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Adieu, weibliches Kollektivsubjekt
Wofür Feministinnen die Identität "Frau" nicht mehr brauchen.
von Stefanie Gräfe

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Über Identitäten zu sprechen ist vielerorts immer noch oder neuerdings en vogue. Oft wird dabei ein aufgeregter Ton angeschlagen: Manche halten die Dekonstruktion von Identitäten für das ultimative Programm, das selig macht und keine Wünsche offen lässt. Andere reden über Identitäten wie über bedrohte Tierarten. Tatsächlich besteht kein Grund zur Aufregung. Denn dass jede Identitätspolitik früher oder später ihre eigenen Grundlagen in Fragen stellen muss, ist sowieso unvermeidlich. Das ultimative Programm zur effektiven Bekämpfung aller Herrschaftsverhältnisse ist aber weder Identitätspolitik noch ihre Dekonstruktion. Identitätspolitik zu hinterfragen heißt nicht mehr und nicht weniger als das eigene Politikverständnis zum Objekt von Herrschaftskritik zu machen. Was das bedeutet, wird im folgenden an einem Fallbeispiel erläutert: der feministischen Identität "Frau".

Es ist eigentlich unmöglich, die Geschichte von Identitätspolitik in Vergangenheitsform und die Kritik der Identitätspolitik im Präsens zu erzählen. Das klingt, als hätte die Kritik alle Formen von Identitätspolitik aus der Welt geschafft und als wäre "die" Frauenbewegung mittlerweile erfolgreich geläutert. Dem ist nicht so. Eher ist völlig unklar, auf wen oder was sich heute der Name "Frauenbewegung" überhaupt bezieht. Auch ist es unzulässig verkürzt, von "Schwarzen" und "Weißen" Frauen zu sprechen, denn es unterstellt, diese Bezeichnungen hätten einen festen und eindeutigen Bezugspunkt. Auch den gibt es nicht. So können "vorher", "nachher", "schwarz" und "weiß" nicht mehr sein als grobe Orientierungshilfen, die die Kritik an Identitätspolitik auf sehr subjektive Weise erzählbar machen. Viele andere Erzählungen sind denkbar.

In dieser Erzählung sind Identitätspolitiken alle Politikansätze, die sich auf ein gegebenes Kollektiv beziehen. Wobei die Betonung auf "gegeben" liegt: Nicht die gemeinsame Politik ist das Verbindende, sondern umgekehrt entsteht die gemeinsame Politik aus einer bereits existierenden Verbindung. Die kann ganz unterschiedlich begründet sein, historisch-politisch, psychologisch, esoterisch oder biologisch. Im Fall der feministischen Identität "Frau" gilt: Wie unterschiedlich, widersprüchlich und heterogen feministische Identitätspolitiken auch waren und sind, sie alle gehen davon aus, dass es etwas gibt, was Frauen prinzipiell von Männern unterscheidet. Der kleine Unterschied wird in feministischer Identitätspolitik groß gebeamt.

So ist ein mögliches Ziel feministischer Identitätspolitik, das wiederzuerobern, was im Patriarchat "entfremdet" oder "unterworfen" ist - der Kampf um das, was Frauen "in echt" ausmacht. Was ja nicht dasselbe ist wie die gesellschaftliche Realität von Frauen. Feministischer Identitätspolitik geht es gerade darum, diese Realität von Frauen so zu verändern, dass ein nicht-entfremdetes Frausein frei entfaltet werden kann. Wenn es aber eine "eigentliche" Weiblichkeit gibt, die von der gesellschaftlich definierten Weiblichkeit abweicht, dann muss das um der Klarheit willen auch begrifflich unterschieden werden. Deshalb wurde für Feministinnen die Unterscheidung zwischen dem biologischen und dem sozialen Geschlecht wichtig. Sie sollte Wunsch und Wirklichkeit, Wesen und Utopie von Frauen auseinander halten helfen. Englischsprachige Feministinnen hatten es in dieser Hinsicht von Anfang an leichter, unterscheidet man im Englischen doch sowieso zwischen sex, dem biologischen Geschlecht und gender, dem sozialen Geschlecht. Jedenfalls kann mit diesen Begriffen der Ort, an dem die Unterdrückung stattfindet, präzise bestimmt werden als gender, als soziales Geschlecht. Das eigentliche Geschlecht, sex, bleibt entsprechend verschont von politischen Forderungen und feministischen Utopien - es bleibt Natur.

