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Bei uns ist alles Arbeit

Zur Aufhebung der Arbeit bei der SSM

von Rainer Kippe

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Der Streit um den Arbeitsbegriff

Begriffe sind immer an historische Situationen gebunden, an soziale Verhältnisse, an Produktionsverhältnisse. Das gleiche Wort wechselt über die Jahrhunderte seine Bedeutung.
Wir von der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim (1) verwenden das Wort Arbeit, obwohl wir wissen, daß es von mhd arebeit (Mühe) herkommt und im Althochdeutschen die Schufterei eines verwaisten, leibeigenen Kindes bedeutet.
Wir weichen nicht auf andere Wörter aus, obwohl sie im Deutschen durchaus zur Verfügung stehen. So gibt es nicht nur das englische "work", was angeblich etwas Besseres bedeuten soll als "labour", es gibt auch das deutsche "werken", wovon nicht nur der Werkunterricht und die Werkkunstschulen zeugen, sondern auch die "Werktätigen". Es gibt auch das Wort "schaffen", ein Wort, das voller Kreativität ist. Nicht nur der Künstler "schafft" das Werk, sondern Gott selbst "schuf Himmel und Erde".
In der Wirklichkeit geht es diesen Wörtern aber, trotz ihrer feineren Herkunft, auch nicht besser als dem Wort "Arbeit". Die "Werktätigen" der DDR standen an den gleichen Fließbändern wie die "Arbeiternehmer" im Westen, und wenn man in Mannheim zu Mercedes ans Band geht, so heißt das, man geht "beim Benz schaffe". Und auch die, ach, so kreativen englischen "worker" vereinigen sich aus unerfindlichen Gründen in der Leidenspartei, der labour party.
Umgekehrt erlebt das Wort Arbeit in den letzten Jahrzehnten gerade zu eine Inflation in Richtung Kunst, Kultur und Seele: Der Künstler "arbeitet" an seiner Partitur, ich "arbeite" an diesem Artikel, und wenn er mißlingt oder abgelehnt wird, leiste ich Trauer"arbeit".
Wenn wir hier und jetzt von Arbeit reden, so meinen wir natürlich nicht das altgermanische Waisenkind in Leibeigenschaft. Diese Bedeutung hat das Wort ganz offensichtlich in seiner Geschichte abgestreift, denn heute bezeichnen wir eine solche Tätigkeit ausdrücklich als "Zwangsarbeit", womit das direkte Gewaltverhältnis ausgedrückt ist, unter dem diese Arbeit stattfindet, wie z.B. bei Kriegsgefangenen. Zu einem Teil hat der Begriff Arbeit allerdings seinen Zwangscharakter behalten; das unmittelbare Gewaltverhältnis wurde lediglich durch ein Verhältnis struktureller Gewalt ersetzt, durch eine Kultur des Sich-verkaufen- Müssens. Es hat aber ganz offensichtlich auch eine Erweiterung in Richtung Kreativität und Eigenbestimmtheit erfahren, die ihm von seiner ethymologischen Herkunft eigentlich nicht zusteht, genauso wie umgekehrt das göttliche "Erschaffen" über das "Schaffe" am Fließband ganz schnöde zum "Anschaffen" heruntergekommen ist.

