Kritik der politischen Ökonomie
der Sowjetunion


von Wal Buchenberg
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Einleitung: Das Unvermeidliche verstehen

Die Krisenstimmung, die sich unter den Linken nach 1989 ausbreitete, ist verflogen. Heute werden wieder Projekte geschmiedet und wird an politischen Karrieren gebastelt. Da werden vergangene Niederlagen und Krisen gerne vergessen, und solche Krisensituationen der Linken waren reichlich: Die Krise von 1914 als die europäische Linke nur noch Vaterländer und keinen Antimilitarismus mehr kannte; die Krise von 1919, als die deutsche Revolution zusammenbrach; die Krise von 1933, als Kommunisten und Sozialdemokraten vor dem Pakt der Mächtigen mit Hitler kapitulierten; die Spanienkrise, die offenbar machte, daß die Linke nicht in der Lage war, den Faschismus zu stoppen; schließlich die Krise der Nachkriegszeit, als in Westdeutschland doch nur eine Restauration samt KPD-Verbot herauskam, und in Ostdeutschland nichts gegen den Willen Moskaus ging.

Nach der Niederlage der Pariser Kommune hatte Friedrich Engels allen Linken ins Stammbuch geschrieben: „Natürlich folgt Enttäuschung auf Enttäuschung, und da man diese nicht den unvermeidlichen historischen Verhältnissen, die man nicht verstehen will, sondern zufälligen Fehlern einzelner zuschreibt, so häufen sich die gegenseitigen Anklagen, und das Ganze endigt in einem allgemeinen Krakeel.“ (MEW 18, S. 528)

Von Anfang an, seit Oktober 1917, sorgte die russische Revolution und die Geschichte der Sowjetunion für Krakeel unter den Linken. Trotz dieses Krakeels war die UdSSR gemeinsamer Orientierungspunkt: Für alle marxistischen Strömungen, Gruppen und Parteien im Westen blieb die UdSSR Vorbild, aber nie die ganze Sowjetunion mit ihrer ganzen Geschichte, sondern immer nur ein besonderer historischer Abschnitt, der jeweils von einer einzelnen politischen Strömung für orthodox marxistisch und zum sozialistischen Modell verklärt wurde:

Die Erinnerung an den nachrevolutionären Kriegskommunismus in Rußland nährte den Trotzkismus; die "Neue Ökonomische Politik" von 1921 bis 1928 blieb die heimliche Utopie von linken Sozialdemokraten; der "Stalinismus" von 1930 bis 1952 wurde zum Vorbild der Marxisten-Leninisten; die Reformversuche unter Chruschtschow wie unter Gorbatschow machten linken Intellektuellen Hoffnungen auf eine einfache Versöhnung von Intelligenz und Arbeiterbewegung; die Erstarrung und Vergreisung der nachstalinistischen Sowjetunion schlug mit ihrer beeindruckenden militärischen Macht noch alle westlichen "Realsozialisten" in den Bann. Die Fixierung auf die Sowjetunion wurde um so stärker, je mehr man den Glauben an das revolutionäre Potential der westeuropäischen Arbeiterklassen verloren hatte und daher vor der Wahl stand, entweder alle Hoffnungen auf Sozialismus und Kommunismus sein zu lassen oder auf die „brüderliche Hilfe“ der sowjetischen Rubel und Panzer zu bauen.

Die Große Sozialistische Oktoberrevolution hat nicht zum Aufbau des Sozialismus geführt. Sie hat ihre Versprechen nicht gehalten. Immerhin hat sie die zaristische Despotie gestürzt, zur Beendigung des ersten Weltkrieges beigetragen und anschließend einen Neuaufschwung der Arbeiterbewegung und der antiimperialistischen Befreiungsbewegung in der ganzen Welt gefördert. Sie hat im Innern die vom Zarismus unterjochten Agrargesellschaften des russischen Großreiches aufgelöst und industrialisiert und im zweiten Weltkrieg dem Wahn von der deutschen Weltherrschaft ein dauerhaftes Ende bereitet. Ganz zum Schluß hat sie mit dem eigenen Zusammenbruch auch das in Form der UdSSR weiterbestehende zaristische Imperium zerbrochen und den Völkern und Nationen dieses Großreiches ihre Selbstbestimmung zurückgegeben.

