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Gegen die Verwirrung!

Dokumentation des Referats, welches von Vertretern des Bündnis gegen Rechts Leipzig auf der Veranstaltung "Kritik oder Politik" am 3. März 2001 in der Braustraße gehalten wurde.
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A: Also wir fangen an, wir sind von der Politik-Fraktion. Der Widerspruch der heute so in etwa den Diskussionsgehalt der Veranstaltung ausmachen soll, könnte übertriebenermaßen auch so gezeichnet werden: wir stehen so ein bißchen für die Antifa-Dummies, die sich eine Debatte mit den Schlaubergerinnen und Schlaubergern von der Theorie-Fraktion liefern sollen. Natürlich nicht ganz so pauschal, verallgemeinernd und polemisch. Denn es gibt da wahrscheinlich einen ernsten Kern und wenn wir schlau sind oder gut sind, dann kriegen wir den vielleicht sogar raus. Man kann schon sagen, daß B. und ich für einen ganz traditionellen Antifa-Ansatz stehen und zwar einen traditionellen linksradikalen Antifa-Ansatz. Traditionell heißt, daß es mittlerweile auch in unserer Gruppe Anzeichen eines modernistischen Flügels gibt. Diese sogenannten jungen Wilden, die sich von dem mystischen Geraune, daß Politik jetzt auf einmal Kritik heißt, ein bißchen anstecken lassen haben, so daß wir auch wirklich einen Sinn darin sehen, hier unseren Ansatz zu verteidigen.
Nicht zufällig kommt dieses Interesse für vermeintlich neue Ansätze immer dann, wenn man mit den alten nicht mehr ganz zufrieden ist. Es bleibt aber eine offene Frage, warum man dann nicht eine vernünftige Diskussion um eine neue Strategie führt, statt dessen das andere, angeblich alte immer gleich gänzlich über Bord werfen will und sagt, das sei alles falsch.
In Anlehnung an einem Song der Aeronauten könnte man behaupten, daß man mit dem Alter nicht nur anfängt, sich für Country-Musik zu interessieren, sondern auch sagt, es geht auch vorbei mit diesen neumodischen Ansätzen. Aber wir sehen es nicht ganz so ironisierend, sondern wir denken schon, wir müssen diese Debatte ernster nehmen als uns vielleicht lieb ist. Wir müssen also innerhalb dieses linkspluralistischen Meinungsklimas, das existiert, unseren Ansatz vertreten, unsere Position verkaufen und wir sagen gleich, wir haben so viel Sendungsbewußtsein, daß wir sagen, es ist der coolste und realistischste Politik-Ansatz, den es zur Zeit gibt. Er ist so eine Art von Kinderüberraschung. Da ist alles dabei: was zum Lesen und Überlegen, aber auch was zum Tun und zum Basteln. Deswegen ist die Trennung von Politik und Theorie, die durch den Flyer-Text zur Veranstaltungsankündigung aufgemacht wurde, nicht ganz so der Widerspruch, dem wir uns verpflichtet fühlen. Das heißt, wir machen diese Trennung von Theorie und Praxis nicht so auf, wie das auf dem Flyer steht. Wir sagen nicht, daß die Theoriefraktion unser Gegner ist, die wir bekämpfen müssen. Das taugt wahrscheinlich nur als Abstraktion, die dazu dient, der heutigen Veranstaltung mehr Spannungspotential zu verleihen. Wir sind aber auch offen und sagen, daß wir als linksradikale politische Gruppe ein sehr unverkrampftes Verhältnis zur Praxis haben. Wir geben hiermit öffentlich zu, daß wir Demonstrationen mögen, Kampagnen lieben, es total gut finden, zu linken Events zu mobilisieren. Wir finden auch Kongresse ganz geil und veranstalten deshalb solche und wir finden es auch toll, wenn mal was kaputt geht, da haben wir überhaupt kein Problem mit. Deswegen können wir kaum von uns behaupten, daß, wenn das Praxis ist, wir ein gestörtes Verhältnis dazu hätten. Ganz zentral für uns ist auch der Aspekt der Organisierung, das heißt, wir denken, ohne Organisierung geht in der linksradikalen Bewegung überhaupt nichts, mit Organisierung geht viel und ich denke, daß man sagen kann, ohne sehr eingebildet zu sein, daß sich die erfolgreiche Arbeit des BgR auch daran zeigt, daß wir uns heute mit unseren eigenen Spaltprodukten streiten können. Daß es in Leipzig vergleichsweise eine prosperierende linksradikale Szene gibt, mit vielen Gruppen und noch mehr Widerstandspotential, liegt an der erfolgreichen Politik nicht nur des BgR sondern ganz allgemein der Antifa der letzten Jahre und zeigt, daß politische Erfolge auch in der Gegenwart möglich sind.
