Eine Form von neuer
Unübersichtlichkeit kehrt in die
Aktivitätszonen jihadistischer Gruppen
in der afrikanischen Sahelzone ein. Am
Montag dieser Woche, den 18.05.20 warnte
die International Crisis Group (ICG) mit
Sitz in Brüssel in einem Bericht mit dem
Schwerpunkt Nigeria, bislang voneinander
getrennte Einflusszonen bewaffneter
Gruppen seien im Begriff, im Nordwesten
Nigerias zusammenzuwachsen.
Bis dahin hatte es zwei
unterschiedliche Trouble spots
für jihadistische Aktivitäten im Sahelraum
gegeben; der eine umfasste den Norden Malis
und in jüngerer Zeit auch das Zentrum des
Landes rund um die Stadt Mopti, den Norden
und Osten des Nachbarlands Burkina Faso und
griff von Westen her auf den angrenzenden
Staat Niger über. Zunächst hatten sich
jihadistische Kräfte wie die „Bewegung für
die Einheit des Jihad in Westafrika“ (der
MUJAO) und Ansar ed-Din („Anhänger der
Religion“) ab Anfang 2012 im Norden Malis
verankert. Von dort aus strahlte ihre
Einflusszone in den letzten Jahren zunehmend
auf angrenzende Zonen und auf Burkina Faso
aus, auch wenn die Jihadisten zugleich seit
der Anfangsphase der – im Januar 2013
begonnen - französischen Militärintervention
die Kontrolle über die zunächst von ihnen
regierten Städte wie Gao und Tomboctou
(eingedeutscht Timbuktu) verloren und in
dünner besiedelte Zonen ausweichen.
Verstärkte Luftoperationen der französischen
Armee sorgten in den letzten zwei Monaten
allerdings für vermehrte Rückschläge ihrer
Kombattanten im Drei-Länder-Ecke zwischen
Mali, Burkina Faso und Niger.
Jihadisten töteten neben
malischen Soldaten und örtlichen Zivilisten
auch rund 250 Mitglieder der „Mission der
Vereinten Nationen für die Stabilisierung
Malis“ (MINUSMA), die als gefährlichster
UN-Einsatz des Planeten gilt. Auch die
örtlichen Armeen schrecken dabei mitunter
nicht vor Gewalttaten, die sich gegen die
örtliche Bevölkerung richten können, zurück.
Vor allem dann, wenn Letztere der mangelnden
Kooperationsbereitschaft verdächtigt wird,
was umgekehrt auch als Vorwurf durch die
Jihadisten erhoben werden und zu tödlicher
Gewalt führen kann.
Am 30. April d.J.
veröffentlichte die Menschenrechtsabteilung
(division des droits de l’homme) der
MINUSMA einen Vierteljahresbericht, in dem
sie Vorwürfe gegen die Armeen von Mali und
Niger erhebt. Erstere habe im Zeitraum vom
1. Januar bis zum 31. März dieses Jahres
insgesamt 101 „außergerichtliche
Hinrichtungen“ vollzogen, ferner ist von 32
Fällen von Misshandlungen respektive Folter
und 115 „willkürlichen Festnahmen“ die Rede.
Die Armee des Nachbarlands Niger habe im
selben Zeitraum in den Kampfzonen innerhalb
Malis ihrerseits circa dreißig
„außergerichtliche Hinrichtungen“
vorgenommen.
Unabhängig davon kämpft
und mordet die als besonders blutrünstig
bekannte, islamistische Sekte Boko Haram
seit 2009 im Nordosten von Nigeria, von wo
aus sich ihre Aktivitäten rund um den
Tschadsee ausweiteten: auf den Südosten des
Staatsgebiets von Niger, Teil des Tschad und
die nördlichsten Regionen Kameruns. Beide
Operationsgebiete der durchaus heterogenen,
jedoch einen gemeinsamen ideologischen
Sockel teilenden jihadistischen Kräfte waren
zunächst voneinander getrennt. Allerdings
sollen rund zweihundert Kämpfer von Boko
Haram an der Seite des MUJAO, dessen
Mitgliedschaft einen multinationalen Sockel
in mehreren westafrikanischen Ländern
aufwies und auch Nigerianer umfasste, zu
Anfang des vorigen Jahrzehnts in Mali
präsent gewesen sein.
