Stadtumbau & Stadtteilkämpfe
"Autoriduzione" in Turin
von
Eddy Cherki / Michel Wieviorka

05-2013

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onlinezeitung

In Italien entwickelten sich seit den späten sechziger Jahren neue Widerstandsformen - im Betrieb wie in der Stadt. Die „autoriduzione" ist der Akt, mit dem Konsumenten beim Kauf von Waren, bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel und anderer öffentlicher Einrichtungen, bei Mieten, Heizkosten, elektrischem Strom, Telefon usw. kollektiv ihrer Ansicht nach überhöhte Preise ablehnen und einen Preis festsetzen, der ihnen im Verhältnis zu ihrem Einkommen „gerecht" erscheint. Derartige Bewegungen gewannen in Italien sehr schnell an Bedeutung. Die Bedingungen ihres Entstehens, ihr Verlauf und die ihnen gesetzten Schwierigkeiten und Grenzen sollen hier ausschnittsweise analysiert und dokumentiert werden. Wen die neuen Erfahrungen der sozialen Auseinandersetzungen in Westeuropa nach 1968 interessieren, muß nach Italien blicken. Hier sind die originellsten Kampf- und Organisationsformen der Arbeiterbewegung - oft auf Massenbasis - am stärksten entwickelt worden. Ihre Originalität zeigt sich vor allem in den Stadtkämpfen: auf Stadtteilebene oder in den gewerkschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen, die sich auf die Konsumsphäre beziehen. Die Bewegung zur eigenmächtigen Senkung der Preise, die „autoriduzione", die im Herbst 1974 in Turin begann, ist in dieser Hinsicht ein äußerst wichtiges Ereignis. Mit dieser Bewegung setzten die Verbraucher auf der Ebene der Konsumtion, aber auch die Arbeiter auf der Produktionsebene, die Preise der öffentlichen Dienstleistungen, die Mieten, die Gas- und Strompreise und in der Fabrik die Taktzeiten und die Produktivität selbst auf ein kollektiv vereinbartes Niveau fest.
Die unmittelbare Untersuchungsarbeit zu diesem Aufsatz wurde in Zusammenarbeit mit Christine Ternat durchgeführt. Außerdem haben wir uns bei den Veröffentlichungen — abgesehen von den Broschüren und Dokumentationen der verschiedenen Basiskomitees und gewerkschaftlichen und politischen Organisationen — auf die (maschinenschriftlich vervielfältigten) Protokolle eines im November 1974 in Venedig veranstalteten Kolloquiums zur „autoriduzione" gestützt; auf den Aufsatz „Autoriduzione a Torino", in: Quaderni Piacentini, r. 53-54, Dezember 1974, verfaßt von dem Colletivo d'analisi di Torino;sowie A. Daolio, Hrsg., Le Lotte per la Casa in Italia, Milano 1974.

Dieser Aufsatz erschien unter dem Titel „Luttes Sociales en Italie: Les mouvements d' Autoréduction à Turin", in: Les Temps Modernes, 30. Jg., Nr. 347, Juni 1975, S. 1793-1831. Gekürzte Fassung. Aus dem Französischen übersetzt von Arno Widmann. Vgl. auch Y. Collonges und P. G. Randal, Les Auto-reductions, Paris 1976; Helmut G. Haasis, „Zur Verbindung von Betriebskämpfen und sozialen Kämpfen in Torino", in: Politiken, Nr. 51, April 1976
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1. Die Entfaltung der sozialen Kämpfe

Seit einer Reihe von Jahren erleben wir in Italien eine Ausbreitung der sozialen Auseinandersetzungen. 1968/69 erreichten die Arbeiterkämpfe einen Höhepunkt. Das heißt nicht, daß es danach keine mehr gab. Im Gegenteil: die klassischen Aktionsformen der Arbeiterklasse - Generalstreiks, Dauerstreiks, Teilstreiks, Schwerpunktstreiks usw. -wurden in einem nicht zu übersehenden Ausmaß von weniger konventionellen Formen unterstützt und erneuert: durch Verhinderung der Produktion, vorübergehendes Einsperren von Vorgesetzten, Senkung der Produktivität, Kontrolle der Taktzeiten und massiven Absentis-mus. Diese Bewegung, die zugleich die Revolte und den Kampfgeist der italienischen Arbeiterklasse ausdrückte, wurde im wesentlichen von der Union der Metallarbeitergewerkschaften (FLM) und verschiedenen linken Gruppen (Lotta Continua, Avanguardia Operaia, etwas später auch II Manifesto) unterstützt. Derartige Formen direkter Aktion findet man dann auch in den seit 1969 von linken Gruppen und der Kommunistischen Partei durch die Mietergewerkschaften UNIA und SUNIA (Nationale Mieterunion) organisierten Stadtkämpfen wieder.

In den Jahren 1968 bis 1975 konzentrierten sich die städtischen Auseinandersetzungen in Italien vor allem auf die Wohnungsfrage. Obdachlose besetzten leerstehende Häuser. Die Mieter des sozialen Wohnungsbaus senkten eigenmächtig ihre Mieten oder widersetzten sich Räumungen. Vielfach hatten diese Kämpfe einen illegalen und gewalttätigen Charakter. Derartige Auseinandersetzungen spielten sich in Italien in einer ganz anderen Größenordnung als z. B. in Frankreich ab. So wurden zwischen 1968 und 1975 20 000 Wohnungen besetzt. Die UNIA organisierte beispielsweise eine „symbolische Besetzung"(1), an der sich in einer Nacht 10000 Menschen beteiligten. Autonome Stadtteilkomitees, die von Mitgliedern der Gruppen Potere Operaio und Lotta Continua getragen wurden, organisierten in Rom, Mailand und Neapel zwischen 1969 und 1972 einige tausend Besetzungen. In Mailand brachte die Mietervereinigung Unione degli Inquili-ni, an der im wesentlichen Avanguardia Operaia beteiligt war, eine Bewegung zur Besetzung leerstehender Häuser auf die Beine und organisierte eine Kampagne gegen die Räumungen im StadtteilGaribaldi. Die eigenmächtigen Mietkürzungen waren die erste Form der „autoriduzione"-Bewegung. Politisches Ziel der Kampagnen zur „autoriduzione" der Mieten war es, die Mieten auf 10 % des Lohnes zu senken. In Rom organisierte die UNIA ein Jahr lang die „autoriduzione" der Mieten von mehr als 10000 Mietern. In bestimmten Stadtteilen von Rom (La Magliana), Mailand oder Turin (La Valetta) reduzierten Tausende von Familien 3 bis 4 Jahre lang ihre Mieten. Im Februar/März 1974 kam es in Rom zu einem neuen Aufschwung der Hausbesetzungsbewegung: in einer Woche wurden mehr als 5 000 Wohnungen besetzt. Die meisten wurden allerdings sofort wieder von der Polizei geräumt. Diese Aktionen waren Formen gewaltsamer Auseinandersetzung, die nicht vom Klima der sozialen Gewalt und der Polizeigewalt, wie es damals in Italien herrschte, getrennt werden können. Das dramatischste Beispiel hierfür stammt aus dem Stadtviertel San Basilio am Stadtrand von Rom: dort wurde im September 1974 ein linker Aktivist im Verlauf von Auseinandersetzungen zwischen Polizei und kämpfenden Bewohnern von Elendswohnungen getötet. Es ließen sich zahlreiche weitere Beispiele für ähnliche Zusammenstöße zwischen Hausbesetzern, Bewohnern von Elendswohnungen und Polizei im Zusammenhang mit den urbanen Bewegungen in Italien während der letzten Jahre nennen.