Wir haben schon gesagt, daß wir vielseitige Politikmittel akzeptieren. Heutzutage ist es irgendwie Mode, mit dem Blick auf die Politikmittel zu sagen, daß das schon der linksradikale Antifa-Ansatz wäre, das funktioniert dann nach dem Prinzip, daß wenn die Sonne tief steht, aus Zwergen Riesen werden, aber so ist es nicht. Deswegen fangen wir an, dieses Konzept, linksradikaler Antifa-Ansatz, noch mal ein bißchen zu erklären, damit dann die gegnerische Fraktion die Möglichkeit hat, das richtig kaputt zu schlagen, falls sie das wollen. Das Konzept linksradikaler Antifa-Ansatz läßt sich sehr gut verdeutlichen an unserer eigenen Politik-Geschichte, also an der Entstehungsgeschichte des BgR’s. Das ist natürlich der Hintergrund, von dem aus wir das betrachten und auch verteidigen. Man könnte ganz allgemein sagen, es gab den Ansatz, linke Projekte durchzusetzen und dieser Ansatz war konkret bedroht durch die Konfrontation mit Nazis. Was damals links hieß, und was es heute teilweise noch heißt, ist ein sehr diffuses Wertemodell oder Weltbild. Das wird gefüllt mit Begriffen wie Emanzipation und Selbstbestimmung. Letzteres heißt für uns, Interessen werden nicht delegiert, sondern es gibt bei uns die Erkenntnis, daß wenn man was verändern will, muß man es auch selbst in die Hand nehmen. Man muß sich gegen das wehren, was verhindert, das man das durchsetzen kann bzw. man muß für das was man will selber einstehen und nicht seine Forderungen einfach an andere Akteure abgeben. Man kann auch sagen, Widerstand ist möglich, das ist auch eine Phrase, übrigens eine sehr schöne, weil sie stimmt. Was zu diesem diffusen linken Weltbild mit dazugehört, ist der Wunsch nach Freiheit und der Wunsch, nicht mitzumachen, bei dem, was gesellschaftlich als Mainstream passiert. Dieses Wertemodell war für Nazis Grund genug, es anzugreifen. Das hatte im Osten einen ganz anderen existentiellen Stellenwert, als das zum Beispiel bei einer Antifa "West" der Fall war. Bei der Antifa "West" ging es auch um Selbstverteidigung, aber sie spielte nicht ganz so eine dominante Rolle, wie anfangs in der Zone. Im Westen hatte der Antifa-Ansatz, also die Thematisierung von Nazistrukturen aus einer linksradikalen Perspektive - einen viel funktionalistischeren Charakter. Er diente als Hebel, um eine generelle Kapitalismuskritik zu vermitteln.
Dabei sollten über den Antifa-Ansatz Leute viel allgemeiner und grundsätzlicher politisiert werden, was wir nach wie vor für richtig halten. Allerdings lag damals oft ein analytischer Kurzschluß nahe: Jeder Nazi wurde als Verkörperung kapitalistischer Verhältnisse gesehen, und zwar im Sinne eines ferngesteuerten Vertreters des Kapitals schlechthin. Dieses enge Verständnis fand seinen Wiederhall in der Parole "Hinter dem Faschismus steht das Kapital".
Auch beim BgR ging es aber ebenfalls von Anfang an nicht nur um den reinen "Anti-Nazi-Kampf". Auch wenn dies in letzter Zeit immer mal wieder behauptet wird. Am hornältesten Beispiel, welches das BgR vorweisen kann - an Wurzen - wollen wir erklären, daß es schon damals um mehr als nur gegen Nazis zu sein ging.
1996 erfolgte aus der Analyse der Naziszene vor Ort, der Erkenntnis ihrer Einbettung in einen gesamtgesellschaftlichen Konsens, die angreifende Thematisierung. Über den Stellenwert der Analyse in unserer politischen Praxis wird weiter unten Auskunft gegeben.
