Quelle: ak - analyse & kritik,  Nr. 439 / 08.06.2000

Auf Schäubles Spuren
Joschka Fischer und die Kontinuität deutscher Außenpolitik

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Ein unerwartetes Déjà-vu-Erlebnis bereitete Außenminister Fischer der internationalen Öffentlichkeit: Seine "Vision" vom Europa der Zukunft ist im Wesentlichen eine Neu-Auflage der 1994 veröffentlichten "Kerneuropa"-Thesen der CDU/CSU-Fraktion. Was damals in der regierungskritischen Presse verrissen wurde, stößt heute auf fast ungeteilte Begeisterung.

Schon bei seinem Amtsantritt hatte Fischer die letzten grünen TräumerInnen desillusioniert: Er werde keine grüne, sondern deutsche Außenpolitik machen. Deren bisheriger Höhepunkt, die Beteiligung am NATO-Krieg gegen Rest-Jugoslawien, zeigte den grünen Vizekanzler Seit' an Seit' mit Kriegsminister Scharping. Selbst die Rhetorik war vereinheitlicht: Man bombte aus moralischer Verantwortung und wegen Auschwitz.

Danach wurde es still um den großen Joschka; in den Gazetten wurde gar von "Amtsmüdigkeit" gemunkelt. Nun hat er einen "ganz persönlichen" Vortrag gehalten über seine "europäische Vision", und fast alle sind hingerissen von seiner "fulminanten Rede" (taz), mit der er sich "in die erste Riege der europäischen Gestalter katapultiert" habe. (Frankfurter Rundschau).

Machtpolitik als Naturgesetz

Dabei hat er lediglich gesagt, was alle wissen, aber für gewöhnlich nicht aussprechen: Dass zwar alle EU-Staaten gleich, einige aber "gleicher" sind als andere, namentlich Deutschland und Frankreich. Sie müssten das europäische "Gravitationszentrum" bilden - was Gravitation genau bedeutet, wissen zwar die wenigsten, es klingt aber gewichtig nach Naturgesetzen, denen man sich nicht widersetzen kann: Wenn die E-Kerngruppe per "Verfassungsvertrag" die "Souveränitätsteilung" zwischen Nationalstaat und Union beschließt, sich eine gemeinsame Exekutive mit direkt gewähltem Präsidenten gibt, werden die europäischen Zwerge schon irgendwann mitgerissen; die Einzelheiten der Vereinigung sind verhandelbar, etwa ein parlamentarisches Zwei-Kammer-System mit der Elite nationaler Abgeordneter in Doppelfunktion.

Die christliche Opposition reagierte uneinheitlich auf Fischers Rede. Bei der CSU wurde wie üblich gepöbelt, während kühlere christdemokratische Köpfe "Ideenklau" beklagten - mit vollem Recht. Denn das, was Fischer als eigene Kreation ausgab, war schon 1994 von der CDU/CSU-Fraktion vorgelegt worden. Federführend waren damals der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble und der außenpolitische Sprecher Karl Lamers, die den "Europa-Gedanken" in deutsch-französische Macht- und Interessenpolitik übersetzten. Ein "Kern" - bestehend aus der BRD, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg - sollte nach dem Prinzip der "variablen Geometrie" bzw. der "mehreren Geschwindigkeiten" den übrigen EU-Staaten und den Beitrittskandidaten zeigen, wo es lang geht: "Die Bildung einer Kerngruppe ist kein Ziel an sich, sondern ein Mittel, an sich widerstreitende Ziel - Vertiefung und Erweiterung - miteinander zu vereinbaren."

Warnung an die Nachzügler

Auch 1994 waren diese Thesen mit ausgewählten "ausländischen Freunden" abgestimmt. Der konservative französische Premier Balladur hatte wenige Tage vor Veröffentlichung des CDU/CSU-Papiers ebenfalls von einem "Kern" und einem Europa "verschiedener Geschwindigkeiten" gesprochen. Der aktuelle Gefühlsausbruch des französischen Innenministers Chevènement sollte nicht überbewertet werden. Dass Deutschland "noch nicht geheilt ist von der historischen Entgleisung des Nationalsozialismus", ist eine (undiplomatische) Platitüde; es hat die französischen Regierungen bisher nicht abgehalten, mit Hilfe der "Achse" Paris-Bonn bzw. Paris-Berlin die Rolle der zweiten europäischen Supermacht zu spielen. Der amtierende französische Außenminister Védrine begrüßte Fischers Vorstoß denn auch ausdrücklich.

Die verhaltenen Proteste Großbritanniens, Spaniens und der kleineren Länder sind da lediglich lästige Begleitmusik - die "üblichen pawlowschen Reaktionen", wie FR-Redakteur Martin Winter die niederen Instinkte der Nachzügler beschreibt. Dass aus der großen "Vision" in absehbarere Zeit etwas wird, muss allerdings bezweifelt werden - eine starke europäische Zentralregierung ist nicht einmal in Ansätzen zu erkennen. Dennoch ist Fischers Rede mehr als der Versuch, sich werbewirksam als "großer Europäer" in Szene zu setzen. Wirkung hatte sie vor allem als Drohung an die renitenten Kleinen der EU, die den ganzen Laden aufhalten. Das unausgesprochene "Wir können auch anders", als ständig um Konsens und Einstimmigkeit zu ringen, soll die Querulanten gefügig machen. Vorgetragen von einem "Alt-68er" und präsentiert als Frucht geistigen Ringens, war Fischers Rede der Beifall derer, auf die es ankommt, von vornherein sicher.

Man soll's ja nicht beschreien, aber dieser deutsche Außenminister kann es im Europa der Zukunft noch weit bringen. Die grüne Partei, die ihn immer wieder hindert, so richtig Stärke zu zeigen, hat er längst hinter sich gelassen. Das rot-grüne Intermezzo dürfte spätestens nach der Bundestagswahl 2002 zu Ende sein. Es ist kaum vorstellbar, dass das größte "Naturtalent" der deutschen Politik in die Reihen der (dann wahrscheinlich außerparlamentarischen) grünen Opposition zurückkehrt.

Js.

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