Zwischen den manchmal äußerst heftig geführten Stadtkämpfen und den Arbeiterkämpfen läßt sich schwer eine direkte Verbindung herstellen. Sie sind wahrscheinlich auch nur schwer als eine allgemeine Infragestellung des kapitalistischen Systems auf der Produktions-wie auf der Konsumtionsebene zu betrachten. Dazu fehlt ihnen die Einheit. Das ganze Interesse der Turiner Bewegung zielte ja darauf ab, den Kampf auf der Produktionsebene und den Kampf in der Konsumsphäre praktisch zu vereinen ...

2. Die „autoriduzione" der Fahrpreise

Jeden Tag fahren in der Region Turin einige 10000 Pendler zur Arbeit (und wieder zurück). Das bedeutet für sie nicht nur eine Verlängerung ihres Arbeitstages, sondern auch eine starke finanzielle Belastung. Manchmal macht diese mehr als 15000 Lire im Monat aus. Einige Unternehmen zahlen zwar ihren Lohnabhängigen einen Fahrtkostenausgleich, andere übernehmen selbst den Transport ihrer Arbeitskräfte. Sehr oft aber, und das gilt insbesondere für FIAT, müssen die Arbeiter die Fahrtkosten aus eigener Tasche bezahlen.

Für die Arbeiter ist jede Fahrpreiserhöhung ein direkter Angriff auf die Kaufkraft ihrer Löhne. Die Entscheidung zweier privater Busunternehmen, in der Krisensituation im Sommer und Herbst 1974 die Fahrpreise um 20 bis 50 % (je nach Entfernung) zu erhöhen, mußte zu einer unmittelbaren Reaktion der Arbeiter führen. Bemerkenswert war jedoch die Form dieser Reaktion, mit der sie eindeutig mit ihren bisherigen Kampftraditionen brachen. Die Bewegung begann Mitte August 1974, nachdem die Regionalregierung (die lediglich eine nationale Entscheidung ausführte) die Preiserhöhungen der Verkehrsgesellschaften genehmigt hatte.

Die Gewerkschaften der FLM hatten natürlich nicht erst auf die Preiserhöhungen von 1974 gewartet, um sich mit Beförderungsproblemen zu beschäftigen. Bereits seit mehreren Jahren stellten sie eine Reihe von Forderungen auf, die sich vor allem um drei Punkte drehten:

  •  Schluß mit dem privaten und staatlich subventionierten Beförderungssystem; die FLM forderte die öffentliche Kontrolle über die überregionalen Verkehrsmittel;
  • schrittweise Einführung des Nulltarifs für die Fahrt zum Arbeitsplatz innerhalb der nächsten zehn Jahre; die Verkehrsmittel sollen von der Region verwaltet und von den Unternehmen finanziert werden;
  • bis zu diesem Zeitpunkt gerechtere Verkehrstarife, insbesondere für die Arbeiter mit langen Anfahrtswegen.

Gleichzeitig versuchten die im FlAT-Werk präsenten Gewerkschaften die Produktionsziele in der Fabrik zu beeinflussen: Sie wollten den Produktionsanteil von Massenverkehrsmitteln gegenüber dem Produktionsanteil von Privatwagen verstärken.

Diese Forderungen der lokalen Gewerkschaften der FLM kamen oft auf Demonstrationen zum Ausdruck oder wurden von Delegationen vorgetragen, die auch die Aufnahme von Verhandlungen mit der Regionalregierung forderten. In den Fabriken versuchten sie, mit mehrstündigen Streiks, manchmal auch mit Bummelstreiks, diesen Forderungen mehr Gewicht zu verleihen.