Anhand unserer Analyse, daß die Nazis in Wurzen kein isoliertes Phänomen darstellen, sondern auf einer Welle der nationalistischen und rassistischen Zustimmung schwimmen, erfolgte unsere generelle Kritik am rassistischen und nationalistischen Konsens in Deutschland. Dabei richtete sich unsere Thematisierung sowohl gegen die staatlich-institutionalisierten Formen, z.B. die Ignoranz der Wurzener Behörden, die vor lauter Identifikation mit ihren Nazi-Kindern natürlich kein Nazi-Problem wahrnehmen wollten, als auch gegen die ideologischen Elemente, die von Mehrheitsbevölkerung und Nazis geteilt wurden. Und das hieß damals in erster Linie aggressive Abwehr von MigrantInnen und allen nur halbwegs alternativen oder gar linken Problematisierungsversuchen.
Anhand der konkreten Situation vor Ort wurde eine Kritik an gesamtgesellschaftlichen Einstellungen und Strukturen geleistet, Rassismus und Nationalismus also im Allgemeinen kritisiert. Von den militanten Ausdrucksformen der Kampagne, die wiederum alles andere als Staatsfreundlichkeit symbolisierten, ganz abgesehen. Unsere Kritik war also grundsätzlicher angelegt, wenn auch sicherlich nicht allumfassend. Eine Integration in eine "Zivilgesellschaft" war aufgrund unserer Analyse nicht möglich. Unsere Parole "Nie wieder Deutschland", die Ablehnung jeglicher Identifizierung mit der Nation, schloß schon damals aus, daß wir einer Zivilgesellschaft einfach so auf den Leim gehen.
Ähnlich war unsere politische Stoßrichtungen eigentlich bei allen Folgenden Antifa-Mobilisierungen. So haben wir am 1. Mai 97/98 besonders den Antisemitismus in Deutschland als Ausdruck eines verkürzten Antikapitalismus kritisiert, genauso wie wir den rassistischen Konsens nie aus den Augen verloren haben.
Wir könnten jetzt noch auf Kampagnen verwiesen, die noch weniger mit "anfassbaren" Nazis zu tun hatten, wie antirassistische Mobilisierungen gegen den Abschiebeknast in Büren oder Kampagnen gegen das verschärfte Polizeigesetz oder auch unsere Bemühungen um eine politische Strategiediskussion, die sich wohl mit dem Antifa-Kongress von 1999 am augenscheinlichsten begründen lassen.
So wie wir haben sich breite Teile der Antifa nie nur auf reinen Anti-Nazi-Kampf beschränkt, das würde viel zu kurz greifen und ist nur dummes Gerede.
Richtig ist aber, daß die alltägliche Auseinandersetzung der linken Projekte oder Gruppen oft von der Auseinandersetzung mit Nazis bestimmt war. Aber selbst bei der Kritik dieser teilweise dominanten Beschäftigungsstrategie muß der gesellschaftliche Hintergrund mitbetrachtet werden. Bis vor zwei Jahren schien es vielen Linken so, als würde Deutschland bruchlos bestimmte Ideologie- und Politikelemente des Nationalsozialismus einfach übernehmen, von einem zivilgesellschaftlichen Nationalismus war wenig zu spüren. Diese Entwicklung, die sich vor allem in der auf die rassistische Pogromwelle folgenden Abschaffung des Asylrechts Anfang der 90er Jahre ausdrückte und dann z.B. in der Goldhagen-, Walser-, Staatsbürgerschaftsdebatte bis heute zumindest geschichtspolitisch immer wieder Nahrung erhält, sprach für eine stärkere Wirkungsmächtigkeit deutscher Kontinuitäten, was natürlich unsere Politik beeinflußt hat und uns bestimmte Politikfelder nahelegte.
Richtig ist die Kritik, daß dabei eine ganze Menge an Themenfeldern unter den Tisch fiel: Imperialismus, fast immer das Patriarchat, Ökonomie. Wobei wir da auch berechtigterweise einen Abwehrreflex entwickelten, da die damals in der linken Theorie gängigen ökonomistischen Erklärungsansätze uns die Situation in Wurzen, also das Verhältnis von Nazis und Bevölkerungsmehrheit als vom Kapital gesteuerten Anti-Klassenkampf erklären wollten, was aber eben nicht der Realität entsprach.