Im Nordosten Nigerias
forderte der Konflikt mit Boko Haram bislang
rund 36.000 Tote und mehrere Millionen
Binnenflüchtlinge, vor allem in den
Bundesstaaten Borno des Kobe in dem
regionalen Riesenstaat mit 200 Millionen
Einwohnern. Nun warnt die ICG jedoch, dass
auch der Nordwesten Nigerias zum
Operationsgebiet verwandter bewaffneter
Gruppierungen werde. Konkret findet dort
allerdings nicht Boko Haram selbst
Verankerung, sondern eine von ihr im Jahr
2012 abgespaltene Gruppe unter dem Namen
Ansaru (Anhänger, Partisanen). Diese schien
nach massiven Attacken der nigerianischen
Armee vorübergehend weitgehend ausgelöscht,
macht jedoch in jüngerer Zeit erneut auf
sich aufmerksam. Allein im Februar dieses
Jahres gab die Armee Nigerias an, 250
Mitglieder von Ansaru getötet zu haben, doch
die ICG merkt an, die Grenzen zum
Nachbarland Niger seien „porös“ und böten
der Gruppe deswegen Möglichkeiten zum
Ausweichen vor militärischen Angriffen. Die
Ansaru-Gruppierung hat international dem
Netzwerk Al-Qaida einen Treueschwur
geleistet. Mit ihr konkurriert die ebenfalls
aus einer Abtrennung von Boko Haram
hervorgegangene Gruppe „Islamischer Staat in
der Provinz Westafrika“ – englisch ISWAP
abgekürzt -, die seit 2016 dem damals in
Syrien und im Iraq (Irak) verankerten
„Islamischen Staat“ (IS) Loyalität schwor.
Bislang konnte der
Nordwesten Nigerias zwar nicht als ruhig
gelten, doch blieb der unmittelbare,
ideologisch fundierte Einfluss von
Jihadisten dort gering. Zu kämpfen hatte die
Bevölkerung eher mit weitgehend
ideologiefreien kriminellen Gangs, Banden
von bewaffneten Nomaden und Viehdieben. Auch
diese Konflikte ließen allerdings seit 2011
rund 8.000 Tote und 200.000
Binnenflüchtlinge zurück. Jihadisten suchen
nunmehr allerdings ein Joint-Venture vor
allem mit bewaffneten und mobilen
Nomadengruppen, die sich bislang auf rein
kriminelle Aktivitäten beschränkten. Imame,
die Ansara oder ISWAP nahe stehen, aber auch
Lebensmittellieferungen von diesen
Gruppierungen treffen in größererer Zahl in
den nordwestlichen Bundesstaaten wie
insbesondere Sokoto, Zamfara und Kaduna ein.
Diese Form von
Joint-Venture ringt den stärker sich
ideologisch legitimierenden, bewaffneten
Bewegungen nicht notwendig größere
Verrenkungen ab. Beruht doch ihre eigene
lokale Machtbasis im Kern auf einer
vergleichbaren Symbiose aus einer
Plünderungsökonomie, die auf dem Rücken von
Teilen der örtlichen Bevölkerung
funktioniert – allerdings zugleich
perspektivlosen jungen Männern eine
Anstellung als Kombattanten offeriert, für
einen Sold, der oft ein Fünf- bis
Sechsfaches dessen in den staatlichen
Sicherheitskräften beträgt – und
Bestrebungen zu ihrer ideologischen
Überhöhung. Bereits das erste Einsickern
jihadistischer Kräfte in die Sahelzone um
das Jahr 2003, damals in Gestalt
islamistischer Kader und Kämpfer, die
infolge der Niederlage ihrer
Bürgerkriegspartei im 1999/2000 beendeten
Bürgerkrieg in Algerien in die Wüste
auswichen, basierte just darauf. Die meist
aus urbanen Zonen im Norden Algeriens
stammenden islamistischen Aktivisten, die
ihren Krieg gegen den Staat verloren hatten,
wären in der Wüste nicht überlebensfähig
gewesen, hätten sie nicht ein Joint-Venture
mit nomadischen Schmuggler- und
Schleusergruppen in der Sahara eingehen
können. Deren Angehörige wussten wiederum,
wie man im Sahararaum überlebt. Seitdem hat
dieses Modell, das anfänglich in den
nördlichsten Teilen Malis begründet wurde,
eine Ausstrahlung in Richtung Süden in weite
Teile der Region entwickelt.
In der Vergangenheit trug
zu seiner ökonomischen Tragkraft ferner auch
bei, dass wahhabitische Kräfte in den
Golfstaaten über vermeintlich wohltätige
Vereinigungen sowie über Koranschulen, die
dieser Strömung im Islam angehören,
ebenfalls zur Finanzierung beitrugen. Die
Geldmittel aus den wohlhabenden Golfländern
dürften jedoch keineswegs mehr so üppig
fließen wie vor einem knappen Jahrzehnt.
Dazu trugen der Konflikt zwischen Qatar
einerseits und Saudi-Arabien sowie den
anderen Nachbarmonarchien seit 2017,
verstärkte Kontrollen durch die
Staatsapparate am Golf wie auch im Sahel,
aber in jüngerer Zeit auch der gesunkene
Ölpreis und die Paralyse des internationalen
Transportsektors durch die Covid19-Pandemie
bei.
