Ende
der fünfziger Jahre kam es zu einer Neuaktivierung der
Arbeiter- und demokratischen Bewegung. Die deutsche
Bourgeoisie konnte auf die Dauer mit den spärlichen
Ergebnissen der ansonsten gescheiterten Revolution sich
nicht zufrieden geben. Sie benötigte die Herstellung
eines einheitlichen, auch politisch verfaßten
Wirtschaftsgebietes und Zugang zu politischen
Entscheidungen zumindest in dem Maße, das zur
Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen Interessen
erforderlich war. Allerdings bestand keine Klarheit
darüber, in welchen Formen diese Ziele angestrebt werden
sollten, ob die Einheit unter preußischer Führung und
unter Äusschluß Österreichs (kleindeutsche Lösung)
verwirklicht werden oder der preu-ßisch-österreichische
Dualismus auch in das neue Staatsgebilde eingehen sollte
(großdeutsche Lösung). In der Verfassungsfrage herrschte
von Anfang an Unklarheit in der Frage des allgemeinen
Wahlrechts, hier traten Differenzen zwischen einer
liberalen und einer eher radikal-demokratischen Richtung
auf, wobei die erstere in hohem Maße mit den Anhängern
der kleindeutschen Lösung zusammenging.
1859 wurde von der liberalen Bourgeoisie zur
Förderung der deutschen Einheit der »Deutsche
Nationalverein« gegründet. Da der Mitgliedsbeitrag nicht
ratenweise gezahlt werden konnte, sondern jährlich
einmal entrichtet werden mußte, war Arbeitern der Zugang
kaum möglich. 1861 wurde in Preußen die liberale
Fortschrittspartei gegründet, welche bald in einen
schweren Konflikt mit der Krone über das Budgetrecht
geriet.
Die neubelebte bürgerliche Bewegung suchte sich des
Rückhalts der quantitativ anwachsenden Arbeiterklasse
durch die Initiierung von Arbeiter(-bildungs-)vereinen
zu versichern. Diese sollten die Arbeiter ideologisch an
die Bourgeoisie binden, andererseits ihnen Kenntnisse
vermitteln, welche in der Volksschule noch nicht gelehrt
wurden, aber zur Wahrnehmung von Arbeitsfunktionen in
der industriellen Produktion in wachsendem Maße
unerläßlich waren. Viele Arbeiter wurden Mitglieder in
den Arbeitervereinen und Arbeiterbildungsvereinen, teils
aus Interesse an den Bildungsstoffen, die ihnen das
öffentliche Schulwesen vorenthielt, teils aber auch
deshalb, weil unter den harten Bedingungen des
Vereinsrechts der einzelnen Länder diese Organisationen
ihnen ein gewisses Maß an Kommunikation sicherten.
Die liberale Bourgeoisie der preußischen
Fortschrittspartei und des Nationalvereins versuchte den
Arbeitern nicht nur eine ideologische, sondern auch eine
ökonomische Perspektive zu geben. Hermann
Schulze-Delitzsch propagierte die Gründung von
Sparkassen und von Konsumvereinen, die aus den
Ersparnissen ihr Startkapital beziehen könnten.
1862 schickte der Nationalverein zwölf Arbeiter zur
Londoner Weltausstellung. Nach ihrer Rückkehr
berichteten sie auf einer Berliner Arbeiterversammlung.
Dort wurde auch der Plan diskutiert, einen allgemeinen
deutschen Arbeitertag einzuberufen, dessen Vorbereitung
nach einiger Zeit einem dem Leipziger Arbeiterverein
»Vorwärts« nahestehenden, aus öffentlichen Versammlungen
hervorgegangenen »Zentralkomitee« übertragen wurde. Bald
entstanden Differenzen in den einzelnen Zentren der
Arbeitervereine (Leipzig, Berlin, Nürnberg, Hamburg)
über Schulze-Delitzschs Genossenschaftspläne, das
Verhältnis von Unternehmern und Arbeitern (insbesondere
über die Frage, inwieweit Nicht-Lohnabhängige als
»Arbeiter« gelten könnten) sowie das Problem des
allgemeinen Wahlrechts, über welches die Liberalen sich
nicht klar äußerten. Zur theoretischen Klärung dieser
Konfliktpunkte wandte sich das Leipziger Zentralkomitee
an den in Berlin lebenden Publizisten Ferdinand Lassalle
mit der Bitte um eine Stellungnahme.