Vor der Geschichte sind diese Ergebnisse ansehnlich genug, um positiv aufbewahrt zu werden. Trotzki, Lenin und Stalin und ihre Genossen werden weiter als große historische Gestalten gelten, auch wenn sie nicht mehr als Heilige verehrt werden(1). Aber die historischen Ergebnisse dieser proletarischen Revolutionäre waren sämtlich bürgerlicher Natur. Die sowjetische Geschichte erscheint im Nachhinein als großer Irrtum.

Zwar löste auch jede bürgerliche Revolutionen andere Fragen, als sie sich selbst gestellt hatte, aber die proletarische Revolution kann sich nicht damit zufrieden geben, irgendwelche geschichtlichen Probleme zu lösen, denn sie beansprucht die letzte (politische) Revolution der Geschichte zu sein. Ihre selbst gestellte Aufgabe ist es, "den Umkreis der die Menschen umgebenden Lebensbedingungen, der die Menschen bis jetzt beherrschte",... "unter die Herrschaft und Kontrolle der Menschen" zu stellen. "Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maß auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit." (F. Engels, MEW 19, S.226).

Es gibt noch ein paar Linke, die in dem großen Scherbenhaufen der sowjetischen Geschichte nach heilen sozialistischen Stücken suchen. Da werden Kinderkrippenplätze oder Staatspensionen für verdiente Künstler zum hehren Zweck der Russischen Revolution verklärt. Wem an den Zielen der Oktoberrevolution gelegen ist, gibt sich mit solch billigen Tröstungen nicht ab und versucht statt dessen „die unvermeidlichen historischen Verhältnisse“ (F. Engels) zu verstehen: was geschehen ist, und warum es geschehen mußte.

Indem die Linke im Westen nicht die Sowjetunion als Ganzes, sondern nur jeweils ein historischer Abschnitt zum sozialistischen Modell erklärt wurde, gab es im Westen scheinbar mehrere Alternativen zum Kapitalismus. Nach dem ruhmlosen Ende der UdSSR kann nun jede linke Strömung mit gleichem Recht sagen, alle gegnerischen Linken seien in und mit der Sowjetunion gescheitert. Linker Optimismus läßt sich aus der Geschichte der UdSSR nicht mehr schöpfen. Die Sowjetunion bleibt das Gespenst aller Linken. Dieses Gespenst wird nur los, wer die hohl gewordenen Versprechungen der Sowjetführer links liegen läßt und den sowjetischen Alltag kennenlernt.

Daß das Wesen des Sowjetsystems in seiner politischen Ökonomie zu finden ist, halte ich nicht für begründenswert, auch nicht, daß ich den Weg zum Verständnis der Sowjetwirtschaft durch Vergleich mit der Analyse der kapitalistischen Verhältnisse suche, wie sie Marx in den drei Bänden des Kapitals niedergelegt hat. Bliebe nur zu begründen, daß ich das Sowjetsystem trotz aller politischen Richtungswechsel von 1917 bis 1991 als eine Einheit ansehe. Dies kann jedoch nur durch die gesamte Darstellung begründet werden.

[1] Herren wie Dimitri Wolkogonow ändern daran wenig. In seinem Buch: Lenin. Utopie und Terror. Düsseldorf 1994; findet der Autor , ehemaliges sowjetisches ZK-Mitglied und jetziger Berater von Jelzin mit Zugang zu bisher geheimen Akten, vor allem an Lenin auszusetzen, daß er die militärische Niederlage des Zarismus im ersten Weltkrieg mitverschuldet hat („Die Bolschewiki hatten mit ihrer Propaganda einen bedeutenden Anteil an der Niederlage der russischen Armee.“ S. 105) und daß Lenin als Regierungschef alle (damals) üblichen Machtmittel des Staates einschließlich der Todesstrafe nutzte.

Wal Buchenbergs  "Kritik der politischen Ökonomie der Sowjetunion" gibt es hier komplett als Downloaddatei udssr.zip (70KB, word)