TREND Serie zum 200. Geburtstag

Engels' Kriegsaufsätze*

von Leo Trotzki

05/2020

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Redaktionelle Hinweise

Der Aufsatz erschien wenige Monate nach Lenins Tod am 21.1.1924 zu einem Zeitpunkt, wo die parteiinternen Kämpfe um die "richtige" Linie für den Aufbau des Sozialismus deutlich zunahmen.  Dabei wurde Trotzki zum Gegner des Dreierbündnisses Sinowjew, Kamenjew und Stalin, die ihrerseits Trotzkis "Irrtümer" überall verbreiteten. Gegen deren Polemiken setzte Trotzki auf seine theoretische Autorität - so auch in militärhistorischen Fragen, um sich als Amtsleiter des Kriegskommisariats weiterhin für unabkömmlich darzustellen.

Ein Jahr später wurde er dieses Amtes enthoben. 1926 verlor er sein Mandat im Politbüro und wurde 1927 aus der KPdSU ausgeschlossen. (siehe dazu z.B. Victor Serge, Leo Trotzki - Leben und Tod)

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Das Buch von Friedrich Engels ist in seinem Hauptteile eine analytische Chronik des deutsch-französischen Krieges 1870/71. Es sind Aufsätze, die in der englischen Zeitung „Pall Mall" während der Kriegsereignisse veröffentlicht wurden. Hieraus ergibt sich schon, dass der Leser nicht darauf rechnen kann, in diesen Aufsätzen eine Art Monographie des Krieges oder irgendeine systematische Darstellung der Theorie der Kriegskunst zu finden. Nein, Engels Aufgabe bestand darin, ausgehend von der allgemeinen Einschätzung der Kräfte und Mittel der beiden Gegner und die Art der Verwendung dieser Kräfte und Mittel von Tag zu Tag verfolgend, dem Leser behilflich zu sein, sich im Verlauf der militärischen Operationen zurechtzufinden und sogar den sogenannten Vorhang der Zukunft von Zeit zu Zeit ein wenig zu lüften. Militärische Artikel dieser Art füllen wenigstens zwei Drittel des Buches. Das übrige Drittel besteht aus Aufsätzen, die den einzelnen speziellen Gebieten des Kriegshandwerks, wiederum im engsten Kontakt mit dem Verlauf des deutsch-französischen Krieges, gewidmet sind: „Wie muss man gegen die Preußen kämpfen",„Die Prinzipien der preußischen Armee-Organisation", „Saragossa-Paris", „Apologie eines Imperators", u. a. m. Es ist klar, dass man ein Buch dieser Art nicht wie die andern, rein theoretischen Werke von Engels lesen und studieren kann. Um die in diesem Buche enthaltenen Gedanken und Schätzungen konkreter, faktischer Art vollkommen zu verstehen, muss man alle Operationen des deutsch-französischen Krieges Schritt für Schritt auf der Karte verfolgen und dabei auch die Gesichtspunkte berücksichtigen, die in der neuesten kriegshistorischen Literatur niedergelegt sind. Eine derartige kritisch-wissenschaftliche Arbeit kann natürlich nicht die Aufgabe des Durchschnittslesers sein:sie erfordert militärische Vorkenntnisse, großen Zeitaufwand und besonderes Interesse für dieses Gebiet. Wäre ein solches Interesse aber gerechtfertigt? Wir meinen – ja. Es rechtfertigt sich vor allem vom Gesichtspunkte der richtigen Bewertung des militärischen Niveaus und des militärischen Scharfblicks von Friedrich Engels selbst. Eine gründliche Durcharbeitung des äußerst knappen Engels'schen Textes, der Vergleich seiner Urteile und Prognosen mit den gleichzeitigen Urteilen und Prognosen der damaligen militärischen Autoren würde auf ein großes Interesse rechnen können und nicht nur ein wertvoller Beitrag für die Biographie von Engels sein – seine Biographie aber ist ein wichtiges Kapitel in der Geschichte des Sozialismus –, sondern auch eine äußerst treffende Illustration zu der Frage der Wechselbeziehungen zwischen dem Marxismus und dem Kriegshandwerk.

Von Marxismus oder Dialektik spricht Engels in allen diesen Aufsätzen kein Wort; das ist nicht weiter erstaunlich, da er für eine erz-bürgerliche Zeitung anonym schrieb und das zu einer Zeit, wo der Name Marx noch wenig bekannt war. Aber nicht nur diese äußeren Ursachen veranlassten Engels, sich aller allgemein-theoretischen Erörterungen zu enthalten. Wir dürfen überzeugt sein, dass, selbst wenn Engels damals die Möglichkeit gehabt hätte, die Kriegsereignisse in einer revolutionär-marxistischen Zeitung zu besprechen – mit einer weit größeren Freiheit in der Äußerung seiner politischen Sympathien und Antipathien –, er dennoch wohl kaum anders an die Analyse und Bewertung des Verlaufes des Krieges herangetreten wäre, als er es in der „Pall Mall Gazette" getan hat. Engels brachte in das Gebiet der Kriegswissenschaft keine abstrakte Doktrin von außen hinein und stellte keinerlei von ihm neu entdeckte taktische Rezepte als Universalkriterien auf. Ungeachtet aller Knappheit der Darstellung sehen wir doch, mit welcher Aufmerksamkeit der Autor alle Elemente des Kriegshandwerks behandelt, von dem Umfang des Territoriums und der Bevölkerungszahl in den beteiligten Ländern an bis zu biographischen Nachforschungen über die Vergangenheit des Generals Trochu, zu dem Zweck, dessen Methoden und Gewohnheiten besser kennenzulernen. Man fühlt hinter diesen Aufsätzen eine ungeheure vorangegangene und fortlaufende Arbeit. Engels, der nicht nur ein tiefer Denker, sondern auch ein ausgezeichneter Schriftsteller war, tischt dem Leser kein Rohmaterial auf. Das könnte den Eindruck des Flüchtigen bei einigen seiner Bemerkungen und Verallgemeinerungen erwecken. In Wirklichkeit ist dem nicht so. Die von ihm geleistete kritische Bearbeitung des empirischen Materials ist ungeheuer weitgehend. Das erkennt man schon daran, dass der weitere Verlauf der Kriegsereignisse die Engels'schen Prognosen wiederholt bestätigt hat. Wir brauchen nicht daran zu zweifeln, dass ein eingehendes Studium dieser Arbeit von Engels in dem erwähnten Sinne seitens unserer jungen Kriegstheoretiker noch mehr erweisen würde, mit welch großem Ernst Engels die Kriegsführung als solche behandelte.