Feministische Identitätspolitik zielte, anders formuliert, vor allem darauf ab, das soziale Geschlecht Frau von seinen patriarchalen Fesseln zu befreien, um es zur Wahrheit des natürlichen Geschlechtes zurückzuführen. Feministische Identitätspolitikerinnen kritisierten zwar die spezifische, patriarchale Bestimmung des sozialen Geschlechts. Die Unterscheidung zwischen sex und gender stellten sie aber nicht in Frage. Und das hieß auch, dass die naturgegebene Existenz zweier (und nur zweier) grundsätzlich verschiedener Geschlechter fraglos akzeptiert wurde.

Feministische Identitätspolitik ging davon aus, dass es ein alle Frauen verbindendes Band gibt, und zwar unabhängig davon, in welcher Klasse, in welchem Land und zu welcher Zeit Frauen geboren werden. Stärker esoterisch eingefärbte Strömungen begaben sich zum Beispiel auf die Suche nach der eigentlichen Weiblichkeit, von der angenommen wurde, dass sie das Gegenteil traditioneller Charakterzuschreibungen verkörperte: weiblich sein sollte heißen, wild zu sein, unbeherrschbar, körperlich, lustbetont, stark und widerspenstig. Autonome linke feministische Strömungen definierten in Abgrenzung dazu als gemeinsame Grundlage für die Identität "Frau" weniger einen idealtypischen "Wesenskern" der Frau, als vielmehr die kollektive Erfahrung von patriarchaler Unterdrückung. Sie beschäftigten sich folglich mit sexueller Gewalt, ökonomischer Ausbeutung, repressiver weiblicher Sozialisation und struktureller Benachteiligung von Frauen. Diese Form von Identitätspolitik brachte in der Vergangenheit viele bis dahin ungehörte Erfahrungen in- und außerhalb der Linken ans Tageslicht; so etwa die Thematisierung alltäglicher sexualisierter Gewalt. Sie eröffnete für Frauen einen Raum, untereinander, aber auch öffentlich über ihre Erfahrungen zu sprechen. Deswegen war sie wichtig. Gleichwohl ist sie an zentralen Punkten problematisch geworden.

Widerspruch dem Hauptwiderspruch

So unterschiedlich die einzelnen Strömungen waren, eines verband sie auf jeden Fall bis ungefähr Ende der 80er Jahre: die Annahme einer universalen Unterdrückungsstruktur, die materiell und ideologisch Leben, Arbeit, Reproduktionsarbeit und Körper von allen Frauen weltweit unterwirft und ausbeutet. Eben das Patriarchat. Aber irgendwann geriet das Statut vom universellen Patriarchat ins Wanken. Wobei das innerhalb der Frauenbewegung kein Selbstgänger war, sondern das Ergebnis zäher, harter und - für diejenigen, die die Kritik vorgebracht hatten -, auch frustrierender Kämpfe.

Die Kritik an einem Patriarchatsbegriff, der auf der Annahme eines universalen feministischen Kollektivs basiert, wurde von Schwarzen Frauen in den USA und in der Bundesrepublik von Migrantinnen und Schwarzen deutschen Frauen artikuliert. Sie wies nach, dass die Unterstellung "das Patriarchat ist universal" oder, positiv gewendet, "Frauen weltweit sind Schwestern" nichts anderes war als der Reflex eines Emanzipationsbegriffes, der von und für weiße, europäische Mittelklasse-Frauen gedacht war. Den Anspruch, für alle Frauen dieser Welt sprechen zu können, konfrontierten Schwarze Frauen mit dem faktischen Ausschluss von Frauen. Dabei beschränkten sie sich nicht darauf, die Ausschlussmechanismen der bürgerlichen, patriarchalen Gesellschaft zu kritisieren.