Ferdinand Lassalle (1825-1864)(5) hatte an der
Revolution 1848 im Rheinland teilgenommen, war den
Zeitgenossen bis dahin aber vor allem bekannt als Anwalt
der Gräfin Hatzfeld in einem skandalträchtigen
Scheidungsprozeß. Im preußischen Verfassungsstreit
zwischen Bismarck und den Liberalen stand er auf der
Seite der Fortschrittspartei, aber mit einer eigenen
Konzeption. Er versuchte, die politischen Interessen des
Proletariats als treibende Kraft der demokratischen
Bewegung zu definieren - so in seinem 1862 publizierten
»Arbeiterprogramm«, das er in einem Vortrag vor den
liberal orientierten Maschinenbauarbeitern der
Oranienburger Vorstadt (bei Berlin) entwickelt hatte,
und erklärte, Gegenstand des Konflikts dürfe im
Interesse der Fortschrittspartei nicht die
Interpretation der oktroyierten Verfassung von 1848
sein, sondern die Schaffung neuer Machtverhältnisse,
welche eine Neuformulierung der rechtlichen Grundlagen
zugunsten der demokratischen Bewegung ermögliche.
Lassalle antwortete dem Leipziger Komitee in seinem
»Offenen Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur
Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses
zu Leipzig«.(6)
Hier erklärte er, die preußische Fortschrittspartei
habe sich im Verfassungsstreit als inkonsequent
erwiesen. Deshalb müßten die Arbeiter eine eigene Partei
gründen. Deren Hauptzweck sei die Erkämpfung des
allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts. Sie müsse
der Fortschrittspartei gegenüber selbständig sein und
sie in Fragen des gemeinsamen Interesses
vorwärtsdrängen. (^Ausführlich nahm Lassalle zu
Schulze-Delitzschs Genossenschaftsplänen Stellung.
Produktivgenossenschaften seien zweifellos geeignet, den
Verfall des Handwerks aufzuhalten oder zu verlangsamen.
Doch stehe den Arbeitern kein Kapital zur Verfügung, um
solche Genossenschaften zu gründen. Konsumvereine seien
nicht geeignet, die materielle Lage des Proletariats
durch Verbilligung des Einkaufs - also durch eine
Steigerung des Reallohns - zu verbessern. Dem stehe das
»eherne Lohngesetz« entgegen, welches Lassalle in
folgender Weise formulierte:
"2. Das eherne ökonomische Gesetz, welches
unter den heutigen Verhältnissen, unter der Herrschaft
von Angebot und Nachfrage nach Arbeit, den
Arbeitslohn bestimmt, ist dieses: daß der
durchschnittliche Arbeitslohn immer auf den
notwendigen Lebensunterhalt reduziert bleibt, der in
einem Volke gewohnheitsgemäß zur Fristung der Existenz
und zur Fortpflanzung erforderlich ist. Dies ist
der Punkt, um welchen der wirkliche Tageslohn in
Pendelschwingungen jederzeit herum gravitiert, ohne
sich jemals lange weder über denselben erheben, noch
unter denselben hinunterfallen zu können. Er kann sich
nicht dauernd über diesen Durchschnitt erheben
- denn sonst entstünde durch die leichte, bessere Lage
der Arbeiter eine Vermehrung der Arbeiterehen und der
Arbeiterfortpflanzung, eine Vermehrung der
Arbeiterbevölkerung und somit des Angebots von
Händen, welche den Arbeitslohn wieder auf und
unter seinen früheren Stand herabdrücken würde.
Der Arbeitslohn kann auch nicht dauernd tief unter
diesen notwendigen Lebensunterhalt fallen, denn dann
entstehen Auswanderungen, Ehelosigkeit, Enthaltung von
Kindererzeugung und endlich eine durch Elend
erzeugte Verminderung der Arbeiterzahl.
Dieses Gesetz kann von niemand bestritten
werden. Ich könnte Ihnen für dasselbe ebenso viele
Gewährsmänner anführen, als es große und berühmte
Namen in der nationalökonomischen Wissenschaft
gibt, und zwara«* der liberalen Schule selbst,
denn gerade dieliberale ökonomische Schule ist es,
welche selbst dieses Gesetz entdeckt und nachgewiesen
hat.