Aber auch bei denen, die das Buch eben lesen und nicht studieren werden – und das wird die überwiegende Mehrheit auch unter den Militärs sein –, wird dieses Werk von Engels großes Interesse erwecken, nicht wegen seiner analytischen Darstellung der einzelnen militärischen Operationen, sondern durch die allgemeine Einschätzung des Verlaufs des Krieges und durch die Urteile auf den einzelnen militärischen Gebieten, die an vielen Stellen seiner Kriegschronik verstreut und zum Teil, wie bereits gesagt, auch in ganzen Aufsätzen behandelt sind. Die alte Idee der Pythagoreer, dass die Welt von der Zahl regiert werde – in realistischer und nicht mystischer Deutung dieses Worts –, lässt sich besonders gut auf den Krieg anwenden. Vor allem – die Zahl der Bataillone. Dann die Zahl der Gewehre, die Zahl der Geschütze werden quantitativ ausgedrückt: durch die Reichweite der Schusswaffe, durch die Treffsicherheit. Die moralischen Eigenschaften der Soldaten kommen in der Fähigkeit zum Ausdruck, längere Märsche zu ertragen, längere Zeit unter dem feindlichen Feuer auszuhalten usw. Je weiter man jedoch auf dem Gebiet vordringt, desto komplizierter wird die Frage. Anzahl und Charakter der Ausrüstung hängt von dem Zustande der Produktionskräfte des Landes ab. Die Zusammensetzung der Armee und ihres Kommandobestandes ist durch die soziale Struktur der Gesellschaft bedingt. Der administrative Verpflegungsapparat hängt von dem allgemein-staatlichen Apparat ab, der durch das Wesen der herrschenden Klasse bestimmt wird. Die Moral der Armee hängt vom Verhältnis der Klassen zueinander ab, von der Fähigkeit der regierenden Klasse, die Aufgaben des Krieges zu subjektiven Zielen der Armee zu machen. Der Grad der Fähigkeit und Begabung des Kommandobestandes hängt wiederum von der historischen Rolle der regierenden Klasse ab, von ihrer Fähigkeit, die besten schöpferischen Kräfte des Landes auf ihre Ziele zu konzentrieren, und diese Fähigkeit wieder hängt davon ab, ob die herrschende Klasse eine fortschrittliche historische Rolle spielt oder ob sie sich überlebt hat und nur um ihre Existenz kämpft. Wir haben hier nur die grundlegenden Zusammenhänge und überdies nur schematisch aufgedeckt. In Wirklichkeit ist die Abhängigkeit der verschiedenen Gebiete der Kriegsführung von einander und aller dieser Gebiete zusammengenommen von den verschiedenen Seiten der sozialen Gesellschaftsordnung viel verwickelter und detaillierter. Auf dem Schlachtfelde resümiert sich das alles letzten Endes in der Zahl der einfachen Soldaten, den Befehlshaber, der Toten und Verwundeten, Gefangenen und Deserteure, in der Größe des eroberten Territoriums und in der Zahl der Trophäen. Aber wie lässt sich das Endergebnis voraussehen? Wenn es möglich wäre, im Vorhinein alle Elemente einer Schlacht und eines Krieges genau zu registrieren und zu bestimmen, dann gäbe es überhaupt keinen Krieg, denn niemandem würde es einfallen, einer im Vorhinein festgestellten Niederlage entgegenzugehen. Aber von einer solchen genauen Voraussicht aller Faktoren kann keine Rede sein. Nur die unmittelbarsten materiellen Elemente des Krieges lassen sich in Zahlen ausdrücken. Soweit es sich aber um die Abhängigkeit der materiellen Elemente der Armee von der Wirtschaft des Landes in ihrer Gesamtheit handelt, wird eine Einschätzung und also auch die Voraussicht schon viel bedingteren Wert haben. Das gilt besonders von den sogenannten moralischen Faktoren: von dem politischen Gleichgewicht im Lande, von der Ausdauer der Armee, der Haltung des Hinterlandes, von der koordinierten Arbeit des Staatsapparats, der Begabung der Befehlshaber usw. Laplace sagt, dass ein Intellekt, der imstande wäre, alle im Weltall sich ereignenden Prozesse zu übersehen, fehlerlos alles voraussagen könnte, was in der Zukunft geschehen wird. Das ergibt sich zweifellos aus dem Prinzip des Determinismus: keine Erscheinung ohne Ursache. Aber einen solchen Intellekt gibt es bekanntlich nicht, weder einen individuellen, noch einen kollektiven. Daher ist es auch möglich, dass selbst die bestunterrichteten und genialsten Menschen sehr häufig in ihrer Voraussicht irren. Aber es ist klar, dass man der richtigen Voraussicht am nächsten kommt, je besser man die Elemente des Prozesses kennt, je größer die Fähigkeit ist, sie einzugliedern, einzuschätzen und zu kombinieren, je größer die wissenschaftlich schöpferische Erfahrung, je weiter der Horizont ist.