Sie skandalisierten gerade die üblicherweise unsichtbar arbeitenden Verfahren der Ausgrenzung innerhalb der Frauenbewegung und anderen sozialen, linken Bewegungen. Denn die Ausblendung von konkreten Erfahrungen von Frauen, die von der weißen, europäischen Mittelschichtsnorm abweichen, war vielerorts unhinterfragte Basis auch feministischer Theorie und Praxis. Diese Ausblendung und die These vom universellen Patriarchat gehörten zusammen, stützten und bedingten einander. Damit wurde die Frage nach den Unterschieden zwischen rassistischer und sexistischer Unterdrückung zweitrangig. Frauen galten nicht wenigen weißen Feministinnen als "Neger der Welt" und damit erschöpfte sich ihr Beitrag zum Thema Rassismus.

Die rassistische Verteilung von Ressourcen und Macht unter Frauen zu thematisieren, stand nicht auf der Tagesordnung. Welche Frauen die Möglichkeit haben, an akademischen und/oder politischen Diskursproduktionen teilzuhaben, wurde nicht systematisch hinterfragt und so, ob gewollt oder ungewollt, stabilisierte feministische Identitätspolitik rassistische und Klassen-Hierarchien. Konsequenterweise wurden Schwarze Frauen in einer solchen Logik dann häufig entweder als pädagogische Objekte konstruiert nach dem Motto "weiße Akademikerinnen wissen, was (schwarze) Frauen wünschen", womit sich der bürgerliche weiße Feminismus wiederum als Maßstab etablierte. Oder umgekehrt wurden Schwarze Frauen zu Expertinnen für Rassismus erklärt, womit sich Weiße Frauen ihrer Zuständigkeit und Verantwortung entledigten.

Fallstricke der Identitätspolitik

Dem Mythos der "großen feministischen Familie" entgegneten Schwarze Feministinnen, dass es eben kein universelles Subjekt Frau gibt, sondern vielfältige unterschiedliche Positionen von Frauen, die aus der Überschneidung von Geschlecht, "Rasse" und Klasse entstehen. Macht werde eben nicht nur von Männern über Frauen ausgeübt, sondern auch von Weißen über Schwarze. Unterdrückung entstehe nicht aus einem grundlegenden Hauptwiderspruch, sondern aus der Verflechtung verschiedener ineinander greifender Unterdrückungsstrukturen. Und diese Kritik ist konsequent feministisch. Denn der Feminismus und die Neue Frauenbewegung waren gerade auch als Reaktion auf eine Linke angetreten, die immer wieder die Produktionsverhältnisse als Hauptwiderspruch und das Proletariat als revolutionäres Subjekt konstruiert hatte. Eine Linke, die davon ausging, dass sich die Frage der Ungleichheit der Geschlechter nach der Revolution schon von selbst erledigen würde. Insofern war es historisch nur folgerichtig, dass der Feminismus von innen heraus genau da in Frage gestellt werden musste, wo er seinerseits einen Hauptwiderspruch konstruierte.

Die Diskussion um Rassismus ist sicherlich das bekannteste Beispiel für die innerfeministische Kritik an Identitätspolitik. Etwas weniger populär sind die folgenden zwei Fälle: erstens die Diskussion um den Mythos vom "Faschismus als höchste Form des Patriarchats", in dem dann Frauen logischerweise vor allem Opfer gewesen sein sollen - inklusive KZ-Aufseherinnen und SS-Ehefrauen.

Die sogenannte Debatte um Mittäterschaft - wobei der Begriff auch bereits problematisch ist, da er eine originäre Täterschaft von Frauen ausschließt - stellte diesen Mythos von "der Frau" als Opfer des NS und als allgemeines Opfer des Patriarchats in Frage. Zugleich wurde, auf die Gegenwart bezogen, die Frage nach der Beteiligung von Frauen an Verhältnissen materieller und auch sexueller Gewalt und Ausbeutung gestellt. Die Rolle von Frauen/Müttern im Zusammenhang mit sexueller Gewalt in der Familie wurde hinterfragt, die Debatte um "Täterschutz", auch in der Linken, begann. Hier wurde gleichzeitig versucht, die Mittäterinnenschaft von Frauen zwar abstrakt zu denken, allerdings ohne die gemeinsame Identität als Opfer aufzugeben, nach folgendem Muster: Frauen werden durch Sozialisation von sich selbst so entfremdet, dass sie darauf getrimmt werden, sich schützend vor gewalttätige Männer zu stellen; andererseits sagen Frauen, sobald es um sexuelle Gewalt geht, immer die Wahrheit. Diese widersprüchliche Identitätskonstruktion in praktische Politik umzusetzen, erwies sich häufig als sehr schwierig; und nicht wenige linke Männer nutzten diese "konzeptionelle Schwäche" der autonomen Frauenbewegung in äußerst unangenehmer Weise, um sich mit Nachdruck entweder als "Opfer des Feminismus" oder als "gute Männer" zu konstruieren. Verhandelt wurde weniger die Frage der Gewalt als vielmehr die Frage des Geschlechts, und genau das machte es so schwierig, effektive Strategien gegen Gewalt zu entwickeln.

