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Lachen mit Eichmann
Wie Frank Castorf aus Robert Harris' Roman »Vaterland« einen Witz auf Auschwitz machte

von Joachim Rohloff

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Keine Idee ist so dumm, daß sie nicht irgendwann doch im Feuilleton stünde. Und weil es sich immer besonders gut macht, Inkommensurables in einen Topf zu werfen und hinter den Gegensätzen verblüffende Identitäten zu entdecken, die notfalls von einem Kalauer gestiftet werden, mußte spätestens nach fünfundfünfzig Jahren die »Zeit« zur Einsicht kommen, der Antifaschismus sowieso, aber auch die gutbürgerliche Vergangenheitsbewältigung erfüllten einen deutschen Wunsch nach Auslöschung und Vernichtung, wie man ihn bisher nur von den Nazis gekannt hatte: »Adolf Hitlers Dasein erscheint als der größte Einzelfehler, den die Schöpfung je beging. Alle politisch korrekten Wunschphantasien, die sich an ihm entzünden, sind Auslöschungsphantasien.« Solche unerfüllbaren Wünsche der Vergangenheit sind schlichtweg pervers, weil sie erst heute entstehen und diagnostiziert werden, obwohl doch Hitler und die Seinen längst von selbst erloschen sind und die Ahnung nicht ganz unbegründet scheint, »daß die Deutschen nie den Mut, den Witz, die Wut gehabt hätten, Hitler loszuwerden«.

Bekanntlich wurde er vom britischen Humor überwältigt, und deshalb konnte nur ein Engländer in aller Gemütsruhe ein Buch schreiben, »das an Hitler keine Vernichtungsphantasie abarbeitete, sondern eine Phantasie des Beharrens«. Gemeint sind Robert Harris und sein Roman Vaterland: Die Deutschen haben den Zweiten Weltkrieg gewonnen und beherrschen ganz Europa, der Mord an den Juden ging nach 1945 weiter, er forderte nicht sechs, sondern elf Millionen Opfer, und zugleich ist die von Primo Levi überlieferte Prophezeiung eines SS-Offiziers wahr geworden: »Wie immer dieser Krieg auch enden mag, wir haben den Krieg gegen euch gewonnen; von euch wird niemand übrigbleiben, um Zeugnis abzulegen, aber selbst wenn jemand übrigbleiben sollte, würde die Welt ihm nicht glauben. Es wird vielleicht Verdacht geben, Diskussionen, Untersuchungen von Historikern, aber es wird keine Gewißheit geben, denn wir werden die Beweise zusammen mit euch zerstören. Und selbst wenn einige Beweise übrigbleiben und einige von euch überleben sollten, werden die Leute doch sagen, daß die Vorgänge, die ihr beschreibt, viel zu monströs sind, um glaubhaft zu sein: Sie werden sagen, daß das Übertreibungen der alliierten Propaganda sind, und uns glauben, die wir alles abstreiten werden, und nicht euch. Wir werden die Geschichte der Lager diktieren!«

Im April 1964, während die nach Speers Plänen erbaute Reichshauptstadt Germania für den 75. Geburtstag des Führers und den ersten Staatsbesuch des amerikanischen Präsidenten Joseph Kennedy hergerichtet wird, kommt der Sturmbannführer und Kriminalkommissar Xaver März einer Mordverschwörung auf die Spur. Alle Teilnehmer der Wannsee-Konferenz sollen beseitigt werden, damit die staatstragende Lüge, die Juden seien ostwärts umgesiedelt worden und lebten dort in bescheidenen, aber erträglichen Verhältnissen, nie mehr in Gefahr gerät. März entdeckt Dokumente, die den Holocaust beweisen, es gelingt ihm aber nicht, sie außer Landes zu schaffen, und so kommt es schließlich zu einem diplomatischen Arrangement zwischen Deutschland und der konkurrierenden Weltmacht USA.