In seiner, ihrer Aufgabe nach so bescheidenen militärischen Zeitungschronik bleibt Engels immer er selbst: er bringt in seine Arbeit den scharfen Blick eines militärischen Analytikers und Kombinators, der die große sozialtheoretische Schule von Marx-Engels, die praktische Schule der Revolution von 1848 und der Ersten Internationale durchgemacht hat.

„Vergleichen wir die Kräfte", sagt Engels, „die beide Parteien zum Zweck ihrer gegenseitigen Vernichtung aufstellen können, und rechnen wir, um die Sache zu vereinfachen, nur mit der Infanterie, denn gerade sie entscheidet über den Ausgang der Schlacht; unbedeutende Differenzen in der zahlenmäßigen Stärke der Kavallerie und Artillerie, die Mitrailleusen und irgendwelche andere wundersame Maschinen mit einbegriffen, kommen nicht wesentlich in Betracht."(1)

Das, was für Frankreich und Deutschland im Jahre 1870 im Großen und Ganzen richtig war, wäre für unsere Zeit zweifellos nicht mehr zutreffend. Es ist jetzt unmöglich, das militärische Kräfteverhältnis nur nach der Anzahl der Bataillone zu bestimmen. Es ist wahr, die Infanterie bleibt auch heute der Hauptfaktor in den Schlachten. Aber die Rolle des technischen Koeffizienten bei der Infanterie ist außerordentlich gewachsen, und zwar bei den verschiedenen Armeen in sehr ungleichem Grade: wir haben nicht nur die Mitrailleusen im Auge, die 1870 noch ein „miracle working" waren; nicht nur die ihrer Zahl und Bedeutung nach sehr vermehrte Artillerie, sondern auch vollkommen neue Hilfsmittel: den Kraftwagen, sowohl für Kriegs- als auch für Transportzwecke, die Aviatik und die Kriegschemie. Ohne Berücksichtigung dieser „Koeffizienten" wäre eine Statistik, die sich nur mit der Anzahl der Bataillone befasste, jetzt vollkommen irreal.

Auf Grund seiner Berechnungen gelangt Engels zu dem Schluss: Deutschland verfügt über eine weit größere Anzahl von geschulten Soldaten als Frankreich, und die Überlegenheit der Deutschen wird mit der Zeit immer mehr in die Erscheinung treten, – es sei denn, dass Louis Napoleon dem Feinde von Anfang an zuvorkommt und ihm entscheidende Schläge versetzt, ehe dieser seine potentielle Überlegenheit zu verwerten vermag.

Damit gelangt Engels schon zur Strategie, zu diesem selbständigen Gebiet der höchsten Kriegskunst, das jedoch durch ein kompliziertes System von Hebeln und Transmissionen mit der Politik, Ökonomik, Kultur und Verwaltung verbunden ist. Hinsichtlich der Strategie hält es Engels für notwendig, gleich von Anfang an die unvermeidlichen realistischen Einschränkungen zu machen:

„Man muss im Auge behalten, dass von einem strategischen Plan allein kein durchschlagender Erfolg zu erwarten ist. Es können immer diese oder jene unerwarteten Hindernisse eintreten: ein Truppenteil trifft nicht rechtzeitig in dem Augenblick ein, wenn man ihn am nötigsten braucht; oder der Gegner macht ein unvorhergesehenes Manöver oder trifft unvorhergesehene Vorsichtsmaßnahmen; und endlich umgekehrt: ein hartnäckiger Widerstand der Truppen oder die gelungene Unternehmung eines Generals können eine geschlagene Armee zuweilen vor den schlimmsten Konsequenzen einer Niederlage bewahren – und zwar vor dem Verlust der Verbindung mit ihrer Basis."(2)

Das ist zweifellos richtig. Gegen eine derartige realistische Auffassung der Strategie könnte höchstens der selige Pfuel oder einer seiner späten Verehrer etwas einzuwenden haben: Berücksichtigung des Wichtigsten im ganzen Kriegsplan und dies mit der größten durch die Umstände gegebenen Vollständigkeit; Beachtung jener Elemente, die sich im Vorhinein nicht bestimmen lassen; Formulierung der Befehle in einer so biegsamen Weise, dass sie sich der jeweiligen Lage und ihren unvorhergesehenen Varianten anpassen können; und die Hauptsache: rechtzeitige Feststellung jeder wesentlichen Änderung in der Situation und entsprechende Abänderung des Planes oder gar seine vollständige Neugestaltung, – gerade hierin besteht die wahre Kunst der Kriegführung. Wenn man dem strategischen Plan einen erschöpfenden Charakter verleihen, im Vorhinein den Zustand des Wetters, der Soldatenmagen und -beine, die Absichten des Gegners berücksichtigen könnte, dann könnte ein die vier Spezies [Grundrechenarten] beherrschender Automat ein siegreicher Feldherr sein. Zum Glück oder Unglück ist dem nicht so. Der Kriegsplan hat keineswegs einen absoluten Charakter, und das Vorhandensein des besten Planes sichert, worauf Engels mit Recht hinweist, noch lange nicht den Sieg. Dagegen macht jegliches Fehlen eines Plans den Untergang unvermeidlich: Jeder halbwegs ernst zu nehmende Befehlshaber kennt den orientierenden nicht unbedingten Wert eines Plans. Aber der Befehlshaber, der aus diesem Grunde jeden Plan verwerfen würde, müsste entweder erschossen oder in ein Irrenhaus gesperrt werden.