Erfolge blieben zwar nicht ganz aus, doch waren sie andererseits auch nicht überwältigend. Wichtigste Errungenschaft war die kostenlose Beförderung für bestimmte Gruppen von Rentnern in verschiedenen Buslinien nach Turin. In diesen Jahren nahmen die Kämpfe zunehmend spontanere Formen an, z. B. unter der Parole „Mit Verspätung zur Arbeit". Die meisten spontanen Reaktionen gab es im Rahmen der Aktionen zur Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs (Forderungen nach günstigeren Fahrtzeiten, gegen den Einsatz überalterter Busse und für die Bereitstellung ausreichender Beförderungskapazitäten usw.). Dennoch blieb dies ohne große Perspektiven. Erst durch die Bewegung zur „autoriduzione" der Fahrpreise kam es zum Bruch einerseits mit den traditionellen und wenig effektiven, andererseits den spontanen, aber nur wenig beständigen Kampfformen. Seit Mitte August 1974 hatten die zwei bereits genannten Verkehrsgesellschaften ihre Fahrpreise erhöht. Das war das Vorspiel zur allgemeinen Erhöhung der privaten wie der öffentlichen Omnibustarife in der Region. Eine böse Überraschung für die Arbeiter, die gerade aus den Ferien zurückkamen. Eine Woche lang zeigten sie keine Reaktion. Zunächst akzeptierten sie die Erhöhung. Die ersten Reaktionen, die kamen, nachdem der Uberraschungseffekt vorbei war, waren spontan und unorganisiert: In Pinerello, einem wichtigen Sammelpunkt für die Arbeiter von Rivalta und Mirafiori, wurden die Busse an der Weiterfahrt gehindert. Delegationen zogen vor die Rathäuser von Pinerello und Rivalta und zur Regionalregierung. Flugblätter wurden verteilt. Die FLM von Rivalta traf daraufhin die Entscheidung, die Organisation des Kampfes gegen die Fahrpreiserhöhung in die Hand zu nehmen, und begann mit der „autoriduzione": für die Wochenkarte wurde der alte Preis bezahlt. An dieser Entscheidung entzündete sich schnell eine politische Diskussion. Anders als bei Diskussionen um die „autoriduzione" von Heizungsgeld, Miete oder Elektrizitätsgebühren vertrat hier kaum jemand die Auffassung, einfach jede Zahlung einzustellen: In diesem Falle würden die Verkehrsgesellschaften ihre Busse nicht mehr fahren lassen, und das hätte bedeutet, daß man während der Dauer des Boykotts nicht hätte zur Arbeit fahren können oder aber Privatautos hätte benutzen müssen, was nicht immer möglich und auch angesichts der allgemeinen politischen Linie der Gewerkschaften kaum vertretbar gewesen wäre. Da ein Boykott schwierig und ein Proteststreik in der Fabrik wirkungslos gewesen wäre, begann in Pinerello die Bewegung zur „autoriduzione" der Fahrpreise. Davon betroffen waren etwa 3000 Arbeiter. Ab Samstag, den 24. August 1974, standen Gewerkschafter neben den Schaltern, an denen die Arbeiter normalerweise ihre Wochenkarten kauften, und verteilten Flugblätter. In den Bussen fuhren Gewerkschaftskollegen mit, die gegen eine von den Gewerkschaften vorbereitete Quittung das Geld für die Wochenkarte zum alten Tarif einsammelten. Die Gewerkschafter sammelten und übergaben das Geld dann den jeweiligen Busgesellschaften.(2) Die kleinsten Unternehmen weigerten sich zunächst, das Geld anzunehmen, hoben dann aber diese Entscheidung schnell wieder auf. Alle Busunternehmen drohten damit, bei Fortsetzung der „autoriduzione" durch die Arbeiter einige Linien einzustellen. Aber nach verschiedenen Demonstrationen und — so scheint es — auch auf Druck der FIAT intervenierte die Regionalregierung bei den betroffenen Unternehmen, die dann auch die angedrohten Einstellungen zurücknahmen und sich bereit erklärten, die Busse bis zu einer Übereinkunft mit den Gewerkschaften zum alten Preis fahren zu lassen. Bei der Entscheidung der Regierung, die Einstellung bestimmter Buslinien nicht zu akzeptieren, hat das „legalistische" Moment dieser Form von „autoriduzione", d. h. die Tatsache, daß die Verkehrs-unternehmen die von den Gewerkschaften eingesammelten Gelder akzeptierten, mit Gewißheit eine entscheidende Rolle gespielt. So wurde denen recht gegeben, die sich gegen eine Schwarzfahrerpolitik ausgesprochen hatten.

Während dieser Zeit (Ende August bis Anfang September) verstärkte sich die Bewegung, ohne sich wirklich auszuweiten, durch die Aktivität der Gewerkschaften, aber auch dank der Initiative unorganisierter Arbeiter. Es kam zwar zu keiner generellen Ausweitung der Bewegung, aber doch zu einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses zuungunsten der Transportunternehmer: sie hatten zwar die „legale" Möglichkeit, die Fahrpreise zu erhöhen, aber angesichts der sich entfaltenden Bewegung wagte es in dieser Zeit niemand, dem Beispiel der Busgesellschaften zu folgen, die als erste die Preise erhöht hatten. Für die Gewerkschaften, die sowohl den Kampf organisierten als auch die Verhandlungen mit der Regionalregierung führten, wurde die Belastung immer größer: die Flugblätter, das Einsammeln der Gelder, die Geldübergabe usw; all das bedeutete ein Maß an Mehrarbeit, das nicht über längere Zeit oder in großem Umfang geleistet werden konnte, zumal sich noch andere Auseinandersetzungen abzeichneten. Insbesondere ging es um die Verhandlungen mit dem Regionalrat, der ebenfalls daran interessiert war, den Konflikt zu beenden, und deshalb am 17. September eine Entscheidung zugunsten einer Preiserhöhung fällte. Darüber hinaus mußten aber auch noch allgemeinere Forderungen durch die Turiner Gewerkschaften vertreten werden. Die Fahrpreiserhöhungen lagen ungefähr 50 % unter den vor einem Monat verfügten Erhöhungen. Bei einer Fahrtstrecke von 18 km oder weniger lagen sie 25 %, bei einer Strecke von mehr als 18 km nur 15 % über dem seit 1972 gültig gewesenen Tarif. Die Erhöhung traf also Kurzstreckenreisende härter. Die Region sicherte außerdem zu, bis 1978 die Hälfte der zur Zeit privaten Busgesellschaften zu verstaatlichen, die Fahrpreise in der Region zu vereinheitlichen und die kostenlose Beförderung auf weitere Gruppen von Rentnern auszudehnen.

Diese Regelung war zweifellos ein Erfolg. Das wird auch deutlich aus der Tatsache, daß sich sofort nach der Einigung und nach schneller Realisierung der Beschlüsse die „autoriduzione"-Bewegung fast über ganz Piemont ausbreitete. Für die an den Kämpfen Beteiligten aber war es weit mehr als nur ein ökonomischer Sieg. Tatsächlich hatte der Kampf die Behörden gezwungen, eine einseitige, ohne Hinzuziehung der Gewerkschaften zustande gekommene Entscheidung zurückzunehmen. Das war ein wichtiges politisches Ergebnis. Um genau zu sein: die großen Verlierer waren die Besitzer der Verkehrsunternehmen, die zum größten Teil zu den an den Rand gedrängten Kleinkapitalisten gehörten, deren Interessen der Staatsapparat mehr oder weniger vernachlässigen konnte.

Wie auch immer, die Tatsache, daß eine direkte Aktion zu einem so schnellen und großen Erfolg geführt hatte, war von erstrangiger Bedeutung, und sei es auch nur für die Diskussion in den Gewerkschaften und linken Organisationen über die Frage der richtigen Kampfformen.