Die SSK und die Arbeit

Als die SSK (2) begann, mit ehemaligen Fürsorgezöglingen selbstverwaltete Firmen zu betreiben, entschied sie sich, für die vielfältigen Tätigkeiten den Begriff "Arbeit" zu reklamieren. Dies bedeutete nämlich eine gelungene Provokation der keynesianischen Arbeitsgesellschaft Helmut-Schmidtscher Prägung, welche die meisten der SSK-Tätigkeiten genauso aus dem Kanon der Arbeit verbannt hatte, wie sie die meisten derjenigen Menschen, die zum SSK gekommen waren, aus dem Rechts- und Anspruchsverhältnis verstoßen hatte, welches allein in einer Arbeitsgesellschaft dem Nicht-Besitzer von Produktionsmitteln oder Vermögen die vollen Bürgerrechte zuerkennt.
Der Vorwand für die Aussonderung bestand in der Behauptung, die Betreffenden seien zu alt, zu krank, oder schlicht arbeitsunwillig. Ihnen und allen Kritikern des Systems pflegte man damals - heute fast vergessen - nach der Empfehlung: "Geht doch rüber, wenn es Euch hier nicht paßt!", ein frisches "Geh arbeiten!" zuzurufen.
In dem neuen sozialen Zusammenhang der SSK-Arbeit erlebten sich diese Menschen aber sehr wohl als arbeitsfähig und demonstrierten das neu gewonnene Selbstbewußtsein nach außen. Die ökonomischen Macher aber, die ihnen die übliche Arbeit und die damit verknüpften Rechte vorenthielten, standen da in ihrer nackten Unfähigkeit, die von ihnen propagierte Arbeitsgesellschaft wenigstens als solche funktionieren zu lassen, so erbärmlich sie auch sein mochte. Sie standen da als diejenigen, die nicht einmal Arbeit für die Leute hatten.
Wir hatten und haben für alle Arbeit - unter der Voraussetzung allerdings, daß wir die Verknüpfung von Erwerb und Arbeit sprengen. Dort wo alles Arbeit ist, ist gleichzeitig nichts mehr Arbeit. Das ist unser salomonischer, praktischer Beitrag zur Aufhebung der Arbeit.

Arbeit und Gesellschaft

Diese Diskussion wird in der Gesellschaft nicht nur von unserer Seite aus geführt. Bei den Feministinnen z.B. gibt es eine breite Diskussion über die Hausarbeit und deren Bezahlung.
Der Ansatz des SSM ist allerdings ein anderer. Bei uns geht es um die Menschen, die sich für den Prozeß der kapitalistischen Produktion als unbrauchbar erwiesen haben, den "Ausschuß aus der Produktion von angepaßten Arbeits- und Konsumsklaven", wie wir ihn 1970 genannt haben (3). Diese Menschen zeichnen sich dadurch aus, daß sie nicht bereit und/oder in der Lage sind, in dem Modell von "aufgeschobener Belohnung" (Konsum) zu funktionieren, in welchem die Erwerbsarbeit organisiert ist.Anders gesagt, diese Menschen können Arbeit als nackte, abgetrennte Produktionssphäre nicht ertragen. Karl Polanyi hat dargestellt wie jung unser Arbeitsmodell erst in der Welt ist, und wie weit es sich von allem entfernt hat, was die Menscheit seitdem unter produktiver Tätigkeit gefaßt hat. In seinem Werk "The Great Transformation"(4) hat er dafür den Begriff der entbetteten Okönomie geprägt, einer Wirtschaftsweise, die aus der gesellschaftlichen Bezügen herausgelöst ist, gewissermaßen von der Gesellschaft abstrahiert.