Wie verhält es sich nun mit dem strategischen Plan Napoleons III.? Wir wissen schon, dass Deutschlands ungeheure potentielle Überlegenheit in dem zahlenmäßigen Übergewicht an geschultem Menschenmaterial bestand. Wie Engels hervorhebt, bestand die Aufgabe Bonapartes darin, mit raschen, entschlossenen Unternehmungen dem Feinde die Verwertung dieser Überlegenheit unmöglich zu machen. Man sollte meinen, dass die Napoleonische Tradition gerade einem solchen Vorgehen hätte günstig sein müssen. Aber leider hängt die Verwirklichung derartig kühner Kriegspläne abgesehen von allem anderen auch von der exakten Arbeit der Intendantur ab, und das ganze Regime des Zweiten Imperiums, mit seiner zügellosen und unfähigen Bürokratie, war in keiner Weise dazu angetan, die Verpflegung und Versorgung der Truppen zu sichern. Daher die Reibungen und Zeitverluste gleich in den ersten Tagen des Krieges, die allgemeine Hilflosigkeit die Unmöglichkeit, irgendeinen Plan durchzuführen, und als Folge alles dessen – der Zusammenbruch!.

An einigen Stellen erwähnt Engels flüchtig die schädliche Wirkung, die das Eindringen der „Politik" in den Verlauf der Kriegsoperationen haben kann. Diese seine Bemerkung scheint im ersten Augenblick im Gegensatz zu jener Auffassung zu stehen, derzufolge der Krieg im Großen und Ganzen nichts anderes ist als eine Fortführung der Politik. In Wirklichkeit liegt hier kein Widerspruch. Der Krieg führt die Politik fort, aber mit besonderen Mitteln und Methoden. Wenn die Politik gezwungen ist, für die Lösung ihrer grundlegenden Aufgaben zum Hilfsmittel des Krieges zu greifen, so darf diese Politik nicht ihrer untergeordneten Aufgaben wegen den Verlauf der Kriegsoperationen stören. Wenn Bonaparte vom militärischen Standpunkte offensichtlich unzweckmäßige Handlungen beging, um, wie Engels meint, mit ephemeren Erfolgen die „öffentliche Meinung" günstig zu beeinflussen, so war das zweifellos als ein unzulässiges Eindringen der Politik in die Kriegsführung anzusehen, das es dieser unmöglich machte, die von der Politik gestellten grundlegenden Aufgaben zu bewältigen. In dem Grade, wie sich Bonaparte in dem Kampfe um die Erhaltung seines Regimes gezwungen sah ein derartiges Eindringen der Politik zuzulassen, war darin auch schon eine offensichtliche Selbstverurteilung des Regimes enthalten, das den baldigen Zusammenbruch unvermeidlich machte.

Als das besiegte Land nach der vollständigen Niederlage und Gefangennahme seiner bewaffneten Kräfte unter Gambettas Leitung den Versuch macht, eine neue Armee aufzustellen, verfolgt Engels diese Arbeit mit erstaunlichem Verständnis für das Wesen der militärischen Organisation. Er charakterisiert ausgezeichnet die jungen, undisziplinierten Truppen, die auf dem Wege der Improvisation zustande kommen. „Solche Truppen", sagt er, „sind sehr schnell bereit, über Verrat zu schreien, wenn man sie nicht sofort gegen den Feind führt, und ebenso schnell bereit, kopflos die Flucht zu ergreifen, wenn die Anwesenheit des letzteren sich ernstlich fühlbar macht." (3) Es ist unmöglich, hierbei nicht an unsere ersten Truppenteile und Regimenter in den Jahren 1917/18 zu denken!

Engels weiß ausgezeichnet, worin, bei Vorhandensein aller übrigen notwendigen Vorbedingungen, die Hauptschwierigkeiten der Verwandlung eines Menschenhaufens in eine Kompanie oder ein Bataillon bestehen. „Wer immer," sagt er, „Gelegenheit hatte, improvisierte Volksheere, auf einem Übungsplatz oder im Feuer, zu sehen – mögen es Badener Freischaren, „Bull-Run Yankees", französische „Mobiles", oder britische Volonteure sein – wird sofort bemerkt haben, dass die Hauptursache der Hilfslosigkeit und Widerstandslosigkeit dieser Truppen darin liegt, dass ihre Offiziere ihre Aufgabe nicht kennen."(4)

Es ist im höchsten Grade lehrreich, zu sehen, wie aufmerksam Engels die Stammtruppen einer Armee behandelt. Wie fern ist dieser große Revolutionär allem pseudo-revolutionärem Geschwätz, das gerade damals in Frankreich sehr populär war – über die rettende Kraft einer Massenmobilisierung (levée en masse), einer (in aller Eile) bewaffneten Nation usw. Engels weiß sehr gut, welche große Bedeutung Offiziere und Unteroffiziere in einem Bataillon haben. Er stellt genaue Berechnungen darüber an, welche Ressourcen an Offizieren der Republik nach der Niederlage der regulären Kräfte des Kaiserreichs geblieben sind. Auf das aufmerksamste verfolgt er die Entstellung jener Züge im der neuen, sogenannten Loire- Armee, die sie von einem bewaffneten Menschenhaufen unterscheiden. So stellt er z. B. mit Befriedigung fest, dass die neue Armee nicht nur bestrebt ist, einheitlich vorzugehen und den Befehlen zu gehorchen, sondern dass sie auch noch „eine sehr wichtige Sache erfasst hat, die die Armee Louis Napoleons vollkommen vergessen hatte: den Sicherungsdienst, die Kunst, die Flanken und das Hinterland gegen plötzliche Überfälle zu sichern, den Feind aufzufinden, einzelne seiner Abteilungen unerwartet zu überfallen, um Informationen und Gefangene zu erhalten."(5)

