewerkschafter
hervorhoben, die Arbeiter nicht zwingt, sich zu
organisieren. Die Parole, die Rechnungen nicht zu
zahlen, hat die Passivität des Arbeiters zur Konsequenz.
Sie erweitert die Bewegung nicht, sondern wirkt eher
demobilisierend.
Dieser Vorschlag hätte nur dann wirkliche Bedeutung,
wenn es möglich wäre, massiv und über einen langen
Zeitraum hinweg die Zahlungseinstellung durchzusetzen -
mit anderen Worten, langfristig „zivilen Ungehorsam" zu
organisieren. In der aktuellen Situation war ein
derartiger Vorschlag jedoch nichts als ein symbolischer
Protest gegen die Preiserhöhung. Aber es ging ja nicht
nur darum, zum Ausdruck zu bringen, daß man mit den
Preiserhöhungen nicht einverstanden war, sondern es ging
um die Durchsetzung der eigenen Forderungen. Die
„autoriduzione" des Strompreises zeigte, daß die
Benutzer mit der einseitigen Entscheidung der Regierung,
die Gebühren im Juli zu erhöhen, nicht einverstanden
waren. Aber das hieß auch, daß man die Regierung mittels
der direkten Aktion zwingen wollte, über die in
den Auseinandersetzungen selbst formulierte Höhe der
Forderungen zu verhandeln. Die Gewerkschaften legten
letztere dann bei 50 % des neuen Strompreises fest.
Da sie die Forderungen der Bewegung nicht nur
stellen, sondern auch durchsetzen wollten, gaben die
Gewerkschaften der Aktion eine „illegale" Dimension, was
der Begriff des „zivilen Ungehorsams" gut verdeutlicht.
Die Beteiligten erhofften sich von diesem Kampf
einerseits einen Beitrag zur Organisierung (oder
Selbstorganisierung) der Turiner Bevölkerung und
andererseits ein Nachgeben der Regierung bei den
Verhandlungen über die Stromtarife.
In diesen Kämpfen spielten die Gewerkschaften eine
entscheidende Rolle. Ganz besonders die
Elektrizitätsarbeitergewerkschaften, die den Anstoß zu
diesen Kämpfen gegeben hatten und zu deren
Erfolgsgaranten gehörten. Von den ersten Tagen an
erklärten sie, sie würden sich - trotz aller Drohungen
der Elektrizitätsgesellschaften ENEL und AEM(4) -
weigern, in den Häusern, in denen die Gebühren nur zur
Hälfte bezahlt würden, die Stromleitungen abzustellen.
Sie erklärten sich im Gegenteil bereit, die Bewohner der
betroffenen Häuser und die verschiedenen
Stadtteilkomitees rechtzeitig von derartigen Plänen der
Elektrizitätsgesellschaften zu informieren, damit diese
mit Hilfe einer breiten Mobilisierung die Unterbrechung
der Stromzufuhr verhindern könnten. Im weiteren Verlauf
der Aktionen stellten die Gewerkschafter den
Stadtteilkomitees komplette Listen - Stadtteil für
Stadtteil - mit den Terminen zur Verfügung, an denen die
Elektrizitätsgesellschaften die Rechnungen verschicken.
Da die Rechnungen nicht alle am gleichen Tag abgeschickt
werden, was bis zum nächsten Zahlungstermin zu einem
Abbröckeln der Kampffront hätte führen können, wurde
damit eine permanente Mobilisierung wesentlich
erleichtert.
Wichtig aber war in erster Linie, welche Rolle eine
Gewerkschaft in den sozialen Kämpfen, den Kämpfen
außerhalb der Fabrik, spielen kann. Wir werden auf
diesen Punkt zurückkommen: die Gewerkschaften übernahmen
Kämpfe an der sozialen Front und ersetzten damit ein
wenig die politischen Parteien und Organisationen, um
der in den Stadtvierteln Widerstand leistenden
Bevölkerung eine größere Öffentlichkeit und mehr
Legitimation zu geben.
Der eigentliche Kampf entfaltete sich in zwei Phasen.