Dieses eherne und grausame Gesetz, meine Herren,
müssen Sie sich vor allem tief in die Seele prägen und
bei allem Ihrem Denken von 'hinausgehen."(7)
Das Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer
bestimmte Lassalle durch seine Lehre vom
»Arbeitsertrag«: die Arbeiter erhielten nur denjenigen
Teil ihres Arbeitsprodukts, der durch das »eherne
Lohngesetz« bestimmt sei. Das Übrige eigne sich der
Unternehmer an. Um den ihnen rechtmäßig zustehenden
Arbeitsertrag zu erhalten, müßten sich die Arbeiter in
»Produktivassoziationen« (=
Produktionsgenossenschaften) zusammenschließen, da dort
der Unterschied zwischen Arbeitern und Unternehmern
aufgehoben sei. Diese Genossenschaften könnten
allmählich die gesamte Produktion eines Landes
bestimmen. Ihre Errichtung sei allerdings an die
Voraussetzung staatlichen Kredits (»Staatshilfe«)
gebunden, da die Arbeiter aus ihren Löhnen nicht die
nötigen Mittel für den Anfang aufbringen könnten. Die
Gewährung dieser Kredite entspreche der kulturfördernden
und Gerechtigkeit garantierenden Funktion, die der Staat
in der gesamten bisherigen Geschichte wahrgenommen
habe(8) und die durch die Einführung des allgemeinen
Wahlrechts wieder aktualisiert werden könne. Eine solche
Wahlreform werde erst den tatsächlichen Charakter des
preußischen Staates zum Ausdruck bringen, der ja zur
Mehrheit aus armen oder in gedrückten Verhältnissen
lebenden Menschen bestehe.(9)
Lassalles Konzeption, insbesondere das eherne
Lohngesetz und sein Staatsbegriff, ist in der Folgezeit
häufig von Marxisten kritisiert worden. Tatsächlich
müßte das eherne Lohngesetz in der von Lassalle
formulierten Fassung für alle Gesellschaften, nicht nur
für die kapitalistische, gelten und damit selbst die von
Lassalle geplante Reform vereiteln. An der Definition
der Momente, welche die Lohnhöhe konstituieren (Angebot
und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt oder die
Reproduktionskosten der Arbeitskraft), schieden sich von
Anfang an die Lassallesche und die in der gleichen Zeit
entwickelte Marxsche Theorie. Im Lassalleschen
Staatsbegriff wird der Staat als eine neutrale Instanz
begriffen, auf welche die einzelnen Bevölkerungsgruppen
mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts Einfluß neh-
men könnten. Dem widersprachen die Erfahrungen und
Urteile gerade der radikal demokratisch gesinnten
Zeitgenossen Lassalles angesichts der
prokapitalistischen Funktion des allgemeinen Wahlrechts
im bonapartistischen Frankreich. Lassalles Urteil, es
sei lediglich den »schlechten Wahlen« der Arbeiter
zuzuschreiben, wenn es zu reaktionären Wahlergebnissen
komme, verkannte ebenso die tatsächliche Sozialstruktur
etwa des damaligen preußischen Staates wie mögliche
Ursachen eines etwaigen konservativen Wahlverhaltens von
Lohnabhängigen. Die Lehre vom »Arbeitsertrag« ist durch
Marx noch 1875 einer scharfen Kritik unterzogen
worden.(10)
Unter den politisch interessierten deutschen
Arbeitern weckte Lassalles »Offenes Antwortschreiben«,
das im März 1863 vom Leipziger Zentralkomitee
mehrheitlich akzeptiert und veröffentlicht wurde, ein
sehr zwiespältiges Echo. Arbeiterversammlungen in
Leipzig, Hamburg und Solingen im März und April 1863
bekannten sich zu Lassalle.(11)
Eine Absage erhielt Lassalle von
Arbeiterversammlungen in Nürnberg und Berlin, auf denen
sich weiterhin die Konzeption der Fortschrittspartei und
des Nationalvereins halten konnte. Im Mai 1863 gewann
Lassalle große Arbeiterversammlungen in Rödelheim (bei
Frankfurt) und Mainz für sich. Die Mehrheit der
Mitglieder der Arbeitervereine in Deutschland blieb aber
noch an der liberalen Politik orientiert.