Was das Feld der Auseinandersetzungen selbst betrifft, so war eine gewisse Ausweitung außerhalb der Fabrik gelungen: die Transportprobleme, um die es ging, hingen direkt mit der Produktion zusammen, und es wäre gewagt zu behaupten, es wäre dabei um eigentlich urbane Fragen gegangen, also um Fragen im Zusammenhang mit Konsump-tion und Reproduktion der Arbeitskraft. Aber andererseits fand der Kampf auch nicht mehr in der Fabrik statt, am Ort der Produktion, sondern an der Nahtstelle von Fabrik und Stadtteil oder Dorf, d. h. auf einem Feld, das die Entwicklung von breiten Kämpfen im Konsumbereich erst anzeigt, ohne schon deren typische Eigenschaften aufzuweisen (Beteiligung unterschiedlicher Klassen; Schwierigkeit, die Verbindung mit den Auseinandersetzungen in der Fabrik herzustellen).

Vor allem aber stellte diese Kampfform einen Bruch mit den herkömmlichen, insgesamt ziemlich ineffektiven Vorgehensweisen dar. Diese Art der Intervention für ein konkretes Ziel erlaubte es, im Kampf selbst eine Forderung aufzustellen. Die Bewegung setzte sich das Ziel, die Regionalregierung zu Verhandlungen über die Fahrpreiserhöhungen zu zwingen.

Die „autoriduzione" war nicht Sache einiger weniger isolierter Individuen. Sie wurde vielmehr, und das ist von zentraler Bedeutung, von den Gewerkschaften organisiert, die sie aktiv unterstützten und ihr eine einheitliche Aktionsform gaben. Einige Jahre zuvor wäre so etwas undenkbar gewesen. Sie stellte - ideologisch und politisch — innerhalb der Gewerkschaften so etwas wie einen Durchbruch von Forderungen und Aktionsformen der „Neuen Linken" dar. Diese Entwicklung war eine Reaktion auf die mangelnde Effizienz gewerkschaftlicher Vorgehensweisen in der Vergangenheit. Man darf sich jedoch über das Ausmaß dieser Entwicklung keine Illusionen machen: die „autoriduzione" der Fahrpreise in den regionalen Verkehrsmitteln blieb ein lokal begrenztes Phänomen, mit dem nur die lokalen Metallarbeitergewerkschaften etwas zu tun hatten, wobei es dabei außerdem nur um die Durchsetzung einer begrenzten Forderung ging. Niemals stand die Ausweitung auf nationaler Ebene zur Debatte. Erst mit den Aktionen auf dem Elektrizitätssektor, die von der Provinzleitung der FLM mit einer vergleichbaren Strategie begonnen wurden, erlangte die  „autoriduzione"-Bewegung eine neue Dimension, einen wirklichen Massencharakter.

3. Die Bewegung zur „autoriduzione" der Strompreise

Den Sommer ausnutzend, beschieß die Regierung Anfang Juli 1974 die seit einem Jahr mehr oder weniger voraussehbare Erhöhung der Elektrizitätspreise ...

Für die privaten Haushalte bedeutete dies eine Erhöhung des durchschnittlichen Kilowattpreises um 72 %. Für die wichtigsten Industrien erhöhte sich der Strompreis dagegen nur um 55 %. Damit würden die privaten Haushalte, die 22,5 % der Energie verbrauchten, 32 % des Gesamtverbrauchs bezahlen, während die Großindustrie, die 39,7 % des Gesamtverbrauchs konsumierte, nur 24 % bezahlen würde. Bei Bekanntwerden dieser Zahlen beschlossen die Gewerkschaften zu reagieren, und das um so entschlossener, als ihre passive Haltung gegenüber den von der Regierung im Juli beschlossenen Preiserhöhungen für öffentliche Dienstleistungen in den vorausgegangenen Monaten von der Basis heftig kritisiert worden war. Die Erhöhung der Elektrizitätsgebühren stand am Anfang einer ganzen Reihe von geplanten vergleichbaren Maßnahmen und stellte für die Regierung so etwas wie einen politischen Testfall dar. Sie würde die nächsten Gebührenerhöhungen (Telefon, öffentliche Verkehrsmittel usw.) um so schneller und leichter durchsetzen können, je schwächer und unentschlossener die Reaktionen auf ihre erste Maßnahme waren. Die Gewerkschaften mußten also schnell handeln. Von Anfang an verzichteten sie auf traditionelle Methoden (Demonstrationen, Petitionen, Delegationen usw.). Jeder wußte, daß sie nichts nützten und außerdem von der Basis nicht akzeptiert werden. Die Gewerkschaft CISL-Elektrizität(3) machte den Vorschlag, eine Aktion zu starten, die auf dem Prinzip der „autoriduzione" beruhte. Sie stützte sich dabei auf das Beispiel der Aktionen gegen die Fahrpreiserhöhungen, deren Ergebnisse weitgehend positiv gewesen waren und die die, wenn auch vielleicht nur relative, Effizienz des Prinzips der „autoriduzione" bewiesen hatten. Seit September 1974 ging es in den Diskussionen darum nur noch um die Frage der Anwendung der „autoriduzione".

Aber wenn sich auch alle Gewerkschafter darin einig waren, daß die Erhöhung der Stromgebühren bekämpft werden mußte, so wurden doch die von der CISL-Elektrizität vorgeschlagenen Aktionsformen nicht gleich von den anderen Gewerkschaften (CGIL und UIL) akzeptiert. Selbst innerhalb der CISL gab es in dieser Frage Widerspruch. In den Einzelgewerkschaften und deren Dachverbänden wurden heftige Diskussionen geführt. Gegen die Vertreter der „traditionellen" Kampfformen entwickelten die Gewerkschafter, die die „autoriduzione" der Preise befürworteten, eine Argumentation, die auf einer Analyse der konjunkturellen Entwicklung basierte. In einer Situation der wirtschaftlichen Krise (im Sommer 1974 erstes Auftreten von Kurzarbeit und starker Anstieg der Arbeitslosigkeit) kann die Mobilisierungsbasis für einen Kampf zur Durchsetzung von Forderungen im Konsumbereich nicht die Fabrik sein. Außerdem können angesichts geplanter Gebührenerhöhungen und galoppierender Inflation der Lohn und die Kaufkraft nicht allein durch den Kampf in der Fabrik (Arbeiterstreik) verteidigt werden. Die „traditionellen" Kampfformen - Demonstration, Delegation oder Teilstreik - reichen dazu nicht aus. Sie sind ineffizient geworden und werden von der Basis kritisiert. Damit wurden Argumente der Verfechter traditioneller Kampfformen gegen die Strompreiserhöhungen widerlegt. Anschließend begann eine andere Diskussion: sollte man die Stromrechnungen auf die Hälfte herabsetzen, oder sollte man sich - scheinbar eine radikalere Lösung -darauf einigen, die Zahlung ganz zu verweigern?