So ist Engels in diesen seinen „Zeitungs"-Artikeln überall: kühn in seiner Großzügigkeit, realistisch in der Methode, scharf blickend in großen und kleinen Dingen und immer gewissenhaft bei der Verarbeitung des Materials. Er zählt die Menge der gezogenen und glatten Gewehrläufe bei den Franzosen, prüft wiederholt die deutsche Artillerie, denkt an die Eigenschaften des preußischen Kavalleriepferdes und lässt niemals die Qualitäten des preußischen Unteroffiziers außer acht. Durch den Gang der Ereignisse vor das Problem der Belagerung und Verteidigung von Paris gestellt, erforscht er die Qualität seiner Befestigungen, die Stärke der Artillerie beiden Deutschen und Franzosen und behandelt sehr kritisch die Frage, ob es in den Mauern von Paris reguläre Truppen gibt, die kampffähig genannt werden können. Wie schade, dass wir diese Arbeit von Engels 1918 nicht hatten! Sie hätte uns gewiss geholfen, das damals weit verbreitete Vorurteil schneller und leichter zu überwinden, mit dem man versuchte, den „revolutionären Enthusiasmus" und den „proletarischen Geist" einer fachmännischen Organisation, der tadellosen Disziplin und geschultem Kommando entgegenzustellen.

Die militärisch kritische Methode von Engels kommt z. B. sehr klar zum Ausdruck im 13. Briefe, der sich mit dem aus Berlin lancierten Gerücht über „einen entscheidenden Vormarsch auf Paris" befasst. Der Aufsatz über das befestigte Pariser Lager (Brief 16) fand den begeisterten Beifall von Marx. Ein gutes Beispiel für die Engelssche Behandlung der militärischen Probleme bietet der 24. Brief, der von der Pariser Belagerung handelt. Engels stellt von vornherein zwei grundlegende Momente fest: „Das erste ist, dass Paris von außen her, wenn es nötig sein sollte, von keiner französischen Armee Hilfe erwarten kann … Der zweite Punkt ist der, dass die Pariser Garnison zu Angriffsoperationen großen Stils unfähig ist."(6) Alle übrigen Elemente seiner Analyse stützen sich auf diese zwei Punkte. Sehr interessant sind zwei Urteile über den Franktireur-Krieg und seine Anwendungsmöglichkeit, eine Frage, die für uns auch in Zukunft ihre Bedeutung nicht verlieren wird. Der Ton von Engels gewinnt mit jedem Briefe an Sicherheit. Diese Sicherheit ist insofern berechtigt, als sie durch eine zweifache Prüfung bestätigt wird: einerseits durch den Vergleich mit dem, was „echte" Militärs über dieselben Fragen geschrieben haben, und andrerseits durch eine noch wirksamere Prüfung – durch die Ereignisse selbst.

Jede Abstraktion rücksichtslos aus seiner Analyse verbannend, den Krieg als eine materielle Kette von Operationen betrachtend, jede Operation vom Standpunkte der real vorhandenen Kräfte, Mittel und ihrer Verwertungsmöglichkeit betrachtend, handelt dieser große Revolutionär als … ein Kriegsfachmann, d. h. als ein Mensch, der allein schon kraft seines Berufs oder seiner Bestimmung von den inneren Faktoren der Kriegführung ausgeht. Es ist nicht zu verwundern, dass die Aufsätze von Engels den damaligen militärischen Berühmtheiten zugeschrieben wurden, was dazu führte, dass Engels in seinem Freundeskreise der Beiname „General" verliehen wurde. Ja, er behandelte die militärischen Fragen als ein „General", vielleicht nicht ohne bedeutende Mängel auf einzelnen militärischen Gebieten und ohne die notwendige praktische Erfahrung, dafür aber mit einem Kopf begabt, wie ihn nicht jeder General auf seinen Schultern sitzen hat.

Aber könnte gefragt werden, wo bleibt schließlich der Marxismus? Darauf wäre zu erwidern, dass er – bis zu einem gewissen Grade – gerade hier zum Ausdruck kommt. Eine der grundlegenden philosophischen Prämissen des Marxismus lautet, dass die Wahrheit stets konkret ist. Das bedeutet, dass man das Kriegshandwerk und seine Probleme nicht in soziale und politische Kategorien auflösen darf. Krieg ist Krieg, und der Marxist, der über ihn urteilen will, muss dessen eingedenk sein, dass auch die Wahrheit des Krieges konkret ist. Und das lehrt das Buch von Engels vor allen Dingen. Aber nicht nur das allein.

Wenn man militärische Probleme nicht in allgemein politische Probleme auflösen darf, so ist es ebenso unzulässig, die ersteren von den letzteren zu trennen. Wie wir schon erwähnt haben, ist der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit besonderen Mitteln. Diesen tiefen dialektischen Gedanken hat Clausewitz formuliert. Krieg ist eine Fortsetzung der Politik: wer die „Fortsetzung" begreifen will, der muss sich darüber klar werden, was ihr vorangeht. Aber Fortsetzung – „mit anderen Mitteln" bedeutet: es genügt nicht, politisch gut orientiert zu sein, um damit auch schon die „anderen Mittel" des Krieges richtig einschätzen zu können. Der größte und unvergleichliche Vorzug von Engels bestand darin, dass er, indem er den selbständigen Charakter des Krieges – mit seiner inneren Technik, Struktur, seinen Methoden, Traditionen und Vorurteilen – tief erfasste, gleichzeitig der größte Kenner jener Politik war, der sich der Krieg letzten Endes unterordnet.