Im Rückblick ist es trotzdem ein Fehler, sich nicht eher mit anderen Themenfeldern, an denen linksradikaler Widerstand deutlich werden kann, beschäftigt zu haben. So gab es auch bis in jüngster Zeit keine Diskussionen um den Begriff "Kapitalismus", der häufig eine gesellschaftliche Totalität kennzeichnen soll, bzw. als Chiffre für das "Ganze" gebraucht wird. Die Auseinandersetzung um die Reichweite und Bedeutung von Ökonomie und die Erklärungskraft eines Totalitätsbegriffs wird mittlerweile geführt. Das heißt aber nicht, daß wir damals wie heute keinen linksradikalen Anspruch hatten bzw. haben und unsere auf allgemeine Prinzipien der Gesellschaft abzielende Kritik nicht transportiert worden ist. Um es noch einmal deutlich zu machen: Es gab eine Kritik an einem nationalen und rassistischen Konsens, die sich mit einer transportierten Forderung nach einem linken Jugendzentrum oder der Schließung eines Naziprojektes verbinden ließ. Diese Forderungen zielen natürlich auf ein lokales Reförmchen, nämlich das linke Jugendzentrum und trotzdem transportieren sie die Forderung nach einer grundsätzlich anderen Gesellschaft. Wenn die Forderung nach diesem kleinen Reförmchen erfüllt worden wäre, dann heißt das nicht, daß die grundsätzliche Kritik damit verschwindet. Das stimmt einfach nicht. Wir wären mit dem linken Jugendzentrum in Wurzen nie zufrieden gewesen. Andererseits wäre genau dieses Jugendzentrum ein Ausgangspunkt für weitergehende kontinuierliche linke Kritik gewesen.
Es ist also vor allem Demagogie zu sagen, daß Antifas immer nur Reformen machen wollten. Ganz abgesehen davon, daß an einem linken Jugendzentrum nichts schlechtes ist. Was ist überhaupt schlecht daran, wenn konkrete Forderungen - wie sie neben allgemeinen Maximalforderungen unter jedem Demoaufruf stehen - auf einmal in Erfüllung gehen, wie z.B. so eine starke linke Szene wie hier in Leipzig?
So etwas vermittelt nicht nur das Gefühl, daß Widerstand möglich ist, es wird auch ganz konkret die organisatorische Basis für eine linksradikale Bewegung gestärkt ohne die gesellschaftliche Veränderung nicht möglich ist. Das sind Erfolge, das sind politische Erfolge.
Ein jüngeres Beispiel ist die Mobilisierung gegen die Überwachungsgesellschaft. Auch sie nahm mit einer konkreten Kamera ihren Anfang. Wer ist böse darüber, daß die Kamera am Connewitzer Kreuz nach linken Protestaktionen abmontiert wurdet? Aber die Kritik blieb deshalb nicht stehen. Mit der grundsätzlichen Forderung gegen Normierung und Überwachung in der Gesellschaft aufzutreten, wurde auch hier auf eine weitergehende politische Sprengkraft verwiesen, die auch nach Abbau aller Kameras dieser Welt nicht obsolet geworden ist. Wir wollen diese Beispiele nicht weiter ausdehnen, es gibt so etwas wie ein konzeptionelles Substrat davon:
Wir suchen konkrete Themen oder gesellschaftliche Widersprüche, richten danach unser konkretes Ziel aus, wollen anhand des Themas Leute politisieren und einbinden, wollen diese radikalisieren und mit ihnen eine grundsätzliche Gesellschaftskritik entwickeln. Die eigentliche Lösung dieses spezifischen Problems bzw. Widerspruchs kann nur systemüberwindend sein. Das ist ein radikaler, grundsätzlicher Ansatz.
Ein weiteres Ziel ist die symbolische Politik nach außen. Es geht uns um Wahrnehmbarkeit innerhalb der Gesellschaft, wir wollen dort eine linke Position sichtbar machen, die Leuten den Anschluß ermöglicht. Es ist ein symbolischer Ausdruck dafür, daß wir nicht mitmachen, so wie die meisten mitmachen. Es ist auch ein Ausdruck für unsere Überzeugung daß linksradikaler Widerstand, eine linksradikale Bewegung möglich und organisierbar sind. Diese deutliche und offensive Verweigerungshaltung gegenüber dem gegenwärtigen Mainstream läßt sich symbolisch durch Politik ausdrücken.
Mehr ist es nicht. Das mag nicht so sonderlich tiefgreifend sein, aber mehr braucht es nicht, um Politik zu machen, mehr braucht es auch nicht, um erfolgreiche Politik zu machen.