Die zweite Lösung lief Gefahr, sich gegen die zu richten, die sie anwandten: verschiedene Versuche auf diesem Weg waren gescheitert (vor allem 1971, als Pajetta, Abgeordneter der KPI, die Parole ausgegeben hatte, keine Fernsehgebühren mehr zu zahlen, und damit ohne Erfolg geblieben war). Außerdem war das eine Kampfform, die, wie die linken Gewerkschafter hervorhoben, die Arbeiter nicht zwingt, sich zu organisieren. Die Parole, die Rechnungen nicht zu zahlen, hat die Passivität des Arbeiters zur Konsequenz. Sie erweitert die Bewegung nicht, sondern wirkt eher demobilisierend.

Dieser Vorschlag hätte nur dann wirkliche Bedeutung, wenn es möglich wäre, massiv und über einen langen Zeitraum hinweg die Zahlungseinstellung durchzusetzen - mit anderen Worten, langfristig „zivilen Ungehorsam" zu organisieren. In der aktuellen Situation war ein derartiger Vorschlag jedoch nichts als ein symbolischer Protest gegen die Preiserhöhung. Aber es ging ja nicht nur darum, zum Ausdruck zu bringen, daß man mit den Preiserhöhungen nicht einverstanden war, sondern es ging um die Durchsetzung der eigenen Forderungen. Die „autoriduzione" des Strompreises zeigte, daß die Benutzer mit der einseitigen Entscheidung der Regierung, die Gebühren im Juli zu erhöhen, nicht einverstanden waren. Aber das hieß auch, daß man die Regierung mittels der direkten Aktion zwingen wollte, über die in den Auseinandersetzungen selbst formulierte Höhe der Forderungen zu verhandeln. Die Gewerkschaften legten letztere dann bei 50 % des neuen Strompreises fest.

Da sie die Forderungen der Bewegung nicht nur stellen, sondern auch durchsetzen wollten, gaben die Gewerkschaften der Aktion eine „illegale" Dimension, was der Begriff des „zivilen Ungehorsams" gut verdeutlicht. Die Beteiligten erhofften sich von diesem Kampf einerseits einen Beitrag zur Organisierung (oder Selbstorganisierung) der Turiner Bevölkerung und andererseits ein Nachgeben der Regierung bei den Verhandlungen über die Stromtarife.

In diesen Kämpfen spielten die Gewerkschaften eine entscheidende Rolle. Ganz besonders die Elektrizitätsarbeitergewerkschaften, die den Anstoß zu diesen Kämpfen gegeben hatten und zu deren Erfolgsgaranten gehörten. Von den ersten Tagen an erklärten sie, sie würden sich - trotz aller Drohungen der Elektrizitätsgesellschaften ENEL und AEM(4) - weigern, in den Häusern, in denen die Gebühren nur zur Hälfte bezahlt würden, die Stromleitungen abzustellen. Sie erklärten sich im Gegenteil bereit, die Bewohner der betroffenen Häuser und die verschiedenen Stadtteilkomitees rechtzeitig von derartigen Plänen der Elektrizitätsgesellschaften zu informieren, damit diese mit Hilfe einer breiten Mobilisierung die Unterbrechung der Stromzufuhr verhindern könnten. Im weiteren Verlauf der Aktionen stellten die Gewerkschafter den Stadtteilkomitees komplette Listen - Stadtteil für Stadtteil - mit den Terminen zur Verfügung, an denen die Elektrizitätsgesellschaften die Rechnungen verschicken. Da die Rechnungen nicht alle am gleichen Tag abgeschickt werden, was bis zum nächsten Zahlungstermin zu einem Abbröckeln der Kampffront hätte führen können, wurde damit eine permanente Mobilisierung wesentlich erleichtert.

Wichtig aber war in erster Linie, welche Rolle eine Gewerkschaft in den sozialen Kämpfen, den Kämpfen außerhalb der Fabrik, spielen kann. Wir werden auf diesen Punkt zurückkommen: die Gewerkschaften übernahmen Kämpfe an der sozialen Front und ersetzten damit ein wenig die politischen Parteien und Organisationen, um der in den Stadtvierteln Widerstand leistenden Bevölkerung eine größere Öffentlichkeit und mehr Legitimation zu geben.

Der eigentliche Kampf entfaltete sich in zwei Phasen. In der ersten wurden Unterschriften gesammelt, mit denen sich die Unterzeichner bereit erklärten, die Forderung nach „autoriduzione" der Strompreise aktiv zu unterstützen - zunächst in den Fabriken, anschließend auch im Stadtteil. Wozu das? Weil die Zeit knapp war und der Kampf möglichst schnell eine Massenbasis gewinnen mußte, da eine Gebühreneintreibung durch die AEM und ENEL die Bewegung hätte schwächen können. Die Unterschrift erlaubte eine schnelle, kollektive Aktion. Jeder Unterzeichner erklärte sich bereit, seine Rechnung um 50 % zu reduzieren und der Elektrizitätsgesellschaft mit diesem Betrag auch einen Brief zu schicken, in dem er erklärte, daß er damit den Empfehlungen der Turiner Gewerkschaften von CISL, CGIL und UIL folge. Doch die Gewerkschaften forderten nicht nur einfach eine Unterschrift: zusätzlich mußten Rechnungsnummer und Rechnungsbetrag genannt werden. Damit wurden die Arbeiter gezwungen, ihre Rechnung zu lesen - das war die „ideologische" Seite der Forderung. Außerdem gaben sie damit den Gewerkschaften auch nützliche Hinweise auf den Stromverbrauch der am Kampf beteiligten Familien. In der zweiten Phase ging es um die Begleichung der Rechnungen. In diesem Stadium stellten die Elektrizitätsarbeitergewerkschaften - wie geplant - eine komplette Aufstellung der Rechnungstermine, Stadtteil für Stadtteil, zur Verfügung. Entsprechend dieser Terminliste stellten sich die Angehörigen der Basisorganisationen (Fabrikräte, Zonenräte, Kampf- und Stadtteilkomitees - manchmal traf man an der Basis sogar Wähler der Christdemokraten) vor den Postämtern in den betroffenen Stadtvierteln auf und gaben den Arbeitern Flugblätter in die Hand, auf denen diese lesen konnten, wie die „autoriduzione" der Elektrizitätsgebühren funktionierte. Die Arbeiter verwandten dabei die von den Gewerkschaften oder den Kampfkomitees vorbereiteten Formulare. Manchmal kam es zu bemerkenswerten Szenen, z. B. als Polizisten, um der zu erwartenden Erregung im Postamt zuvorzukommen, selbst zum Gewerkschaftsbüro gingen, um sich Flugblätter und Formulare geben zu lassen.