Es braucht nicht gesagt zu werden, dass dieser ungeheure Vorzug Engels bei seinen konkreten militärischen Urteilen und Prognosen vor Fehlern nicht bewahren konnte. Während des Bürgerkrieges in den Vereinigten Staaten hat Engels die rein militärischen Vorzüge, die die Südamerikaner1 in der ersten Periode bewiesen haben, überschätzt und war daher geneigt, an ihren Sieg zu glauben. Während des deutsch-österreichischen Krieges im Jahre 1866, kurz vor der entscheidenden Schlacht bei Königgrätz, die den Grundstein legte für die Vorherrschaft Preußens, rechnete Engels mit einer Meuterei in der preußischen Landwehr. Auch in der Chronik des deutsch-französischen Krieges wird man wahrscheinlich eine Reihe von Fehlern in Einzelfragen finden können, obwohl die allgemeine Prognose von Engels in diesem Falle unvergleichlich richtiger war als in den beiden angeführten Beispielen. Nur sehr naive Menschen können meinen, dass die Größe eines Marx, Engels oder Lenin in der automatischen Fehlerlosigkeit aller ihrer Urteile besteht. Nein, auch sie irrten. Aber bei ihrer Beurteilung der größten und verwickeltsten Fragen pflegen sie weniger Fehler zu machen als alle anderen. Und hierin zeigt sich die Größe ihres Denkens. Und auch noch darin, dass ihre Fehler, wenn man deren Motive ernstlich prüft, sich häufig als viel tiefer und lehrreicher erweisen als das richtige Urteil jener, die, zufällig oder nicht, in diesem oder jenem Falle im Gegensatz zu ihnen recht behielten.

Abstraktionen von jener Art, dass einer jeden Klasse eine besondere Taktik und Strategie eigen sein müsse, finden natürlich bei Engels keine Unterstützung. Er weiß allzu gut, dass die Grundlage aller Grundlagen einer militärischen Organisation und eines Krieges von dem Niveau der Entwicklung der Produktivkräfte bestimmt wird und nicht durch den nackten Klassenwillen. Gewiss kann man sagen, dass die feudale Epoche ihre eigene Taktik hatte und sogar eine Reihe von zusammenhängenden Taktiken, dass die bürgerliche Epoche – wiederum nicht eine, sondern mehrere Taktiken kennt, und dass auch der Sozialismus sicherlich zur Ausarbeitung einer neuen Kriegstaktik führen wird, wenn er in die Zwangslage kommt, längere Zeit neben dem Kapitalismus bestehen zu müssen. In dieser allgemeinen Form gesagt, stimmt das, in dem Grade, wie das Niveau der Produktivkräfte der kapitalistischen Gesellschaft höher ist als das der feudalen und in der sozialistischen mit der Zeit ein noch höheres sein wird. Aber nicht darüber hinaus. Denn hieraus folgt keineswegs, dass das zur Herrschaft gelangte Proletariat, das nur über ein sehr niedriges Produktionsniveau verfügt, sofort eine neue Taktik bilden kann, die – prinzipiell – sich nur aus der gesteigerten Entwicklung der Produktivkräfte der künftigen sozialistischen Gesellschaft ergeben kann.

Wir haben früher sehr oft wirtschaftliche Prozesse und Erscheinungen mit militärischen verglichen. Jetzt wird es für uns vielleicht nicht ohne Nutzen sein, einige militärische Fragen den wirtschaftlichen gegenüberzustellen, denn wir haben auf dem letzteren Gebiete schon eine recht große Erfahrung gewonnen. Der wichtigste Teil der Industrie arbeitet bei uns unter Bedingungen der sozialistischen Wirtschaft, indem er Eigentum des Arbeiterstaates ist und für dessen Rechnung und unter seiner Leitung produziert. Kraft dieses Umstandes unterscheidet sich die sozialrechtliche Struktur unserer Industrie einschneidend von der kapitalistischen. Das findet seinen Ausdruck im Verwaltungssystem der Industrie, in der Wahl des leitenden Personals, in dem Verhältnis zwischen der Betriebs-Verwaltung und der Arbeiterschaft usw. Aber wie steht es nun mit dem Produktionsprozess selbst? Haben wir etwa unsere eigenen sozialistischen Methoden der Produktion geschaffen, die den kapitalistischen entgegengesetzt sind? Davon sind wir noch sehr weit entfernt. Die Methoden der Produktion hängen von der materiellen Technik und von dem kulturellen und produktiven Niveau der Arbeiterschaft ab. Bei der abgenutzten Einrichtung und ungenügenden Beschäftigung unserer Betriebe steht der Produktionsprozess jetzt auf einem unvergleichlich niedrigeren Niveau als vor dem Kriege. Auf diesem Gebiete haben wir nicht nur nichts Neues geschaffen, sondern wir können nur hoffen, nach einer Reihe von Jahren jene Methoden und Produktionsmittel uns anzueignen, die gegenwärtig in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern eingeführt sind und ihnen dadurch eine weit höhere Produktivität der Arbeit sichern. Wenn es sich aber auf dem Gebiete der Wirtschaft so verhält, wie kann es dann auf dem militärischen prinzipiell anders sein? Die Taktik hängt von der vorhandenen Kriegstechnik und von dem militärischen und kulturellen Niveau der Soldaten ab. Gewiss, die politische und sozialrechtliche Struktur unserer Armee ist grundverschieden von den bürgerlichen Armeen. Das kommt in der Auswahl des Kommandobestandes zum Ausdruck, im Verhältnis zwischen ihm und der Soldatenmasse und vor allem in jenen politischen Zielen, die unsere Armee begeistern. Aber hieraus folgt keineswegs, dass wir schon jetzt,auf unserm tiefen technischen und kulturellen Niveau eine prinzipiell neue und vollkommenere Taktik als jene schaffen können, die die zivilisiertesten Raubtiere des Westens erreicht haben. Man darf – wie derselbe Engels lehrte – die ersten Schritte des Proletariats, das die Macht erobert hat, – und diese ersten Schritte bemessen sich nach Jahren – nicht mit der sozialistischen Gesellschaft verwechseln, die schon auf einer hohen Stufe der Entwicklung steht. Nach Maßgabe des Wachstums der Produktivkräfte auf der Grundlage des sozialistischen Eigentums wird auch unser Produktionsprozess selbst notgedrungen einen andern Charakter als unter dem Kapitalismus annehmen. Um den Charakter der Produktion qualitativ zu ändern, brauchen wir keinerlei Revolutionen mehr, keinerlei Erschütterungen des Eigentums usw.: wir brauchen lediglich eine Entwicklung der Produktivkräfte auf der bereits geschaffenen Grundlage. Dasselbe gilt auch von der Armee. Im Sowjet-Staat, auf der Grundlage einer Arbeitsgemeinschaft zwischen Arbeitern und Bauern, unter Leitung von fortgeschrittenen Arbeitern, werden wir zweifellos eine neue Taktik schaffen. – Aber wann? Wenn unsere Produktivkräfte die kapitalistischen übertreffen oder sie wenigstens annähernd erreichen werden.