Die Minorität, welche sich während einer
Versammlungskampagne im Frühjahr 1863 zu Lassalle
bekannt hatte, erschien immerhin massiv genug, um den
Versuch einer Organisationsgründung auf der Basis der
Positionen des »Offenen Antwortschreibens« zu wagen. So
erfolgte am 23. Mai 1863 in Leipzig die Konstituierung
des »Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins« (ADAV) durch
zwölf Delegierte aus elf Städten (Barmen, Dresden,
Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt/Main, Hamburg, Harburg,
Köln, Leipzig, Mainz, Solingen). Sitz des Vereins wurde
Leipzig. Der Verband erhielt eine sehr straffe Struktur:
an seiner Spitze standen ein Präsident und ein
24köpfiger Vorstand, welche von der jährlich
stattfindenden Generalversammlung gewählt werden
sollten. Jedoch sollte die erste Amtszeit des 1863 zu
wählenden Präsidenten fünf Jahre dauern. Der Präsident
erhielt die Befugnis, Zeit und Ort der
Vorstandssitzungen festzusetzen, mußte den Vorstand aber
innerhalb von vier Wochen einberufen, wenn es dessen
Mehrheit verlangte. Der Kassierer hatte alle Ausgaben zu
tätigen, welche der Präsident anordnete. An der Spitze
der örtlichen Mitgliederschaften des ADAV standen
Bevollmächtigte, welche vom Vorstand ernannt wurden und
durch diesen auch jederzeit abgesetzt werden konnten.
Der Präsident konnte ihre vorläufige Suspendierung
aussprechen. Die Vorstandsmitglieder waren über ganz
Deutschland verteilt, so daß in Zukunft de facto die
Ernennung des Bevollmächtigten auf den Präsidenten
überging. Zum Präsidenten wurde Lassalle gewählt, doch
regte sich bereits auf der Gründungsversammlung und
danach in Hamburg und Harburg Opposition gegen die
starke Stellung des Präsidenten. Ende August 1863 hatte
der ADAV etwa 1000 Mitglieder.
Die Fortschrittspartei reagierte auf die Gründung des
»Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins« durch die
Zusammenfassung derjenigen Arbeiterbildungsvereine,
welche ihr verbunden blieben, zum »Verband deutscher
Arbeitervereine«. Eine führende Rolle spielte in dieser
Organisation, bei deren Gründung der Drechsler August
Be-bel (1840-1913) mitwirkte, der Frankfurter Bankier
Leopold Sonnemann. Die Fortschrittspartei hat in der
Folgezeit Lassalle scharf bekämpft. Teils wohl aufgrund
dieser Erfahrungen, teils in Auswertung der Tatsache,
daß die Fortschrittspartei je länger je mehr einem
positiven Bekenntnis zum allgemeinen Wahlrecht aus dem
Wege ging, vollzog Lassalle im Herbst 1863 eine
folgenreiche »taktische Wendung«:« er sah eine Aufgabe
des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins nicht mehr
darin, die Fortschrittspartei im preußischen
Verfassungsstreit nach vorn zu drängen und aus der
Bundesgenossenschaft mit ihr auch Unterstützung für die
Ziele des ADAV, allgemeines Wahlrecht und
Produktivassoziationen mit Staatskredit, zu gewinnen. Da
gerade in diesen beiden Punkten keine Übereinstimmung
mit den Liberalen zu erzielen sei, müsse der Allgemeine
Deutsche Arbeiterverein sich eine unabhängige Stellung
sowohl gegenüber der Fortschrittspartei als auch
gegenüber der preußischen Regierung sichern. In der
Folgezeit hat diese Wendung allerdings dazu geführt, daß
Lassalle in politischer Tuchfühlung mit dem preußischen
Ministerpräsidenten Bismarck stand. Er hat Gespräche mit
ihm geführt, ihm seine Schriften zusenden lassen und
Bismarck telegrafisch um Intervention gebeten, als der
Bürgermeister von Solingen, welcher der
Fortschrittspartei angehörte, eine seiner Versammlungen
auflöste.(13) Lassalle mochte bei diesem Verhalten, das
ihn teilweise kompromittierte, davon ausgehen, daß von
Bismarck das allgemeine Wahlrecht eher zu erlangen sei
als von den Liberalen. Diese Hoffnung war insofern
realistisch, als Bismarck zumindest fürs erste von einer
Wahlreform eine gefügige Kammermehrheit (vor allem durch
die Stimmen der Bauern und des politisch in seiner
Mehrheit - nach starker Aktivität in der Revolution
1848/49 - noch kaum in Bewegung geratenen ostelbischen
Landproletariats) erwarten konnte, während das aufgrund
des Dreiklassenwahlrechts zustandegekommene
Abgeordnetenhaus bis 1866 in Opposition zu ihm stand.
Lassalle starb am 31. August 1864 in einem Duell. Der
Allgemeine Deutsche Arbeiterverein zählte im Herbst
dieses Jahres 4610 Mitglieder. Er geriet nach Lassalles
Tod zunächst in eine Nachfolge-krise, in deren Verlauf
sich 1867 eine kleine Minderheit unter Führung der
Gräfin Hatzfeld als »Lassallescher Deutscher
Arbeiterverein« abspaltete. Diese neue Gruppierung hielt
besonders starr an Lassalles Statut fest und orientierte
sich deutlich an dem taktischen Konzept antiliberaler
Agitation und eines etwaigen Bündnisses mit Bismarck. Im
ADAV gewann bald der Chefredakteur des seit Dezember
1864 erscheinenden Verbandsorgans »Sozialdemokrat«,
Johann Baptist von Schwekzer (1834-1875), eine zentrale
Stellung.