Nach wenigen Wochen waren es in Turin und in Piemont ungefähr 150 000 Familien (die Schätzungen bewegen sich zwischen 120000 und 180000), die die Höhe ihrer Elektrizitätsrechnung selbst bestimmten. In den meisten Fällen handelte es sich um Arbeiterfamilien, aber es waren darunter auch Familien des Kleinbürgertums - der berühmten Mittelklassen. Sie gaben diesem Massenkampf eine Dimension von Klassenallianz. In dieser breiten Form blieb die Bewegung allerdings auf Piemont beschränkt.

Im übrigen Italien wurden in Tarento, Varese, Mailand und Rom einige 10000 Rechnungen reduziert. In Mailand und Rom wurde dagegen eine Ausbreitung der Bewegung durch das „Bremsen" der nationalen Gewerkschaftsführungen (indirekt durch die politischen Parteien, insbesondere die KPI) verhindert. In Mailand gelang es der extremen Linken, trotz ihrer Isolierung, erfolgreich für die Reduktion einiger 10000 Rechnungen zu mobilisieren. Im Veneto war die „autoriduzione"-Bewegung, zunächst bei den Verkehrsmitteln, dann beim Strom, sehr stark. Hier wurde die Entwicklung der Bewegung ermöglicht durch die Arbeit der Linken in der CISL und die Unterstützung seitens der CGIL, die das dank eines gewissen Spielraums gegenüber der nationalen Führung tun konnte. In Neapel wurden mehr als 60000 Stromrechnungen reduziert. Dieses Ergebnis ist noch beachtlicher, wenn man sich vor Augen hält, daß hier die Kampfkomitees der Stadtteile die Bewegung unabhängig von den Gewerkschaften organisieren mußten. Die gewerkschaftliche Bewegung in Turin und die „spontane" in Neapel waren die beiden Pole der Bewegung zur Reduktion der Stromgebühren in Italien. Alles in allem aber weitete die Bewegung sich nicht so aus, wie dies die Turiner Gewerkschafter erhofft hatten. Das Zusammentreffen von linken Gewerkschaften, die relativ unabhängig von der nationalen Führung waren, mit einer politischen Linken, die auf diese Gewerkschaften und die in den Stadtteilen organisierten Basiseinheiten Druck ausübte, sowie die Unterstützung der lokalen KPI, haben die Entwicklung der Bewegung in Turin sehr gefördert.

Doch der spezifische Charakter der gewerkschaftlichen und politischen Situation in Turin bedingte auch die Isolation der Bewegung: wenn auch die Turiner Entwicklung andere Bewegungen dieser Art in Italien beeinflußte und so wichtige Diskussionen einleitete, so gelang es ihr doch nie, ein politisches Kräfteverhältnis zu schaffen, das dazu geführt hätte, daß die „autoriduzione" auch von den Spitzen der nationalen Gewerkschaftsverbände und der Parteien als Aktionsform angenommen worden wäre.

Die von der KPI vorgetragene Kritik und das Schweigen der Gewerkschaftsführungen führten schnell zu einer Polarisierung der national geführten Diskussion in Befürworter und Gegner der „autoriduzione". Für die KPI war Turin eine Ausnahme: die nationale Führung der Partei war gegen die „autoriduzione" und übte innerhalb der CGIL in diesem Sinne Druck aus, informierte in ihrer Presse kaum über die Kämpfe und beschuldigte die CISL, beispielsweise in Mailand von „Linksradikalen" geführt zu werden, die die traditionell christdemokratische politische Linie der CISL verrieten.

Die KPI äußerte sich zur „autoriduzione"-Bewegung nur, um den „abenteuerlichen" Charakter ihrer Kampfformen zu kritisieren. Hier handele es sich keineswegs um Kampfformen der Arbeiterklasse. Ihre zentrale, in verschiedenen Variationen immer wieder vorgebrachte These lautete: Arbeiter handeln nicht „illegal". Die Kampfform der Arbeiterklasse sei der Streik. Die Kämpfe um „autoriduzione" könnten nur von „Linksradikalen" geführt und ausgenützt werden, entweder offen oder unter einem gewerkschaftlichen Deckmantel (z. B. dem der CISL in Turin und Mailand). Einige Führer der KPI äußerten eine politischere, differenziertere Kritik, nicht um der Polemik willen, sondern um auf wirkliche Probleme hinzuweisen: auf der Ebene der Preise eine Auseinandersetzung zu führen, stoße auf große Schwierigkeiten; schließlich fehle hier die Kampferfahrung der Arbeiterklasse; außerdem seien diese Kampfformen nicht verallgemeinerbar usw. Manchmal war die Kritik an der Bewegung nur indirekt: in der KPI-Presse wurde die besondere Kampfform der Bewegung verschwiegen, und man las nur die Kampfforderungen: Nein zur Erhöhung der Strompreise, Nein zur Verteuerung der Leistungen des öffentlichen

Dienstes. Dieses Verwischen der Aktionsformen gegenüber den Aktionszielen fand sich auch in der Haltung der Gewerkschaften auf nationaler Ebene. Die Abneigung der KPI gegen die „autoriduzione", die Weigerung, sich mit der konkreten Bewegung, die auf ihre Forderungen reduziert wurde, auseinanderzusetzen, stützte sich auf eine Argumentation, der eine bestimmte Vorstellung vom Staat und dem öffentlichen Dienst zugrundeliegt: die „autoriduzione" und die Strategie des „zivilen Ungehorsam", zu der erstere massenhaft führen könne, würden dazu beitragen, die Auflösung des Staates und die Krise seiner Institutionen zu verstärken. In einer Situation, in der die Rechte ihre ganze Kraft einsetze, um den Staat und seine Institutionen zu schwächen (gemeint ist die von der Rechten verfolgte „Strategie der permanenten Spannung"), könne eine derartige Bewegung politisch nur zu einer Schwächung der Institutionen beitragen. Außerdem könne eine derartige Bewegung angesichts der aktuellen Krise des öffentlichen Dienstes in Italien - sozialer Wohnungsbau, öffentliche Verkehrsmittel, Post usw. - dessen Auflösung nur beschleunigen.