In der ersten wurden Unterschriften gesammelt, mit denen
sich die Unterzeichner bereit erklärten, die Forderung
nach „autoriduzione" der Strompreise aktiv zu
unterstützen - zunächst in den Fabriken, anschließend
auch im Stadtteil. Wozu das? Weil die Zeit knapp war und
der Kampf möglichst schnell eine Massenbasis gewinnen
mußte, da eine Gebühreneintreibung durch die AEM und
ENEL die Bewegung hätte schwächen können. Die
Unterschrift erlaubte eine schnelle, kollektive Aktion.
Jeder Unterzeichner erklärte sich bereit, seine Rechnung
um 50 % zu reduzieren und der Elektrizitätsgesellschaft
mit diesem Betrag auch einen Brief zu schicken, in dem
er erklärte, daß er damit den Empfehlungen der Turiner
Gewerkschaften von CISL, CGIL und UIL folge. Doch die
Gewerkschaften forderten nicht nur einfach eine
Unterschrift: zusätzlich mußten Rechnungsnummer und
Rechnungsbetrag genannt werden. Damit wurden die
Arbeiter gezwungen, ihre Rechnung zu lesen - das war die
„ideologische" Seite der Forderung. Außerdem gaben sie
damit den Gewerkschaften auch nützliche Hinweise auf den
Stromverbrauch der am Kampf beteiligten Familien. In der
zweiten Phase ging es um die Begleichung der Rechnungen.
In diesem Stadium stellten die
Elektrizitätsarbeitergewerkschaften - wie geplant - eine
komplette Aufstellung der Rechnungstermine, Stadtteil
für Stadtteil, zur Verfügung. Entsprechend dieser
Terminliste stellten sich die Angehörigen der
Basisorganisationen (Fabrikräte, Zonenräte, Kampf- und
Stadtteilkomitees - manchmal traf man an der Basis sogar
Wähler der Christdemokraten) vor den Postämtern in den
betroffenen Stadtvierteln auf und gaben den Arbeitern
Flugblätter in die Hand, auf denen diese lesen konnten,
wie die „autoriduzione" der Elektrizitätsgebühren
funktionierte. Die Arbeiter verwandten dabei die von den
Gewerkschaften oder den Kampfkomitees vorbereiteten
Formulare. Manchmal kam es zu bemerkenswerten Szenen, z.
B. als Polizisten, um der zu erwartenden Erregung im
Postamt zuvorzukommen, selbst zum Gewerkschaftsbüro
gingen, um sich Flugblätter und Formulare geben zu
lassen.
Nach wenigen Wochen waren es in Turin und in Piemont
ungefähr 150 000 Familien (die Schätzungen bewegen sich
zwischen 120000 und 180000), die die Höhe ihrer
Elektrizitätsrechnung selbst bestimmten. In den meisten
Fällen handelte es sich um Arbeiterfamilien, aber es
waren darunter auch Familien des Kleinbürgertums - der
berühmten Mittelklassen. Sie gaben diesem Massenkampf
eine Dimension von Klassenallianz. In dieser breiten
Form blieb die Bewegung allerdings auf Piemont
beschränkt.
Im übrigen Italien wurden in Tarento, Varese, Mailand
und Rom einige 10000 Rechnungen reduziert. In Mailand
und Rom wurde dagegen eine Ausbreitung der Bewegung
durch das „Bremsen" der nationalen
Gewerkschaftsführungen (indirekt durch die politischen
Parteien, insbesondere die KPI) verhindert. In Mailand
gelang es der extremen Linken, trotz ihrer Isolierung,
erfolgreich für die Reduktion einiger 10000 Rechnungen
zu mobilisieren. Im Veneto war die
„autoriduzione"-Bewegung, zunächst bei den
Verkehrsmitteln, dann beim Strom, sehr stark. Hier wurde
die Entwicklung der Bewegung ermöglicht durch die Arbeit
der Linken in der CISL und die Unterstützung seitens der
CGIL, die das dank eines gewissen Spielraums gegenüber
der nationalen Führung tun konnte. In Neapel wurden mehr
als 60000 Stromrechnungen reduziert. Dieses Ergebnis ist
noch beachtlicher, wenn man sich vor Augen hält, daß
hier die Kampfkomitees der Stadtteile die Bewegung
unabhängig von den Gewerkschaften organisieren mußten.