Harris kombinierte historische Fakten mit Fiktionen, und während er seinen Thriller schrieb, wurden die Fiktionen allmählich wahr: »Das nun wiedervereinigte Deutschland bildet einen Staat von fast 80 Millionen Menschen, und Berlin wurde die neue Hauptstadt ... Man muß nicht die Ansichten von Nicholas Ridley oder Margaret Thatcher teilen, um die Ähnlichkeit zwischen dem, was die Nazis mit Westeuropa vorhatten, und dem, was sich in wirtschaftlicher Hinsicht augenblicklich in Europa abspielt, zu bemerken ... Die Deutschen planten einen Handelsblock, in dem die europäischen Währungen an die Reichsmark gebunden würden; die Geldpolitik sollte von einer europäischen Zentralbank kontrolliert werden, die ihren Sitz in Berlin hatte. Fünfzig Jahre später, und das Pfund, der Franc und die Lira sind in den Wechselmechanismus eingebunden, die nationalen Leitzinsen werden von den Deutschen festgelegt, Kanzler Kohl besteht auf Frankfurt als Sitz der Europäischen Zentralbank. In der Vorstellung des Nazi-Regimes sollten die britische, französische und italienische Wirtschaft kleine Satelliten sein, die um die Sonne Deutschland kreisen. Ist das etwa nicht eingetroffen? Als ich 1988 anfing, meinen Roman zu schreiben, fingierte ich eine Welt, in der die Sowjetunion von der Landkarte verschwunden war, als ich mein Buch Anfang 1992 beendete, hatte sich die UdSSR aufgelöst. Hitlers zentrale Kriegsziele sind eins nach dem anderen erreicht worden ... Schließlich könnte man der Liste erreichter Kriegsziele noch eine grausige Ergänzung hinzufügen: Hitler träumte von einem Europa ohne Juden. Ein halbes Jahrhundert später ist das deutsche und osteuropäische Judentum bis auf einen Bruchteil seiner Vorkriegsanzahl ermordet oder vertrieben, und russische und ukrainische Juden verlassen den Kontinent in so großer Zahl, daß Israel nicht damit fertig wird.«

Kein Wunder, daß Deutschland solcherart Fiktion übel aufnahm. Obwohl Fatherland in England und den USA schnell zum Bestseller wurde, verzichteten 25 deutsche Verleger lieber auf das Geschäft, als sich zum Instrument »antideutscher« Unterstellungen zu machen. Die deutsche Ausgabe erschien erst mit einiger Verspätung im Schweizer Haffmans Verlag. Der »Spiegel« sprach von »ein bißchen Holocaust für die Horror-Freunde« und nannte Harris »skrupellos«, die »Zeit« fühlte sich von seiner »frivolen Geschmacklosigkeit« beleidigt und warf ihm vor, er betreibe seine literarische Karriere auf Kosten der Deutschen.

Seitdem es als ausgemacht gilt, daß man Proust nicht nur lesen, sondern auch tanzen kann, taugt jeder Stoff fürs Theater. Die Frage aber, was Frank Castorf bewog, Harris' Roman fürs Hamburger Schauspielhaus und für die Berliner Volksbühne zu dramatisieren, weckte einige Befürchtungen: Vor Jahren erlag er dem Charme »faschistoider, vitaler Gedankengänge« und sehnte

sich nach einer Apokalypse und ein paar reinigenden Stahlgewittern. Die Hamburger Premiere fand ausgerechnet am 20. April statt. Auf der Homepage der Volksbühne durfte man lesen, Castorf habe endlich »einen theatralischen Stoff entdeckt, an dem ihn jenseits von Historikerstreit und Totalitarismusdebatte vor allem auch die spielerischen Parallelen zwischen den Alltagserfahrungen der imaginierten Nachkriegsnazizeit und der realexistierenden DDR reizen. Eine Ostalgie unter anderen Vorzeichen: Die Sehnsucht nach geordneten diktatorischen Verhältnissen, in denen die Ideale von Freiheit und Selbstbestimmung noch einem selbst gehören, in Abgrenzung gegen ein System, dem man zwar äußerlich nicht entkommt, das einem aber das eigene Innere vielleicht nicht in dem Maße enteignet wie die sozialökologische Marktwirtschaftsdemokratie.« In der DDR mußte er faschistisch auftrumpfen, um überhaupt wahrgenommen zu werden, im neuen Deutschland rettet er faschistisch seine Seele. Anders, so scheint es, weiß sich der Mann nicht zu helfen.