Aufgrund ihrer
ökonomischen Basis, also einer Art
Beuteverteilung, erklärt sich auch die
Existenz einer Konkurrenz zwischen
unterschiedlichen jihadistischen Gruppen,
die keine organisatorische Vereinheitlichung
erreichen. Seit Anfang 2020 bekämpfen sich
auch die regionalen Ableger von Al-Qaida –
es handelt sich um die „Gruppe zur
Unterstützung des Islam und der Muslime“
(den GISM) - respektive des IS, in Gestalt
des „Islamischen Staates in der Großen
Sahara“, auf dem Staatsgebiets Malis sowie
Burkina Fasos. Im Falle Burkina Faso
behauptet der IS, Ende April 35 Anhänger des
GISM getötet zu haben. Im Landeszentrum
Malis, wo die Staatsmacht den GISM in
Verhandlungen einzubinden begonnen hat,
welche der IS rundheraus ablehnt,
durchkämmten IS-Kämpfer im Januar und
Februar alle einzelnen Dörfer, um ihre
Propaganda gegen „falsche Glaubenskämpfer“
abzusetzen, und bis Ende März sollen etwa
sechzig Anhänger der beiden konkurrierenden
Gruppierungen getötet worden zu sein.
Konkurrenz, ja Kämpfe untereinander
verhindern allerdings nicht immer die
Aktionseinheit gegen gemeinsame Feinde, es
sei denn, der GISM sollte im Rahmen eines
Abkommens später tatsÄchlich die Waffen
niederlegen.
Ein weiterer
Rekrutierungsfaktor für die Jihadisten liegt
im Legitimitätsmangel der örtlichen
Staatsstrukturen im Sahelraum. Neben den
vorkommenden Übergriffen einheimischer
Streitkräfte auf die Zivilbevölkerung tragen
dazu auch die Regierungsmethoden bei; etwa
die einer vorrangig Selbstbereicherung
betreibenden „politischen Klasse“ in Ländern
wie Mali oder in Nigeria, wobei im letzteren
Falle das Phänomen mafioser Strukturen durch
den Ölreichtum des Staats – von dem die
Mehrheitsbevölkerung allenfalls einen
geringfügigen Anteil abbekommt – potenziert
wird.
Proteste in Mali
Im westafrikanischen Mali
hat dies seit Anfang Mai 20 zu vermehrten
Unmutsbekundungen auch aus der so genannten
Zivilgesellschaft und zu Protesten, ohne
jegliche Verbindung zu islamistischen
Gruppen, geführt. Die Staatsführung unter
Präsident ibrahim Boubacar Keïta („IBK“)
hatte am 29. März dieses Jahres mitten in
der Coronavirus-Krise – während derer
Maßnahmen ergriffen wurden, die weitgehend
eine schlichte Kopie der bei der
Ex-Kolonialmacht Frankreich verfügten
darstellten und auch nahezu zeitgleich mit
denen in Frankreich gelockert wurden –
Parlamentswahlen abhalten lassen.
Entsprechend gering fiel der Enthusiasmus in
der Bevölkerung, wo vielfach von der Wahl
von „Corona-Abgeordneten“ gesprochen wurde,
aus. Die reale Wahlbeteiligung dürfte die
Zwanzig-Prozent-Marke nicht überschritten
haben.
Hinzu kam im Übrigen,
dass der parlamentarische Oppositionsführer
– der 2013 und 2018 gegen „IBK“ gescheiterte
Präsidentschaftskandidat Soumaïla am 25.
März, also vier Tage vor dem Wahltermin,
mutmaßlich durch Jihadisten entführt wurde.
Die Regierung entschied sich unbeirrt dazu,
die Wahlen einfach trotzdem abhalten zu
lassen, obwohl der Chef der stärksten
parlamentarischen Oppositionspartei URD
(Union für die Republik und die Demokratie)
aus diesem Grunde verschwunden blieb.
Bislang tauchte er nicht auf, doch die
Entführer meldeten sich zu Wort, um
anzukündigen, Cissé werde gut behandelt; man
werde ihn nicht freilassen, bevor sein Bart
nicht in salafistischen Vorstellungen
entsprechender, genügender Länge gewachsen
sei.
Wochenlang trafen keine
offiziellen Wahlergebnisse ein. Doch als
diese am 19. April verkündeten wurden, wies
die Präsidentenpartei RPM (Sammlung des
malischen Volkes) plötzlich eine
zweistellige Zahl von Sitzen zusätzlich zu
den in ersten Prognosen des
Innenministeriums angekündigten auf.
Daraufhin kam es zunächst zu Protesten, und
ab dem 06. Mai in einer Reihe von Städten
zur Explosion: von Kayes im Nordwesten bis
zu Sikasso im Südosten des Landes. In Kayes
wurde dabei am 11. Mai 20 ein junger Mann
durch die Polizei getötet, was den Zorn erst
recht anschwellen ließ. Präsident Keïta rief
persönlich zur Ruhe auf und kündigte
Gesprächsbereitschaft an. In der Hauptstadt
Bamako brannte es unter anderem in den
Stadtteilen Banconi, Lafiabougou,
Magnambougou, Ouzimbougou und Sébéniko,
wobei der Unmut über die Wahlresultate nur
einen Katalysator für die allgemeine
Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen
darstellte.
Editorische Hinweise
Wir erhielten
den Beitrag vom Autor für diiese Ausgabe.
Eine gekürzte Fassung
erschien am Mittwoch, den 20. Mai 20 in der
Berliner Wochenzeitung Jungle World |