Die gewerkschaftliche Bewegung in Turin und die
„spontane" in Neapel waren die beiden Pole der Bewegung
zur Reduktion der Stromgebühren in Italien. Alles in
allem aber weitete die Bewegung sich nicht so aus, wie
dies die Turiner Gewerkschafter erhofft hatten. Das
Zusammentreffen von linken Gewerkschaften, die relativ
unabhängig von der nationalen Führung waren, mit einer
politischen Linken, die auf diese Gewerkschaften und die
in den Stadtteilen organisierten Basiseinheiten Druck
ausübte, sowie die Unterstützung der lokalen KPI, haben
die Entwicklung der Bewegung in Turin sehr gefördert.
Doch der spezifische Charakter der gewerkschaftlichen
und politischen Situation in Turin bedingte auch die
Isolation der Bewegung: wenn auch die Turiner
Entwicklung andere Bewegungen dieser Art in Italien
beeinflußte und so wichtige Diskussionen einleitete, so
gelang es ihr doch nie, ein politisches Kräfteverhältnis
zu schaffen, das dazu geführt hätte, daß die
„autoriduzione" auch von den Spitzen der nationalen
Gewerkschaftsverbände und der Parteien als Aktionsform
angenommen worden wäre.
Die von der KPI vorgetragene Kritik und das Schweigen
der Gewerkschaftsführungen führten schnell zu einer
Polarisierung der national geführten Diskussion in
Befürworter und Gegner der „autoriduzione". Für die KPI
war Turin eine Ausnahme: die nationale Führung der
Partei war gegen die „autoriduzione" und übte innerhalb
der CGIL in diesem Sinne Druck aus, informierte in ihrer
Presse kaum über die Kämpfe und beschuldigte die CISL,
beispielsweise in Mailand von „Linksradikalen" geführt
zu werden, die die traditionell christdemokratische
politische Linie der CISL verrieten.
Die KPI äußerte sich zur „autoriduzione"-Bewegung
nur, um den „abenteuerlichen" Charakter ihrer
Kampfformen zu kritisieren. Hier handele es sich
keineswegs um Kampfformen der Arbeiterklasse. Ihre
zentrale, in verschiedenen Variationen immer wieder
vorgebrachte These lautete: Arbeiter handeln nicht
„illegal". Die Kampfform der Arbeiterklasse sei der
Streik. Die Kämpfe um „autoriduzione" könnten nur von
„Linksradikalen" geführt und ausgenützt werden, entweder
offen oder unter einem gewerkschaftlichen Deckmantel (z.
B. dem der CISL in Turin und Mailand). Einige Führer der
KPI äußerten eine politischere, differenziertere Kritik,
nicht um der Polemik willen, sondern um auf wirkliche
Probleme hinzuweisen: auf der Ebene der Preise eine
Auseinandersetzung zu führen, stoße auf große
Schwierigkeiten; schließlich fehle hier die
Kampferfahrung der Arbeiterklasse; außerdem seien diese
Kampfformen nicht verallgemeinerbar usw. Manchmal war
die Kritik an der Bewegung nur indirekt: in der
KPI-Presse wurde die besondere Kampfform der Bewegung
verschwiegen, und man las nur die Kampfforderungen: Nein
zur Erhöhung der Strompreise, Nein zur Verteuerung der
Leistungen des öffentlichen
Dienstes. Dieses Verwischen der Aktionsformen
gegenüber den Aktionszielen fand sich auch in der
Haltung der Gewerkschaften auf nationaler Ebene. Die
Abneigung der KPI gegen die „autoriduzione", die
Weigerung, sich mit der konkreten Bewegung, die auf ihre
Forderungen reduziert wurde, auseinanderzusetzen,
stützte sich auf eine Argumentation, der eine bestimmte
Vorstellung vom Staat und dem öffentlichen Dienst
zugrundeliegt: die „autoriduzione" und die Strategie des
„zivilen Ungehorsam", zu der erstere massenhaft führen
könne, würden dazu beitragen, die Auflösung des Staates
und die Krise seiner Institutionen zu verstärken. In
einer Situation, in der die Rechte ihre ganze Kraft
einsetze, um den Staat und seine Institutionen zu
schwächen (gemeint ist die von der Rechten verfolgte
„Strategie der permanenten Spannung"), könne eine
derartige Bewegung politisch nur zu einer Schwächung der
Institutionen beitragen. Außerdem könne eine derartige
Bewegung angesichts der aktuellen Krise des öffentlichen
Dienstes in Italien - sozialer Wohnungsbau, öffentliche
Verkehrsmittel, Post usw. - dessen Auflösung nur
beschleunigen.