Arbeiten bei der SSM

Mit Menschen zu leben und zu arbeiten, die aus dieser "abstrakten" Art von Arbeit herausgefallen sind, erfordert, die produzierende Tätigkeit in neue/vergangene Bezüge zu bringen, sie mit den wichtigsten gesellschaftlichen Zielen möglichst direkt zu verbinden und sie darüber hinaus wenigstens teilweise auch unmittelbar als sinnvoll erfahrbar zu machen.
Man kann den Arbeitsbegriff der SSM einmal so beschreiben, wie er sich nach den Tätigkeiten darstellt. Bei dieser Betrachtung ist festzustellen, daß nicht nur das als Arbeit gilt, was Geld einbringt, konkret also Umzüge fahren oder Möbel verkaufen, sondern ebenso vieles andere, was für die Gruppe und für deren Ziele von Bedeutung ist: ein Flugblatt schreiben, ein Haus besetzen, Essen kochen, Wohnraum instand setzen, Kinder betreuen.
Hier ist schon festzustellen, daß die SSM weitergeht als die "alternativen Betriebe", die lediglich die Erwerbsarbeit selbstverwaltet zu organisieren suchen. Es wird vielmehr die Arbeit selbst verändert, indem man ihre Bezüge ändert.
Anzumerken ist auch, daß der SSM noch ein Privatleben kennt, also eine Trennung von Arbeit und Freizeit. Der SSM ist keine Kommune, das gemeinsame Fernsehen am Abend oder der gemeinsame Joint finden nicht statt, und wenn, dann gehört es jedenfalls nicht zur Arbeit. Es gibt separate Wohnungen, außer der privaten Zeit also auch den Privatbereich.
Es wird ein für jeden gleicher Geldbeitrag ausgezahlt, wenngleich dieser auch gering ist. Die von der SSM als "Arbeit" bezeichneten Tätigkeiten lassen einen Kanon von gesellschaftlichen Werten erkennen, deren Erreichung und Verteidigung für die Mitglieder, darüber hinaus aber für die gesamte Gesellschaft von großer Wichtigkeit ist.
Da gibt es zunächst den unvermeidlichen Gelderwerb, weil etliche (beileibe nicht alle) benötigten Güter gekauft werden müssen. Hierher gehören teilweise Lebensmittel (man kann auch selbst Lebensmittel erzeugen), oder elektrischer Strom (irgendwann, hoffentlich bald, wird auch Elektrizität leicht selbst erzeugt werden können).
Wohnraum muß man nicht teuer mieten, man kann ihn auch besetzen und selber errichten. Kleidung muß man nicht kaufen, wenn man gebrauchte trägt, man kann aber auch schneidern, u.s.w..Es läßt sich an diesen Beispielen schon sehen, daß Gelderwerb im Arbeitsmodell des SSM noch für nötig erachtet wird, daß er aber nicht mehr die alles dominierende Stellung besitzt, den ihm die heutige Gesellschaft gemeinhin einräumt.
Dann gibt es einen - möglichst großen - Bereich der Selbstversorgung. Das geht vom Wohnraum über Möbel und Kleider zum Brennholz, und umfaßt die meisten handwerklichen Tätigkeiten. Darüber hinaus gibt es einen breiten Sektor von Hilfe im Viertel, die teils getauscht, teils als Dienstleistung entlohnt, überwiegend aber als solidarische Unterstützung gegeben wird, weil der Geber die gemeinsamen Ziele unterstützt.
Dann zählt auch das Engagement für andere Menschen dazu. Entweder als solidarische Unterstützung einzelner, als auch als gesellschaftänderndes Wirken, indem die SSM Projekte vor Ort anstößt oder in ihnen mitwirkt.
Stets geht es dort darum, beizutragen, daß Menschen die Gestaltung ihres Lebenszusammenhangs in die eigenen Hände nehmen, vom Kulturbunker bis zum Bau des gemeinsamen Hauses. Für diesen Bereich haben wir mit FreundInnen jüngst das "Institut für Theorie und Praxis der Neuen Arbeit" gegründet.
Wer nun wann schließlich was macht, wird in der täglichen Sitzung abgesprochen, wo auch stets generelle Gruppenbelange und individuelle Anliegen besprochen und diskutiert werden. Die Arbeiten wechseln. Niemand fährt eine ganze Woche Umzug, niemand kocht jeden Tag für die Gruppe, und niemand schreibt nur Artikel. Gerade die Variationsbreite wird als Bereicherung empfunden.

Die Zukunft der Vergangenheit

Mit der Sprengung des Arbeitsbegriffs und seiner Ablösung von der Erwerbsarbeit haben sich in der SSK/SSM einige Wandlungen vollzogen, die zukunftsträchtig - kommunistisch erscheinen und doch gleichzeitig an ganz alte Formen des Lebens und Wirtschaftens erinnern.
Polanyi verweist darauf, daß erst die Einführung des Hungers, der "Peitsche des Hungers", die Menschen in die Erwerbsarbeit gezwungen hat Und er vergleicht die Verhältnisse im frühindustriellen England mit denen in den Kolonien. In älteren Gesellschaften war es anders: "Der Platz am Lagerfeuer, sein Anteil an den gemeinsamen Ressourcen war ihm (dem Wilden, d .Verf.) sicher, ganz gleich, welche Aufgabe er bei der Jagd, auf der Weide, beim Pflügen oder bei der Gartenarbeit erfüllt haben mochte".(5) Das heißt aber nicht, daß damals keiner zu arbeiten brauchte, im Gegenteil: "Rang und Status, gesetzlicher Zwang und Strafdrohung, öffentliches Lob und privater Ruf gewährleisten, daß der einzelne seinen Teil zur Produktion beiträgt."(6)