Am »Sozialdemokrat« arbeiteten zunächst auch Marx,
Engels und Wilhelm Liebknecht (1826-1900) mit. Sie
trennten sich bereits im Februar 1865 von dieser
Zeitung, der sie vorwarfen, gegenüber Bismarck nicht
ebenso scharf Front zu machen wie gegenüber der
Fortschrittspartei. (14) Bei der Wahl des
Konstituierenden Norddeutschen Reichstags (Februar 1867)
gewann der ADAV kein Mandat, im regulären Norddeutschen
Reichstag (August 1867) dagegen zwei (in Hagen und in
Lennep-Mettmann). 1867 wurde Schweitzer Präsident des
»Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins«.
In dem Maße, in dem sich Mitte der sechziger Jahre
herausstellte, daß die Fortschrittspartei und der
Nationalverein sich auf eine kleindeutsche Lösung unter
preußischer Führung hinorientierten, sahen sich die
demokratischen Kräfte und die Liberalen, welche einen
deutschen Nationalstaat mit Einschluß Österreichs auf
demokratischer Grundlage anstrebten, zur Schaffung einer
eigenen politischen Organisation gezwungen. Sie
gründeten in Darmstadt die »Deutsche Volkspartei«, die
jedoch sehr schwach blieb und lediglich in Württemberg
eine relative Massenbasis besaß. Der Verband deutscher
Arbeitervereine löste sich allerdings von Nationalverein
und Fortschrittspartei und wandte sich der »Deutschen
Volkspartei« zu. 1866 schlossen sich die sächsischen
Arbeiterbildungsvereine unter Führung August Bebels zu
einem Gauverband zusammen. Er bildete die proletarische
Basis einer weiteren demokratischen Partei: der im
August 1866 gegründeten Sächsischen Volkspartei, die
sich selbst als Teil der Deutschen Volkspartei verstand.
Sie gewann 1867 bei der Wahl zum Verfassunggebenden
Norddeutschen Reichstag zwei Mandate (in
Glauchau-Meerane und in Zwickau-Crimmit-schau). Als im
August 1867 dann der reguläre Norddeutsche Reichstag
gewählt wurde, erhielt die Sächsische Volkspartei vier
Sitze. Der »Lassallesche Allgemeine Deutsche
Arbeiterverein« brachte ebenfalls einen Kandidaten
durch, so daß die drei Organisationen, welche eine
Arbeiterbasis hatten, unter Einschluß der zwei Sitze des
ADAV sieben Abgeordnete hatten.
Der ADAV und der Verband deutscher Arbeitervereine
setzten sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre
mit der neu beginnenden Gewerkschaftsbewegung
auseinander, die durch die Einführung der
Koalitionsfreiheit in Sachsen (1861), einen Setzerstreik
in Leipzig (1865) und andere Ausstände mächtig
vorangetrieben wurde. Wieder waren es die Drucker und
die Zigarrenmacher, die in der gewerkschaftlichen
Organisierung vorangingen. Die 7. Generalversammlung des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (1868) war nicht
bereit, Schweitzer und Friedrich Wilhelm Fritzsche, dem
führenden Mitglied des neuen Zigarrenarbeiterverbandes,
den Auftrag zur Einberufung eines Arbeiterkongresses,
auf dem die Gewerkschaftsfrage beraten werden sollte, zu
erteilen, da nach dem »ehernen Lohngesetz«
Arbeiterkoalitionen und Lohnkämpfe ohnehin sinnlos sein
mußten. Schweitzer dagegen ging davon aus, daß Streiks
und gewerkschaftliche Organisierung wichtige
Durchgangserfahrungen der Arbeiter auf dem Weg zum
politischen Kampf seien. Schweitzer und Fritzsche
beriefen in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete des
Norddeutschen Reichstags und mit Zustimmung der
Generalversammlung (welche ihre Ablehnung
gewerkschaftlicher Organisierung dadurch relativierte,
daß sie den Reichstagsabgeordneten Schweitzer und
Fritzsche erlaubte, was sie den ADAV-Funktionären
Schweitzer und Fritzsche versagte) für den September
1868 einen Arbeiterkongreß ein, auf welchem ein
»Arbeiterschaftsverband« gegründet wurde. Er sollte sich
aus mehreren »Arbeiterschaften« (= Berufsgewerkschaften)
zusammensetzen, doch sollte in ihm das dreiköpfige
Präsidium eine ähnlich bestimmende Rolle spielen wie der
Präsident im ADAV. Einige bereits bestehende
Gewerkschaften schlossen sich dem Arbeiterschaftsverband
an. Die Fortschrittspartei reagierte auf die Gründung
des Arbeiterschaftsverbandes mit der Schaffung von
wirtschaftsfriedlichen »Gewerkvereinen«, denen Arbeiter
und Unternehmer beitreten konnten. Sie haben als
»Hirsch-Dunckersche Gewerkschaften« bis 1933 eine
gewisse Rolle gespielt. August Bebel veröffentlichte im
»Demokratischen Wochenblatt«, dem gemeinsamen Organ des
»Verbandes deutscher Arbeitervereine« und der
»Sächsischen Volkspartei«, Musterstatuten für nicht
wirtschaftsfriedliche »Gewerkvereine«, welche besonderen
Wert auf starke Berufsgewerkschaften legten, die in sich
zentralisiert, jedoch nicht in einem starken Dachverband
zusammengefaßt waren.