Es kann keinen Zweifel darüber geben, daß die
„autoriduzione" in sich den Keim einer scharfen Kritik
an der Vorstellung des öffentlichen Dienstes bzw. des
Staates als einer politisch neutralen, technischen
Institution im Dienste eines jeden Bürgers ohne
politische und ideologische Abhängigkeiten und
Verbindungen trägt. Angesichts der wirtschaftlichen
Krise Italiens aber zeigte die KPI die feste Absicht,
die Krise in den Griff zu bekommen, was sich politisch
in der Strategie des „historischen Kompromisses"
ausdrückte.
Die Diskussionen um die „autoriduzione" fanden nur
noch in den Gewerkschaften statt. Vor allem zwischen den
Turiner Gewerkschaften, die der Bewegung eine nationale
Dimension geben wollten, und den italienischen
Gewerkschaftsspitzen. Alle drückten auf die eine oder
andere Weise ihre Ablehnung oder zumindest ihr Mißtrauen
gegenüber der Turiner Bewegung aus.
Bestenfalls schweigende Gewerkschaftsverbände und
eine offen auf der Seite der Gegner stehende KPI: die in
Turin Kämpfenden fühlten sich, je näher die zweite Phase
der Bewegung rückte (Mitte Dezember wurden die ersten
Rechnungen erwartet), immer isolierter. Die politische
Situation war wesentlich ungünstiger als Anfang Oktober:
die Gewerkschaftsverbände bremsten oder wollten
zumindest eine Bewegung nicht ausweiten, in der Turin
das einzige und damit isolierte Beispiel war; hinzu kam
der Druck der Gewerkschaftsspitzen auf die Turiner
Regionalleitung. Eine neue Mitte-Links-Regierung schien
die Frage schnell und entschlossen durch die Aufnahme
von Verhandlungen klären zu wollen.
Außerdem befand sich das Land in einer tiefen
Wirtschaftskrise. FIAT führte für viele seiner Arbeiter
Kurzarbeit ein.
In dieser Situation nahmen die Gewerkschaftsführer
Verhandlungen mit der Regierung auf. Die nationalen
Gewerkschaftsverbände begrüßten das, weil sie einen
Schlußstrich unter die „autoriduzione"-Be-wegung ziehen
wollten. Aber auch in Turin sah man dies jetzt ähnlich.
Viele fürchteten ein Auseinanderbröckeln der Bewegung
und eine Niederlage mit den absehbaren schweren
politischen Folgen: eine endgültige Ablehnung der zum
Einsatz gebrachten Kampfformen. Die Verhandlungen
zwischen Regierung und Gewerkschaftszentralen führten
sehr schnell (20. Dezember 1974) zu einem Ergebnis. Die
Erhöhung für die Verbraucher wurde durchschnittlich um
ungeführ 20 % zurückgenommen. Mit der Unterzeichnung des
Vertrags akzeptierten die Gewerkschaften, daß der
Betrag, der während der „autoriduzione" nicht bezahlt
worden war, den Elektrizitätsunternehmen rückerstattet
wurde. Erleichterungen der Zahlungsmodalitäten, z. B.
Ratenzahlungen, wurden vereinbart.
Die Übereinkunft vom 20. Dezember bedeutete eine
klare Spaltung: Avanguardia Operaia und besonders Lotta
Continua forderten dazu auf, die „autoriduzione"
fortzusetzen; PdUP-Manifesto, die Gewerkschaftslinke und
die parlamentarische Linke, die weiterhin einen großen
Einfluß in den Turiner Gewerkschaften hatten, forderten
dagegen die Einstellung der „autoriduzione".