Unvermeidliche Provokationen

Zweiter Fall: Im Zusammenhang mit vorgeburtlicher Diagnostik und künstlicher Befruchtung wurde der für die Neue Frauenbewegung so grundlegende Begriff der individuellen Selbstbestimmung mehr als heikel. Auf einmal stellte sich heraus, dass die scheinbar selbstverständliche Forderung nach dem Recht auf Kontrolle über den eigenen Körper eugenische Phantasmen von Auslese nähren. Denn die Pränataldiagnostik verspricht ja die Möglichkeit der vorgeburtlichen Selektion "abweichender", also behinderter Föten. Weil damit plötzlich auch die Reproduktion maßgeschneiderten Nachwuchses um jeden Preis gemeint sein konnte, bekam das trotzige "mein Bauch gehört mir" einen ganz anderen Ton: nicht mehr Kampfparole gegen patriarchalen Staat und Gebärzwang, sondern beruhigende Antwort auf ein angebliches moralisches Dilemma. Behinderte Feministinnen stellten die Frage, inwieweit ein Selbstbestimmungsbegriff als feministische Kampfparole taugt, der die Verantwortung für das Existenzrecht behinderter Menschen zurückweist.

Die Antwort blieb aus. Das konkrete Entscheidungs-Problem lösen die meisten betroffenen Frauen inzwischen privat oder mit Hilfe staatlich oder kirchlich geförderter, auch "feministischer" Beratungsstellen. Die einen nehmen Pränataldiagnostik in Anspruch, die anderen nicht - politisiert wird dieses Thema kaum noch. Dieser Rückzug ins Private schließt in gewisser Weise logisch an Identitätspolitik an. Wenn die Möglichkeit eugenischer Selektion, je nachdem, als Herausforderung, Gefährdung oder Schutz weiblicher Identität verhandelt wird und nicht als Herrschaftsstrategie, die ganz bestimmte Konstruktionen von Weiblichkeit erst auf den Markt wirft, dann kann kaum ein politischer Umgang mit diesem Thema entwickelt werden.

Für die Frage nach feministischer Identitätspolitik bedeuteten diese unterschiedlichen Verwerfungen vor allem eins: Verunsicherung. Und in Phasen politischer Verunsicherung wird Theorie wichtiger. So traf es sich gut und keinesfalls zufällig, dass Anfang der 90er Judith Butlers "Gender Trouble" auf deutsch ("Das Unbehagen der Geschlechter") erschien. Einige fühlten sich allerdings durch Butlers Thesen regelrecht provoziert, manche sogar bis heute. Dabei war Butlers theoretische Intervention vor allem klärend und deshalb notwendig. Denn Butler, US-amerikanische, lesbische Philosophin und akademische Kultfigur der 90er, geht davon aus, dass nicht nur gender Produkt gesellschaftlicher Machtverhältnisse ist. Das hatten Feministinnen schon lange vor ihr gedacht, etwa Simone de Beauvoir - wir werden nicht als Frauen geboren, wir werden dazu gemacht. Butler denkt, dass die Differenz zwischen sex und gender selbst Produkt eben dieser Herrschaftsverhältnisse ist. Für sie gehört es zu den effektivsten Strategien "patriarchaler" Macht, dass sie nicht nur in den Köpfen, sondern bis in jeden Winkel der Erfahrung, der Empfindungen, Ängste, Sehnsüchte und Vorstellungen die Fiktion verankern konnte, dass Menschen in zwei und nur in zwei Geschlechtern zu denken sind und dass diese zwei Geschlechter in ganz bestimmter Weise aufeinander bezogen sind: nämlich gegensätzlich oder ergänzend, auf jeden Fall aber hierarchisch.