In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre löste sich
der »Verband deutscher Arbeitervereine« allmählich von
der »Deutschen Volksparteii« (15) Eine wichtige Rolle in
diesem Prozeß spielte dabei sein Verhältnis zur 1864
gegründeten »Internationalen Arbeiterassoziation«(I.
Internationale). Der fünfte Vereinstag des
Verbandes deutscher Arbeitervereine übernahm 1868
zentrale Punkte des Statuts der Internationale.(16) Die
organisatorische Verselbständigung der Arbeitervereine
gegenüber der »Deutschen Volkspartei« wurde durch innere
Differenzierungen im ADAV beschleunigt. Dessen 8.
Generalversammlung hatte 1869 - offensichtlich gestützt
durch die Konkurrenz des »Verbandes deutscher
Arbeitervereine« - die Stellung des Vorstandes gegenüber
dem Präsidenten gestärkt.(17) Schweitzer versuchte diese
Schwächung seiner Position dadurch aufzuheben, daß er
eine Vereinigung mit der Hatzfeldschen Organisation
(welche sich zwischenzeitlich dem Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein noch einmal angeschlossen, sich bald aber
wieder von ihm getrennt hatte) herbeiführte und aus
diesem Anlaß die von der 8. Generalversammlung
beschlossene Statutenänderung suspendierte. Daraufhin
erließen einige opponierende Funktionäre des ADAV
zusammen mit der inzwischen von August Bebel geführten
Leitung des »Verbandes deutscher Arbeitervereine« und
drei Mitgliedern der Organisation Hatzfeldscher Richtung
einen Aufruf zu einem »Allgemeinen deutschen
sozialdemokratischen Arbeiterkongreß« am 7. und 8.
August 1869 in Eisenach. Hier wurde die
»Sozialdemokratische Arbeiterpartei« gegründet. Ihr
Programm(18) enthielt u. a. die Forderung nach dem
allgemeinen, direkten und geHeimen Wahlrecht und nach
Produktivgenossenschaften mit Staatskredit »unter
demokratischen Garantien«, jedoch noch keine Vorschläge
zur Eigentumsfrage. Die Sozialdemokratische
Arbeiterpartei (die sogenannten »Eisenacher«) hatte als
Leitung einen »Aus-schuß« in Braunschweig. Parteiorgan
wurde der aus dem »Demokratischen Wochenblatt«
hervorgegangene »Volksstaat« (nachmals »Vorwärts«). Der
Verband deutscher Arbeitervereine löste sich einen Tag
nach der Gründung der neuen Partei auf. Die nach Bebels
Musterstatuten organisierten, der Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei nahestehenden Gewerkschaften nannten sich
»Internationale Gewerksgenossenschaften«.
1869 war die Koalitionsfreiheit im Gebiet des
Norddeutschen Bundes eingeführt worden. 1870 bekannte
sich die Sozialdemokratische Partei zum Beschluß des
Baseler Kongresses der Internationalen
Arbeiterassoziation von 1869 über die Forderung nach der
Überführung von Grund und Boden in Gemeineigentum.(19)
Dies bedeutete die endgültige Trennung von der
ausschließlich radikaldemokratischen Programmatik der
»Deutschen Volkspartei«, die damit ihre Massenbasis
verlor und bald aufhörte zu bestehen.