4. Schlußbemerkung
Aus der Turiner Bewegung (wie auch aus der weniger
starken und weniger gut organisierten Bewegung im
übrigen Italien) lassen sich verschiedene politische und
theoretische Lehren ziehen. Zunächst zum Verhältnis von
Arbeiterkämpfen und sozialen (oder ur-banen) Kämpfen:
die „autoriduzione", vor allem die Turiner Bewegung zur
Reduktion der Strompreise, kehrte die „klassische"
Problematik des Verhältnisses von Arbeiterbewegung und
Stadtkämpfen um. Letztere galten immer als sekundäre
Fronten des Klassenkampfes, die sich den Fabrikkämpfen
immer unterzuordnen hatten. Das Bild für diese
Sichtweise ist das vom Übergreifen des
Klassenkampfes von der Fabrik auf die Stadt.
Stadtkämpfe entwickelten sich zudem immer in einem
genau bestimmten Bereich — z. B. dem sozialen
Wohnungsbau — und oft mit der gleichen Kampfform, z. B.
der Besetzung. Sehr häufig bewegten sie sich in den vom
Zyklus Besetzung, Räumung, Besetzung, Räumung usw.
gezogenen Grenzen. Vor allem aber hatten diese häufig
eher von einer subproletarischen als von einer
proletarischen Basis getragenen Kämpfe keine Beziehung
zu den Arbeiterkämpfen. Erst die Fahrpreisbewegung und
mehr noch die Mobilisierung gegen die Erhöhung der Strom
gebühren änderten das. Die „autoriduzione"-Bewegung
bringt die klassische Trennung zwischen den den
Fabrikkämpfen untergeordneten Stadtkämpfen und den
autonomen, isolierten, allein von Linken geführten
Stadtkämpfen zu Fall. Sie zeigt die Möglichkeit eines
gemeinsamen Kampfes. Sie ist das erste konkrete Resultat
der theoretischen und praktischen Vorstellungen der
außerparlamentarischen Gruppen Italiens. Die Verbindung
bilden die Gewerkschaften, die die
„autoriduzione"-Bewegung entscheidend geprägt haben. Sie
sind der Schlüssel zur Analyse der Turiner Bewegung.
Einerseits, weil es ihre Initiative war, andererseits
weil sie der Bewegung die organisatorische Unterstützung
gaben, ohne die der Kampf niemals die genannten Ausmaße
erreicht hätte. So ermöglichten es die
Arbeitergewerkschaften der „autoriduzione"-Bewegung,
sich breit zu entfalten, während die Rolle der
politischen Parteien immer sekundär blieb und die
Verbraucherorganisationen und -gewerk-schaften -
ausgenommen die SUNIA, die in den Stadtteilen eine
gewisse Rolle spielte — überhaupt nicht in Erscheinung
traten. Ohne Intervention der Gewerkschaften wäre die
Bewegung klein und isoliert geblieben. Welche Umstände
aber ermöglichten die gewerkschaftliche Intervention?
Wir sehen im wesentlichen drei Faktoren. Der erste hat
mit der Besonderheit Turins als einer Arbeiterstadt zu
tun, deren Lebensrhythmus von FIAT und den dort
stattfindenden Auseinandersetzungen bestimmt wird.
Zweitens spielte es eine Rolle, daß die italienischen
Gewerkschaften auf nationaler Ebene eine große Tradition
der Intervention in soziale Kämpfe haben, z. B. die
nationalen Streiks zur Wohnungsfrage (1969) oder die
Unterstützung zahlreicher Hausbesetzungen durch die FLM.
Die „autoriduzione"-Bewegung in Turin war ein neuer
Schritt auf dem Weg der Intervention der Gewerkschaften
in die sozialen Kampfe. Hier ging es nicht mehr um die
politisch-symbolische Unterstützung der Stadtkämpfe
durch die Arbeiterbewegung, um damit ein für die
Durchsetzung der gestellten Forderungen günstigeres
Kräfteverhältnis zu erzielen, sondern die Gewerkschaften
organisierten unmittelbar für den Kampf um ein
bestimmtes Ziel. In Turin taten die Gewerkschaften den
Schritt von einer indirekten Intervention in die
sozialen Kämpfe zu einer direkten Intervention, die eine
beträchtliche Erweiterung der urbanen Bewegung
ermöglichte.