Versteht sich, wir haben für den Fall von militärischen Zusammenstößen mit kapitalistischen Staaten einen Vorzug, einen ganz kleinen zwar, aber doch einen Vorzug, dass er unsern möglichen Feinden den Kopf kosten kann. Dieser Vorzug bestellt darin, dass wir keinen Antagonismus zwischen der regierenden Klasse und jener, aus der die Masse der Soldaten besteht, haben. Wir sind der Arbeiter- und Bauernstaat, und die Arbeiter- und Bauernarmee zugleich. Aber das ist keine militärische Überlegenheit, sondern eine politische. Es wäre äußerst unbegründet, aus diesem politischen Vorzug Schlüsse zu ziehen, die zum militärischen Hochmut und zur Selbstüberschätzung führen. Im Gegenteil, je besser wir unsere Zurückgebliebenheit erkennen, je mehr wir uns von jeder Renommisterei freihalten, je fleißiger wir an der Technik und Taktik der fortgeschrittenen kapitalistischen Armeen lernen, desto begründeter wird unsere Hoffnung sein, dass wir im Falle eines militärischen Konflikts einem scharfen Keil gleich, nicht nur militärischer, sondern auch revolutionärer Art, zwischen die Bourgeoisie und die Soldatenmassen ihrer Armeen fahren werden.

Ich schwanke, ob es hier angebracht ist, die berühmte Entdeckung des nicht weniger berühmten Tschernow über den „Nationalismus" bei Marx und Engels zu erwähnen. Das vorliegende Buch gibt eine klare Antwort auch auf diese Frage, die unser früheres Urteil nicht ändert, sondern es im Gegenteil auf die schlagendste Weise bekräftigt. Die Interessen der Revolution waren für Engels das höchste Kriterium. Er vertrat die nationalen Interessen Deutschlands gegen das Kaiserreich von Bonaparte, weil die Interessen des Zusammenschlusses der deutschen Nation unter den damaligen konkreten historischen Verhältnissen eine progressive, potentiell-revolutionäre Kraft bedeuteten. Wir lassen uns von derselben Methode leiten, wenn wir jetzt die nationalen Interessen der kolonialen Völker gegen den Imperialismus unterstützen. Diese Stellungnahme von Engels fand ihren übrigens sehr zurückhaltenden Ausdruck in den Aufsätzen der ersten Kriegsperiode. Wie hätte es auch anders sein können: Engels konnte doch unmöglich, Louis Napoleon und Tschernow zu Gefallen, den deutsch-französischen Krieg im Gegensatz zu seinem historischen Sinn nur deshalb anders einschätzen, weil er selbst ein Deutscher war. Aber sobald die progressive historische Aufgabe des Krieges erreicht, die nationale Vereinigung Deutschlands sichergestellt und außerdem auch noch das zweite Kaiserreich gestürzt war, – ändert Engels radikal seine „Sympathien" – wenn wir seine politischen Tendenzen mit diesem sentimentalen Wort ausdrücken wollen. Warum tat er das? Deshalb, weil es sich über das Erreichte hinaus bereits um eine Sicherstellung der Vorherrschaft der preußischen Junker in Deutschland und des verpreußten Deutschland in Europa handelte. Unter diesen Umständen wurde die Verteidigung des zerstückelten Frankreich zu einem revolutionären Faktor oder sie konnte es werden. Engels steht hier ganz auf Seiten des französischen Verteidigungskampfes. Aber ebenso wie in der ersten Hälfte des Krieges erlaubt er seinen „Sympathien" nicht – oder bemüht sich wenigstens, es ihnen nicht zu erlauben, – auf die objektive Einschätzung der Kriegslage Einfluss zu gewinnen. In beiden Perioden des Krieges geht er von der Betrachtung der materiellen und moralischen Kriegsfaktoren aus und sucht für seine Prognose nach einer festen objektiven Basis.

Es wird nicht überflüssig sein, wenigstens flüchtig darauf hinzuweisen, wie der „Patriot" und „Nationalist" Engels in seinem Aufsätze über die Befestigung und Stützung der französischen Hauptstadt die Möglichkeiten einer englischen, italienischen, österreichischen und skandinavischen Intervention zugunsten Frankreichs sympathisch erwägt. Seine in den Spalten einer englischen Zeitung entwickelten Erörterungen sind nichts anderes als ein Versuch, die Einmischung einer ausländischen Macht in den Krieg gegen das teure Hohenzollernvaterland zu fördern. Das wiegt gewiss schwerer als selbst ein plombierter Eisenbahnwagen!