Anfang 1870 beschieß die Generalversammlung des
Arbeiterschaftsverbandes auf Vorschlag Schweitzers gegen
sehr starke Widerstände die Auflösung der
Einzel-Arbeiterschaften und die Gründung eines
zentralisierten »Allgemeinen Unterstützungsverbandes«.
Diese Entscheidung mußte schon ein Jahr später zugunsten
der Möglichkeit, nach Bedarf Berufsgewerkschaften zu
gründen, abgeschwächt werden. Sie hatte auch
zwischenzeitlich nicht voll realisiert werden können.
Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei und der
Allgemeine Deutsche Arbeiterverein bekämpften sich in
der Folgezeit heftig. Beim Beginn des
deutsch-französischen Krieges 1870 nahmen sie eine
unterschiedliche Haltung ein: Während sich die
Abgeordneten der »Eisenacher« Partei, Bebel und
Liebknecht, in der Frage der Kriegskredite
(wahrscheinlich im Gegensatz zur Mehrheit der
Parteimitglieder, die den Krieg offenbar bejahten), der
Stimme enthielten da sie weder die französischen
Kriegstreiber noch den preußischen Despotismus
unterstützen wollten, stimmten die Abgeordeten des ADAV
dafür. Der Braunschweiger Ausschuß mißbilligte die
Empfehlung des von Wilhelm Liebknecht geleiteten
»Volksstaat«, in diesem Krieg nicht Partei zu ergreifen.
Als nach der Niederlage Napoleons III.
Preußen und die mit ihm verbündeten Staaten den
Krieg nunmehr auch gegen die neue Republik fortsetzten,
wandten sich der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und
die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gegen diese
Politik. Der Braunschweiger Ausschuß wurde durch
preußisches Militär verhaftet. Bei den Wahlen zum neuen
deutschen Reichstag (März 1871) erhielten beide Parteien
zusammen knapp 3 Prozent der Stimmen. Die Lassalleaner
hatten zwar mehr Stimmen, bekamen jedoch keines der
Direktmandate. (Es wurde nach dem absoluten
Mehrheitswahlrecht gewählt.) Die Sozialdemokratische
Arbeiterpartei brachte zwei Kandidaten durch. Einer von
ihnen, August Bebel, bekannte sich am 25. Mai 1871 im
Reichstag zu den Betrebungen der gerade niedergeworfenen
Pariser Kommune. 1871 erklärte Schweitzer seinen
Rücktritt vom Präsidentenamt des ADAV. Sein Nachfolger
wurde Wilhelm Hasenclever. Bei den Reichstagswahlen 1874
erzielten beide Parteien zusammen mehr als 6 Prozent der
Stimmen. Der ADAV gewann drei Mandate, die
Sozialdemokratische Arbeiterpartei sechs.
Beide Organisationen hatten sich auch nach der
Reichsgründung heftig bekämpft, waren aber auch
gleichermaßen staatlichen Repressionen ausgesetzt, unter
anderem Gefängnis- und Festungshaft für ihre führenden
Funktionäre. Im gewerkschaftlichen Bereich wirkte sich
dieSpaltung besonders schwächend aus. Diese Tatsachen
veran-laßten die Leitungen des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins und der Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei, Verhandlungen miteinander aufzunehmen,
welche auf dem Einigungskongreß von Gotha (22.-27. Mai
1875) zur Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei
Deutschlands führten. Die ADAV hatte zuletzt 15 322
Mitglieder, die SDAP 9121.(20)
Auch der Allgemeine Unterstützungsverband war noch
stärker als die Internationalen Gewerksgenossenschaften.
Der ADAV hatte seine Schwerpunkte während der ganzen
Zeit seines Bestehens in Norddeutschland gehabt, die
Sozialdemokratische Arbeiterpartei vor allem in Sachsen
und - in geringerem Maße - in Württemberg.
Das vom Einigungskongreß verabschiedete Gothaer
Programm (21) enthielt einige der Hauptthesen der
Lassalleaner, so die Forderung nach dem vollen
Arbeitsertrag, Produktivassoziationen mit Staatskredit
(wie ja auch das Eisenacher Programm von 1869), die
Nennung des »ehernen Lohngesetzes« sowie die von
Lassalle nicht explizit aufgestellte, aber in der
Tradition des ADAV insbesondere durch die Vermittlung
Schweitzers auf ihn zurückgeführte Behauptung, gegenüber
dem Proletariat seien alle anderen Klassen nur eine
reaktionäre Masse«. (22) Karl Marx und Friedrich Engels
haben das Gothaer Programm scharf kritisiert, zugleich
aber die Hoffnung ausgesprochen, daß die realen Kämpfe
der neuen Partei diese über die Unklarheiten ihres
Programms aufklären würden.