Drittens spielte die wirtschaftliche Krise Italiens
eine entscheidende Rolle. In Zeiten der Überproduktion,
der Arbeitslosigkeit oder der drohenden Arbeitslosigkeit
werden die herkömmlichen Waffen der Arbeiterklasse
stumpf. Streiks und andere Kämpfe gegen Verschärfung der
Taktzeiten und Produktivitätssteigerung können nur noch
schwer weiterentwickelt werden. Die berechtigte Angst
vor Kurzarbeit, Aussperrung (wie bei FIAT im Dezember
1974) und Verlust des Arbeitsplatzes schwächt die
Position der Arbeiter. Der Kampf um die Erhaltung der
Arbeitsplätze wird zum entscheidenden Thema in den
Fabriken. Hinzu kommt der Kampf zur Verteidigung eines
von starker Inflation und massiven Gebührenerhöhungen
für öffentliche Dienstleistungen bedrohten Lohnes, der
nicht allein in den Fabriken geführt werden kann. Es
geht nicht nur darum, in den Fabriken um Lohnerhöhungen
zu kämpfen, sondern ebenso darum, die bedrohte Kaufkraft
auch im Konsumbereich zu verteidigen. Andernfalls
verliert man mit der einen Hand das, was man mit der
anderen eingenommen hat.
Mit dem Ziel der Verteidigung der Kaufkraft können
sich die Kämpfe auf breiter Basis entfalten.
Angestellte, Beamte (die dabei sind, mit der Vorstellung
vom „neutralen", jenseits der Klassenkonflikte stehenden
Staatsdienst zu brechen), Lehrer usw. haben bei der
Bewegung zur „autoriduzione" der Stromgebühren
mitgemacht. Daß sich an diesem Kampf unterschiedliche
Klassen beteiligten und daß deren Beteiligung auf die
Initiative der Arbeitergewerkschaften zurückging und auf
der Basis direkter Aktionen zustande kam, die bis dahin
nur von aktiven Minderheiten betrieben worden waren,
machte ein weiteres wichtiges Element dieser Kämpfe aus.
Die „autoriduzione" stellte beinahe immer unmittelbar
den Staat, die öffentliche Gewalt, in Frage. Eine ihrer
wesentlichen Dimensionen lag in der politischen Idee,
deren Instrument sie war: der Idee von einer
gesellschaftlichen Kontrolle der sogenannten
„kollektiven Konsumtion", dem Ziel „politischer" Preise
für die öffentlichen Dienstleistungen. Das aber
widersprach direkt den Vorstellungen vom
„kostendeckenden Preis" für öffentliche
Dienstleistungen. Die „autoriduzione" ist im
Privatsektor viel schwieriger durchzusetzen, denn hier
stehen die Interessen der einzelnen Kapitalisten auf dem
Spiel, und der repressive Staatsapparat interveniert,
wenn er durch eine Verletzung des Privateigentums dazu
legitimiert ist, immer besonders schnell. Der breite
Kampf um „autoriduzione" entwickelte sich deshalb vor
allem in den vom Staat kontrollierten Sektoren der
Wirtschaft, zu einem Zeitpunkt, da der Staat sich in
einer Krise befand und nicht fähig war, mit seinen
Widersprüchen fertig zu werden.
Anmerkungen
1) Die Wohnungen sollten nur eine Nacht lang besetzt
werden. Einige der Haus-besetzer, die länger als 24
Stunden blieben, wurden - ohne Zwischenfälle -von der
Polizei zum Verlassen der Gebäude gezwungen.
2) In Palermo z. B. ging es anders zu. Hier
praktizierten Studenten die „autoriduzione" wesentlich
weniger legalistisch: sie demolierten die
Fahrscheinautomaten und ermöglichten so kostenlose
Fahrten.
3)CISL = Confederazione Italiana Sindicati Lavoratori
(christdemokratisch orientierter Gewerkschaftsbund);
CGIL = Confederazione Generale Italiana de Lavoro (der
KPI nahestehender Gewerkschaftsbund); UIL = Unione
Italiana del Lavoro (sozialdemokratisch orientierter
Gewerkschaftsbund) (Anm. d. Hrsg.).
4) Bei der ersten dieser Gesellschaften handelt es
sich um ein staatliches, bei der zweiten um ein
städtisches Unternehmen (Anm. d. Hrsg.).
Editorische
Hinweise
Den Aufsatz
scannten wir aus Margit Mayer, Roland Roth, Vorkhard
Brandes (Hrsg): Stdkrise und soziale Bewegungen, Ffm 1978, S.
177-193