Engels' Interesse für militärische Fragen hatte nicht nationale, sondern rein revolutionäre Quellen. Aus den Ereignissen von 1848 als ein reifer Revolutionär hervorgegangen, der das „Kommunistische Manifest" und revolutionäre Kämpfe hinter sich hatte, betrachtete Engels die Frage der Eroberung der Macht durch das Proletariat als eine rein praktische Frage, deren Lösung nicht zuletzt von den Kriegsproblemen abhängt. In den nationalen Bewegungen und Kriegsereignissen der Jahre 1859, 1864, 1866, 1870/71 sucht Engels nach den unmittelbaren Hebeln für eine revolutionäre Aktion. Er untersucht jeden neuen Krieg, deckt seinen möglichen Zusammenhang mit der Revolution auf und sucht nach Wegen, um die künftige Revolution durch die Kraft der Waffen sicherzustellen. Hierin liegt die Erklärung für die lebhafte und aktive, keineswegs akademische und nicht nur agitatorische Behandlung der Armee- und Kriegsprobleme, die wir bei Engels finden. Bei Marx war die prinzipielle Position die gleiche. Aber Marx beschäftigte sich nicht speziell mit militärischen Fragen, er verließ sich hierin ganz auf seine „zweite Geige".

In der Epoche der Zweiten Internationale ging dieses revolutionäre Interesse für Kriegsfragen, wie übrigens für viele andere Fragen, fast vollkommen verloren. Aber der Opportunismus kam vielleicht am deutlichsten in dem oberflächlichen und hochmütigen Verhalten dem Militarismus gegenüber zum Ausdruck, als einer barbarischen Einrichtung, die der aufgeklärten sozialdemokratischen Aufmerksamkeit nicht würdig sei. Der imperialistische Krieg 1914/1918 brachte wieder in Erinnerung – und wie unerbittlich rücksichtslos! –, dass der Militarismus keineswegs nur ein Objekt für schablonenhafte Agitation und Parlamentsreden ist. Der Krieg überraschte die sozialistischen Parteien und verwandelte ihr formal oppositionelles Verhalten dem Militarismus gegenüber in ein demütig kniendes. Erst die Oktoberrevolution war berufen, nicht nur das aktiv-revolutionäre Verhalten den Kriegsfragen gegenüber prinzipiell wiederherzustellen, sondern auch die Spitze des Militarismus praktisch gegen die herrschenden Klassen zu kehren. Die Weltrevolution wird diese Arbeit zu Ende führen.

19. März 1924.

 

Anmerkungen

*) Gemeint sind: Friedrich Engels: Notes on the War. Sixty Articles Reprinted from the „Pall Mall Gazette". 1870-1871. Edited by Friedrich Adler. Wien. 1923. In deutscher Fassung enthalten in MEW 17 S.9-264

1) F. Engels, „Notes on the war", ed. Friedrich Adler, Wien 1923. (Note I, S. 1).
2)
Ibid. S. 6.
3)
Ibid. S. 88
4) Ibid. S. 79.
5)
Ibid. S. 96.
6)
Ibid. S
. 71.

Editorische Hinweise

Erstveröffentlicht in:  Arbeiter-Literatur, Verlag für Literatur und Politik, Wien VIII, Heft 5/6 (Juni 1924), S. 199-213  ocr-scan red. trend 2020

Der Verlag für Literatur und Politik (VLP, teilweise auchnes Wertheim ins Wiener Handelsregister eingetragen. Der Schwerpunkt der Verlagsarbeit lag auf ideologischen Schriften und Lenin-Gedenkbüchern (u.a. von Lenin-Witwe Nadezda Krupskaja und Clara Zetkin), es kam aber auch zur Veröffentlichung literarischer Texte. Ab 1926/27 wurde ein von John Heartfield gestaltetes Verlagssignet, eine flatternde rote Fahne in einem Kreis, verwendet. Dies wurde 1933 vom Ring-Verlag und 1959 vom Dietz-Verlag übernommen. Bis zur Einstellung der Tätigkeit Ende 1933 und seinem Verbot am 30.6.1934 erschienen im VLP insgesamt 132 Titel und sowie mit Unter dem Banner das Marxismus (1925-1932), Das neue Rußland (1929-1932) und Agrar-Probleme (1932) drei Zeitschriften.

Programmatische Texte von u.a. Karl Marx, Friedrich Engels, Leo Trotzki, Josef Stalin, Nikolai Bucharin, Larissa Reissner und Grigorij Sinowjew wurden vor allem in den Reihen Arbeiter-Literatur (1924) und Marxistische Bibliothek (1926-1932) publiziert. Darüber hinaus veröffentlichten u.a. auch Fedor Panferow (Die Genossenschaft der Habenichtse, 1928), der jüdische KPÖ-Ideologe Otto Heller (Der Untergang des Judentums) und die Moskau-Korrespondentin der Roten Fahne Frida Rubiner (Der große Strom, beide 1931) im VLP. Im KPÖ-Organ Die Rote Fahne wurden u.a. der Revolutionsroman 10 Tage, die die Welt erschütterten von John Reed (1927), Der stille Don (Krieg und Revolution) von Michael Scholochow (1931) und Auszüge aus Zement sowie als Fortsetzungsroman Neue Erde von Fedor Gladkow (1927/28 bzw. 1932) abgedruckt. Besondere Bedeutung erhielt der VLP durch den Abdruck der ersten fünf Bände der Ausgewählten Werke der einzigen von Moskauer Lenin-Institut autorisierten Ausgabe der Schriften Lenins, später erschienen 14 von 26 Bänden der Sämtliche Werke Lenins und neun Hefte der Kleinen Lenin-Bibliothek (1931-1933) bei VLP. Eine bereits öffentlich angekündigte Publikation ausgewählter Lenin-Werke im Berliner Malik-Verlag im Juni 1924 wurde durch eine Intervention aus Moskau verhindert.

Quelle: https://litkult1920er.aau.at/litkult-lexikon/verlag-fuer-literatur-und-politik/