Zum Glück inszenierte Castorf weder die Alltagserfahrungen noch ihre spielerischen Parallelen und auch die Rettung seines Inneren nicht, sondern bloß den üblichen Klamauk. Neuerdings treibt man auch mit dem Holocaust allerhand Scherze, und so hätte Castorfs Stück statt Vaterland auch »Dick und Doof in Auschwitz« heißen können. Man rennt mit Schmackes gegen geschlossene Türen, und durch eine offene Tür drängeln sich gleichzeitig sechs Männer. Neben allem anderen, was sie sonst noch waren, soll das wohl heißen, waren sie ja auch irgendwie ganz schön komisch, diese Nazis. Xaver Märzens geschiedene Frau schwenkt ausgiebig ihren nackten Silikonbusen über die Bühne. Und natürlich dürfen auch solche Dialogsätze nicht fehlen: »Zieh deine Hose aus! Ich will dich in den Arsch ficken!« Martin Luther, Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt und Organisator der Deportation von Juden aus West- und Südeuropa, ist ohnehin schon komisch, noch komischer wird er, wenn der Schweizer Bankdirektor, in dessen Tresor das Protokoll der Wannsee-Konferenz lagert, ihn »Ulrich Zwingli« nennt.

Irgendwann während der langen zweieinhalb Stunden fragte man sich doch, ob es, wenn es denn unbedingt gemacht werden mußte, nicht besser das »Theater am Kurfürstendamm« gemacht hätte. Womöglich wäre ein spannendes Kriminalstück herausgekommen, und am Ende hätte Heinz Drache den Führer verhaftet. Statt dessen bestaunte man einen Gag, der gewiß nicht jedem eingefallen wäre, aber doch fast jedem, und den jeder andere als Castorf sogleich wieder vergessen hätte: Eichmann sang Randy Newmans »Short People« und tanzte dazu.

Die Hamburger Uraufführung dauerte vier Stunden und endete mit einer Lesung aus dem Protokoll jener »Konferenz über die Judenfrage«, in der Goebbels, Göring und ein Vertreter der »Allianz« sich drei Tage nach der Pogromnacht von 1938 darauf einigten, den Schaden hätten die Juden zu bezahlen. Eine solche Darbietung aber war dem Hamburger Publikum unerträglich und dem Berliner kaum mehr zuzumuten - nicht wegen ihres bestürzenden Inhalts, sondern wegen ihrer übertriebenen Dauer. Für die Berliner Fassung wurde also das dokumentarische Material, das schon Harris verwendet hatte, entschieden gekürzt. Die wenigen Bruchstücke, die übrigblieben, wirkten inmitten der szenischen Ausstellung von Regieeinfällen nur noch peinlich. Soeben wollte Gauleiter Globocznik den Studenten Jost ficken, nun trat er in Görings Prachtuniform an die Rampe und deklamierte Himmlers berüchtigten Ausspruch vom niemals geschriebenen und niemals zu schreibenden Ruhmesblatt der SS: den Anblick Tausender Leichen ertragen zu haben und dabei anständig geblieben zu sein.

Den Höhepunkt der Handlung, nämlich die Entdeckung der letzten Spuren des Vernichtungslagers Auschwitz, hat Castorf gründlich vergeigt: März und sein Kollege Jäger spielen Auto, machen brummbrumm und richten die Nebelmaschine in den Zuschauerraum. Das war's. Sein Gespür für theatralische Effekte aber bewies er immerhin mit der allmählichen Steigerung der Peinlichkeit. Sie kulminierte tatsächlich am Schluß des rundherum peinlichen Abends, als das ganze Ensemble ein jiddisches Lied sang: »Das Schtedl brennt.« Hätten die Nazichargen gesungen: »Hurra, die Judenschule brennt!«, es hätte ebenso gut gepaßt.

Joachim Rohloff porträtierte in KONKRET 5/2000 Edmund Stoiber