Die Sozialistische Arbeiterpartei war in der
Folgezeit harten staatlichen Verfolgungen ausgesetzt,
die bald über die Verhängung von Strafen gegen einzelne
Mitglieder hinausgingen, zunächst zu Teilverboten der
Organisationen führten und mit dem Sozialistengesetz
1878 ihren Höhepunkt erreichten.
Fußnoten
5) Zur Biographie und Politik Lassalles vgl. Shlomo
Na'aman, Lassalle, Hannover 1970.
6) Ferdinand Lassalle, Offenes Antwortschreiben
an das Zentralkomitee zur Berufung
eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu
Leipzig, Mit Anhang: Die französischen
Nationalwerkstätten von 1848, in: Ferdinand Lassalle,
Gesammelte Reden und Schriften, Herausgegeben und
eingeleitet von Eduard Bernstein, 12 Bde, Berlin 1919,
3. Bd., S. 39-107.
7) Ebd., S. 58 f.; Hervorhebungen durch Lassalle.
8) Ebd., S. 72 f.
9) Ebd., S. 77-81.
10) Karl Marx, Randglossen zum Programm der deutschen
Arbeiterpartei, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke.
Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der
SED. 39 Bde, Berlin 1964- 1968 (hinfort zitiert als:
MEW), Bd. 19, S. 15-32, hier: S. 18-21.
11) Zu Lassalles Kampagne vgl. Franz Mehring,
Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, 2 Bde, Berlin
1960, Zweiter Teil [= 2. Bd.]: Von Lassalles »Offenem
Antwortschreiben« bis zum Erfurter Programm, 1863 bis
1891, S. 7-156.
12) Ebd., S. 89-95.
13) Vgl. Ferdinand Lassalle, Die Feste, die Presse
und der Frankfurter Abgeordnetentag, Drei Symptome des
öffentlichen Geistes, Eine Rede, gehalten in den
Versammlungen des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins
zu Barmen, Solingen und Düsseldorf, in: Lassalle,
Gesammelte Reden und Schriften, a. a. O., 3. Bd., S.
333-402, hier: S. 395 f.
14) Karl Marx/Friedrich Engels,
Erklärung, MEW 16, S. 79; Marx an Engels in Manchester
[London,] 18. Febr.[uar 18] 65, MEW 31, S. 75-77, hier:
S. 75.
15) Hierzu vgl. Gustav Mayer, Die Trennung der
proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in
Deutschland, 1863-1870, in: Mayer, Radikalismus,
Sozialismus und bürgerliche Demokratie, a. a. O., S.
108-178.
16) Vgl. Programm des Verbandes deutscher
Arbeitervereine, angenommen auf dem Vereinstag in
Nürnberg am 6. September 1868, GdA l, S. 568 f.
17) Auf derselben Generalversammlung wurde auf Antrag
Schweitzers auch der enge Anschluß des ADAV an die
I. Internationale beschlossen,
vgl. Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie,
a. a. O., 2. Bd., S. 335. Korporative Mitgliedschaft von
ADAV oder Sozialdemokratischer Arbeiterpartei in der IAA
war wegen der Vereinsgesetze nicht möglich.
18) Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei,
in: Wolfgang Abendroth, ""Aufstieg und Krise der
deutschen Sozialdemokratie, Das Problem der
Zweckentfremdung einer politischen Partei durch die
Anpassungstendenz von Institutionen an vergebene
Machtverhältnisse, Frankfurt/Main 1964, S. 91 f.
19) Beschluß des Kongresses der Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei in Stuttgart zur Grund- und Boden-Frage,
angenommen am 6. Juni 1870, in: GdA l, S. 582.
20) Mehring, Geschichte der deutschen
Sozialdemokratie, a. a. O., 2. Bd., S. 451.
21) Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei
Deutschlands, in: Abendroth, Aufstieg und Krise der
deutschen Sozialdemokratie, a. a. O., S. 93 f.
22) Zur Entstehung dieses Schlagwortes vgl. Mehring,
Geschichte der deutschen So-J zialdemokratie, a. a. O.,
1. Bd., S. 211.
Editorische Hinweise
Der Leseauszug stammt aus: v. FReyberg u.a.,
Geschichte der deutschen Sozialdemokratie 1863-1975,
Köln 1977, S. 15-28
OCR-Scan red. trend
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