Es kann keinen Zweifel darüber geben, daß die „autoriduzione" in sich den Keim einer scharfen Kritik an der Vorstellung des öffentlichen Dienstes bzw. des Staates als einer politisch neutralen, technischen Institution im Dienste eines jeden Bürgers ohne politische und ideologische Abhängigkeiten und Verbindungen trägt. Angesichts der wirtschaftlichen Krise Italiens aber zeigte die KPI die feste Absicht, die Krise in den Griff zu bekommen, was sich politisch in der Strategie des „historischen Kompromisses" ausdrückte.

Die Diskussionen um die „autoriduzione" fanden nur noch in den Gewerkschaften statt. Vor allem zwischen den Turiner Gewerkschaften, die der Bewegung eine nationale Dimension geben wollten, und den italienischen Gewerkschaftsspitzen. Alle drückten auf die eine oder andere Weise ihre Ablehnung oder zumindest ihr Mißtrauen gegenüber der Turiner Bewegung aus.

Bestenfalls schweigende Gewerkschaftsverbände und eine offen auf der Seite der Gegner stehende KPI: die in Turin Kämpfenden fühlten sich, je näher die zweite Phase der Bewegung rückte (Mitte Dezember wurden die ersten Rechnungen erwartet), immer isolierter. Die politische Situation war wesentlich ungünstiger als Anfang Oktober: die Gewerkschaftsverbände bremsten oder wollten zumindest eine Bewegung nicht ausweiten, in der Turin das einzige und damit isolierte Beispiel war; hinzu kam der Druck der Gewerkschaftsspitzen auf die Turiner Regionalleitung. Eine neue Mitte-Links-Regierung schien die Frage schnell und entschlossen durch die Aufnahme von Verhandlungen klären zu wollen.

Außerdem befand sich das Land in einer tiefen Wirtschaftskrise. FIAT führte für viele seiner Arbeiter Kurzarbeit ein.

In dieser Situation nahmen die Gewerkschaftsführer Verhandlungen mit der Regierung auf. Die nationalen Gewerkschaftsverbände begrüßten das, weil sie einen Schlußstrich unter die „autoriduzione"-Be-wegung ziehen wollten. Aber auch in Turin sah man dies jetzt ähnlich. Viele fürchteten ein Auseinanderbröckeln der Bewegung und eine Niederlage mit den absehbaren schweren politischen Folgen: eine endgültige Ablehnung der zum Einsatz gebrachten Kampfformen. Die Verhandlungen zwischen Regierung und Gewerkschaftszentralen führten sehr schnell (20. Dezember 1974) zu einem Ergebnis. Die Erhöhung für die Verbraucher wurde durchschnittlich um ungeführ 20 % zurückgenommen. Mit der Unterzeichnung des Vertrags akzeptierten die Gewerkschaften, daß der Betrag, der während der „autoriduzione" nicht bezahlt worden war, den Elektrizitätsunternehmen rückerstattet wurde. Erleichterungen der Zahlungsmodalitäten, z. B. Ratenzahlungen, wurden vereinbart.

Die Übereinkunft vom 20. Dezember bedeutete eine klare Spaltung: Avanguardia Operaia und besonders Lotta Continua forderten dazu auf, die „autoriduzione" fortzusetzen; PdUP-Manifesto, die Gewerkschaftslinke und die parlamentarische Linke, die weiterhin einen großen Einfluß in den Turiner Gewerkschaften hatten, forderten dagegen die Einstellung der „autoriduzione".

4. Schlußbemerkung

Aus der Turiner Bewegung (wie auch aus der weniger starken und weniger gut organisierten Bewegung im übrigen Italien) lassen sich verschiedene politische und theoretische Lehren ziehen. Zunächst zum Verhältnis von Arbeiterkämpfen und sozialen (oder ur-banen) Kämpfen: die „autoriduzione", vor allem die Turiner Bewegung zur Reduktion der Strompreise, kehrte die „klassische" Problematik des Verhältnisses von Arbeiterbewegung und Stadtkämpfen um. Letztere galten immer als sekundäre Fronten des Klassenkampfes, die sich den Fabrikkämpfen immer unterzuordnen hatten. Das Bild für diese Sichtweise ist das vom Übergreifen des Klassenkampfes von der Fabrik auf die Stadt.

Stadtkämpfe entwickelten sich zudem immer in einem genau bestimmten Bereich — z. B. dem sozialen Wohnungsbau — und oft mit der gleichen Kampfform, z. B. der Besetzung. Sehr häufig bewegten sie sich in den vom Zyklus Besetzung, Räumung, Besetzung, Räumung usw. gezogenen Grenzen. Vor allem aber hatten diese häufig eher von einer subproletarischen als von einer proletarischen Basis getragenen Kämpfe keine Beziehung zu den Arbeiterkämpfen. Erst die Fahrpreisbewegung und mehr noch die Mobilisierung gegen die Erhöhung der Strom gebühren änderten das. Die „autoriduzione"-Bewegung bringt die klassische Trennung zwischen den den Fabrikkämpfen untergeordneten Stadtkämpfen und den autonomen, isolierten, allein von Linken geführten Stadtkämpfen zu Fall. Sie zeigt die Möglichkeit eines gemeinsamen Kampfes. Sie ist das erste konkrete Resultat der theoretischen und praktischen Vorstellungen der außerparlamentarischen Gruppen Italiens. Die Verbindung bilden die Gewerkschaften, die die „autoriduzione"-Bewegung entscheidend geprägt haben. Sie sind der Schlüssel zur Analyse der Turiner Bewegung. Einerseits, weil es ihre Initiative war, andererseits weil sie der Bewegung die organisatorische Unterstützung gaben, ohne die der Kampf niemals die genannten Ausmaße erreicht hätte. So ermöglichten es die Arbeitergewerkschaften der „autoriduzione"-Bewegung, sich breit zu entfalten, während die Rolle der politischen Parteien immer sekundär blieb und die Verbraucherorganisationen und -gewerk-schaften - ausgenommen die SUNIA, die in den Stadtteilen eine gewisse Rolle spielte — überhaupt nicht in Erscheinung traten. Ohne Intervention der Gewerkschaften wäre die Bewegung klein und isoliert geblieben. Welche Umstände aber ermöglichten die gewerkschaftliche Intervention? Wir sehen im wesentlichen drei Faktoren. Der erste hat mit der Besonderheit Turins als einer Arbeiterstadt zu tun, deren Lebensrhythmus von FIAT und den dort stattfindenden Auseinandersetzungen bestimmt wird.