Die Verhältnisse in der SSM sind - bezogen auf die Arbeit des einzelnen -, wie eine Illustration des "Kraallandsystems der Kaffern oder des Kwakiutl".(7) Leistungen erhält das SSM-Mitglied nämlich nicht aufgrund seiner Arbeit, sondern aufgrund der Tatsache, daß es Mitglied ist. Als solches aber ist es zu Arbeit verpflichtet. Das mag spitzfindig erscheinen, wenn man Arbeit als das versteht, was sich in Geld umsetzen und folglich darin bemessen läßt. Bei der SSM aber umfaßt sie alles, was der Gemeinschaft nützt, von der bitteren Existenzvorsorge, über das, was das Leben erleichtert, zu dem, was einfach Freude macht, wie Blumen, eine Gartenbank oder ein schönes Essen. Die Notwendigkeit, Geld heranzuschaffen, trifft die Gemeinschaft, nicht den einzelnen. Ob die Tätigkeit, die einer ausübt, Geld abwirft, ist für deren Bewertung innerhalb der Gruppe sekundär. Von daher können auch Behinderte oder Alte gleichberechtigt mittun, und aus diesem Grund ist auch der Anteil am Einkommen, sei es Wohnraum, Essen, Kleidung oder Geld, für alle gleich.Verwirklichen läßt sich das freilich nur mit einer Form des Wirtschaftens, bei der das Wirtschaften nicht Selbstzweck ist und die strikt basisdemokratisch organisiert ist. Man darf nicht vergessen, daß die Menschen sich in der SSM zusammengeschlossen haben, um ihre Freiheit zu verteidigen oder wiederzuerlangen und für ein menschenwürdiges Dasein für sich und andere zu kämpfen. Man kann nicht Wirtschaft durch Wirtschaft aufheben.

Im Gegenteil. Eingebettete Ökonomie, genau das, was man bei der SSM als schlaue oder effiziente Organisation der Arbeit bezeichnen könnte, nämlich gemeinsam über Hausbesetzungen Lebensraum zu erkämpfen, durch Selbstversorgung den Bedarf an Geld zu senken und auch die verbleibende Geldarbeit durch das Auftreten als Gruppe weitestgehend selbst zu bestimmen, hat nur Erfolg, weil weder Geld noch Effizienz das Ziel sind, sondern jeweils nur als Mittel zur Erreichung der erwähnten Ziele dienen. Eingebettete Ökonomie ist keine besonders raffinierte Form des Geldverdienens und die "Neue Arbeit" - zumindestens die der SSM - ist weder ein Konzept für lean management noch ein Modell für Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand.
Mit unserem Konzept vertreten wir vielmehr sichtbar und praktisch unseren Anspruch auf eine menschenwürdige Zukunft für uns und für alle Menschen dieser Welt.

Anmerkungen
1) Seit 1979 wohnen, arbeiten und leben ein Dutzend Erwachsene mit deren
Kindern auf dem ehemals besetzten Gelände einer Fabrik in Köln-Mülheim.
2) Sozialpädogogische Sondermaßnahmen Köln, seit 1969. Ab 1975 Sozailistische Selbsthilfe Köln e.V. Die SSM war als SSK-Mülheim bis 1986 Teil des SSK.
3) Gothe/Kippe, Ausschuß - aus der Arbeit mit entflohenen Fürsorgezöglingen, Köln 1970
4) Karl Polanyi, The Great Transformation, Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, 4.Aufl., Frankfurt/Main 1978
5) ebenda S.136
6) ebenda S.137
7) ebenda S.136

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