Das Adjektiv "patriarchal" muss man aus dieser Sicht deshalb in Anführungsstriche setzen, weil Patriarchat für Herrschaft von Männern über Frauen steht. Butler behauptet aber, dass eine viel grundlegendere Herrschaftsstruktur dafür verantwortlich ist, dass Männer als Männer und Frauen als Frauen überhaupt erst denkbar werden. Dafür sei eine ständige Aussonderung des "Abweichenden" erforderlich. So sei Heterosexualität kein Naturphänomen, sondern eine rigide Norm, die auch unserer Vorstellung von der Natürlichkeit zweier Geschlechter zugrundeliegt. Für die Durchsetzung dieser heterosexuellen Norm sei beispielsweise die Verwerfung von Homosexualität Voraussetzung; z.B. indem sie als krank oder pervers konstruiert wird. Dass das Geschlecht sozial konstruiert ist, heißt für Butler nicht, dass Menschen ihr Geschlecht wählen und wechseln können wie Jacke oder Hose. Aber es wird eben nicht als Effekt von Natur, sondern als Effekt von Herrschaft gedacht.

Notwendig, aber nicht hinreichend

Kritik von Identitätspolitik ist aus dieser Sicht Herrschaftskritik. Denn die "Verwerfungslogik" ist nicht nur für die heterosexuelle, sondern für jede Identitätsbildung Bedingung. Und jede als unumstößlich behauptete Identität bildet sich demnach vor einem unsichtbaren Schatten ab, der für die Identität bedrohlich wird, sobald er sein Schattendasein verlässt. Die schwarze, die behinderte, die lesbische, die bisexuelle, die transsexuelle, die nicht-westliche Frau, aber auch die weiße Mittelschichtsfrau, die vom Kapitalismus, vom Klassensystem, vom institutionalisierten Rassismus usw. profitiert - und viele mehr bevölkerten und bevölkern den Schatten der universalen feministischen Identität "Frau". Deshalb ist Kritik an Identitätspolitik vor allem eine Kritik an Ausschließungsverfahren und zwar gerade an solchen, die nicht auf den ersten Blick offensichtlich sind. Kritik an Identitätspolitik bedeutet den Abschied von der Idee, es gäbe ein einziges Unterdrückungssystem, das alle anderen dominiert und Kritik an Identitätspolitik bedeutet, sich zu weigern, gesellschaftliche Positionierungen, egal welcher Art, als irgendwie "natürlich" zu denken.

Es bedeutet, den Grund für gemeinsames politisches Handeln nicht primär in der Vergangenheit, dem gegebenen, "natürlichen" Band zu suchen, das die einzelnen verbindet, sondern in der Zukunft, in den gemeinsamen politischen Zielen. Aber umgekehrt ist Kritik an Identitätspolitik alleine noch kein Programm. Sie ist kein Garant für besonders progressive Politik. Und auch das ist logisch. Denn Kritik von Identitätspolitik ist Kritik an totalisierenden Denk- und Praxisformen. Deswegen kann sie umgekehrt nicht dazuführen, prinzipiell jede Form von Identitätspolitik für unmöglich zu erklären. Bestimmte historische Situationen erfordern gerade das Sprechen über Identität als Bedingung für politische Artikulation. Doch dieses Sprechen sollte offen bleiben dafür, von innen heraus in Frage gestellt zu werden. Es sollte sein eigenes Verschwinden als klares Ziel vor Augen haben. Identitätspolitik wäre dann nie mehr als der bewusst einkalkulierte, vorübergehende Effekt strategischer Entscheidungen, die unter absolutem Verzicht auf absolute Wahrheiten gefällt werden.

Alle hier behandelten Probleme hatte und hat die gemischte Linke selbstverständlich auch. Während die Debatte in der Frauenbewegung schließlich auch intensiv geführt wurde, konnten sich ihr viele männliche Linke bis heute erfolgreich entziehen. Und das ist ein Grund, auf feministische Organisierung nicht zu verzichten, ebenso wie die Erkenntnis, dass Männer für die Abschaffung materieller Ungleichheit entlang der Geschlechtergrenze in der Regel wenig Einsatz an den Tag legen. Oder, wie Judith Butler sagt, der Feminismus braucht die Frauen, aber er muss nicht wissen, wer sie sind.