Zweitens spielte es eine Rolle, daß die italienischen Gewerkschaften auf nationaler Ebene eine große Tradition der Intervention in soziale Kämpfe haben, z. B. die nationalen Streiks zur Wohnungsfrage (1969) oder die Unterstützung zahlreicher Hausbesetzungen durch die FLM. Die „autoriduzione"-Bewegung in Turin war ein neuer Schritt auf dem Weg der Intervention der Gewerkschaften in die sozialen Kampfe. Hier ging es nicht mehr um die politisch-symbolische Unterstützung der Stadtkämpfe durch die Arbeiterbewegung, um damit ein für die Durchsetzung der gestellten Forderungen günstigeres Kräfteverhältnis zu erzielen, sondern die Gewerkschaften organisierten unmittelbar für den Kampf um ein bestimmtes Ziel. In Turin taten die Gewerkschaften den Schritt von einer indirekten Intervention in die sozialen Kämpfe zu einer direkten Intervention, die eine beträchtliche Erweiterung der urbanen Bewegung ermöglichte.

Drittens spielte die wirtschaftliche Krise Italiens eine entscheidende Rolle. In Zeiten der Überproduktion, der Arbeitslosigkeit oder der drohenden Arbeitslosigkeit werden die herkömmlichen Waffen der Arbeiterklasse stumpf. Streiks und andere Kämpfe gegen Verschärfung der Taktzeiten und Produktivitätssteigerung können nur noch schwer weiterentwickelt werden. Die berechtigte Angst vor Kurzarbeit, Aussperrung (wie bei FIAT im Dezember 1974) und Verlust des Arbeitsplatzes schwächt die Position der Arbeiter. Der Kampf um die Erhaltung der Arbeitsplätze wird zum entscheidenden Thema in den Fabriken. Hinzu kommt der Kampf zur Verteidigung eines von starker Inflation und massiven Gebührenerhöhungen für öffentliche Dienstleistungen bedrohten Lohnes, der nicht allein in den Fabriken geführt werden kann. Es geht nicht nur darum, in den Fabriken um Lohnerhöhungen zu kämpfen, sondern ebenso darum, die bedrohte Kaufkraft auch im Konsumbereich zu verteidigen. Andernfalls verliert man mit der einen Hand das, was man mit der anderen eingenommen hat.

Mit dem Ziel der Verteidigung der Kaufkraft können sich die Kämpfe auf breiter Basis entfalten. Angestellte, Beamte (die dabei sind, mit der Vorstellung vom „neutralen", jenseits der Klassenkonflikte stehenden Staatsdienst zu brechen), Lehrer usw. haben bei der Bewegung zur „autoriduzione" der Stromgebühren mitgemacht. Daß sich an diesem Kampf unterschiedliche Klassen beteiligten und daß deren Beteiligung auf die Initiative der Arbeitergewerkschaften zurückging und auf der Basis direkter Aktionen zustande kam, die bis dahin nur von aktiven Minderheiten betrieben worden waren, machte ein weiteres wichtiges Element dieser Kämpfe aus. Die „autoriduzione" stellte beinahe immer unmittelbar den Staat, die öffentliche Gewalt, in Frage. Eine ihrer wesentlichen Dimensionen lag in der politischen Idee, deren Instrument sie war: der Idee von einer gesellschaftlichen Kontrolle der sogenannten „kollektiven Konsumtion", dem Ziel „politischer" Preise für die öffentlichen Dienstleistungen. Das aber widersprach direkt den Vorstellungen vom „kostendeckenden Preis" für öffentliche Dienstleistungen. Die „autoriduzione" ist im Privatsektor viel schwieriger durchzusetzen, denn hier stehen die Interessen der einzelnen Kapitalisten auf dem Spiel, und der repressive Staatsapparat interveniert, wenn er durch eine Verletzung des Privateigentums dazu legitimiert ist, immer besonders schnell. Der breite Kampf um „autoriduzione" entwickelte sich deshalb vor allem in den vom Staat kontrollierten Sektoren der Wirtschaft, zu einem Zeitpunkt, da der Staat sich in einer Krise befand und nicht fähig war, mit seinen Widersprüchen fertig zu werden.

Anmerkungen

1) Die Wohnungen sollten nur eine Nacht lang besetzt werden. Einige der Haus-besetzer, die länger als 24 Stunden blieben, wurden - ohne Zwischenfälle -von der Polizei zum Verlassen der Gebäude gezwungen.

2) In Palermo z. B. ging es anders zu. Hier praktizierten Studenten die „autoriduzione" wesentlich weniger legalistisch: sie demolierten die Fahrscheinautomaten und ermöglichten so kostenlose Fahrten.

3)CISL = Confederazione Italiana Sindicati Lavoratori (christdemokratisch orientierter Gewerkschaftsbund); CGIL = Confederazione Generale Italiana de Lavoro (der KPI nahestehender Gewerkschaftsbund); UIL = Unione Italiana del Lavoro (sozialdemokratisch orientierter Gewerkschaftsbund) (Anm. d. Hrsg.).

4) Bei der ersten dieser Gesellschaften handelt es sich um ein staatliches, bei der zweiten um ein städtisches Unternehmen (Anm. d. Hrsg.).

Editorische Hinweise

Den Aufsatz scannten wir  aus Margit Mayer, Roland Roth, Vorkhard Brandes (Hrsg): Stdkrise und soziale Bewegungen, Ffm 1978, S. 177-193