B: Ich will näher auf den Titel der Veranstaltung eingehen. Für uns ist Kritik versus Politik eigentlich die Frage nach Theorie oder Praxis. Uns geht es nicht darum, die beiden Begriffe pauschal gegeneinander zu stellen, sondern bei dieser Gegenüberstellung geht es um eine isolierte Theorie, die sich eben nur als Theorie versteht, oder um eine Theorie, die etwas mit Praxis zu tun hat. An diesem, unserem Verständnis des Problems ist schon im Vorfeld Kritik geübt worden - das Problem wäre ein ganz anderes. Deshalb will ich unsere Herangehensweise erklären.
Ich werde im folgenden Kritik und Theorie zusammen betrachten, beides ist für uns eine Interpretation der Welt. Diese Interpretationen unterscheidet sich dahingehend, daß Kritik kritisch sein will, Theorie hingegen eine legitimatorische Absicht hat. Worum es uns aber geht ist ihre Gemeinsamkeit und das ist die Interpretation. Für uns stellt sich die Frage nach der Basis und nach einem sinnvollen Ziel, welche solche Interpretationen haben können. Zuerst zur Basis: Die Basis jeder Kritik/Theorie sind praktisch anerkannte Verhältnisse. Verhältnisse, mit denen die KritikerInnen/TheoretikerInnen umgehen, von denen sie sagen, daß sie sich auf sie berufen können. Es gibt keine Kritik, die ohne eine grundlegende Position, keine Theorie, die ohne eine solche auskommt, von welcher sich ihr jeweiliges Potential entwickeln kann.
Diese Grundpositionen müssen ausgewählt werden, als Sachen, die uns unmittelbar einleuchtend erscheinen, als Zusammenhänge, die pragmatisch annehmbar sind. Es sind Grundpositionen, die uns als Alltagswissen vorkommen, die uns unproblematisch erscheinen, die in einer Kritik/Theorie nicht weiter problematisiert werden.
Der Ansatz, eine allumfassende Kritik machen zu wollen, die voraussetzungslos ist, hat sich in der bürgerlichen Wissenschaftstradition im Zuge von axiomatischen Systemen radikalisiert. Dies wurde vor allem im Rahmen der Mathematik versucht, aber auch in den Sozialwissenschaften. Eine System sollte allein aus drei oder vier Grundvoraussetzungen ableitbar und erklärbar sein, die insgesamt eine Wahrheit widerspiegeln. Diese Versuche, aus solch schmalen Voraussetzungen eine für alle Fragen gültige Beschreibung der Welt zu entwickeln, sind grandios gescheitert. Überall gab es die Notwendigkeit, eine immer wieder zu verbreiternde Basis von Sätzen zu finden, die unmittelbar einsichtig erscheinen.
Wir würden nicht sagen, daß das Betreiben von Wissenschaft/Kritik überhaupt keinen Einfluß auf die Sachen hat, mit denen wir praktisch umgehen. Natürlich werden Theorien betrieben, um eine Systematisierung zu erreichen, um Veränderungen möglich zu machen, um letztendlich wieder auf die Praxis einzuwirken. Sie haben Einfluß darauf, wie wir Dinge sehen, wie wir mit Dingen umgehen, was wir für grundlegende Bewertungen treffen.
Wichtig ist aber bei jeder Theorie/Kritik der Rückbezug auf Grundpositionen, die sich als pragmatisch sinnvoll erweisen müssen. Dieses pragmatische Kriterium bedeutet aber nicht, daß es Grundpositionen gäbe, die nicht in Frage gestellt werden könnten. Schon im bürgerlichen Wissenschaftsverständnis gibt es keine Sätze, die als prinzipiell unhinterfragbar gelten, nur kann eine Kritik an diesen selber nur wieder von einer anderen Position aus geleistet werden, welche wiederum gewisser Grundsätze bedarf.
Wir haben also kein Gesamtsystem einer allumfassenden Kritik, die völlig voraussetzungslos sein kann, obwohl wir alles kritisieren können.
Die Frage ist also, wie wir sinnvoll solche Grundpositionen auswählen können, nach welchen Kriterien dieses vonstatten gehen kann. Für uns sind das pragmatische Kriterien. Wir fragen, was will ich kritisieren, haben ein Vorverständnis von den Gegenständen, die wir kritisieren wollen, ahnen ein Vorverständnis davon, warum wir diese kritisieren wollen, d.h. in welche Richtung unsere Kritik geht. Die Grundpositionen lassen sich so begründen, ebenso die prinzipielle Strategie, mit der wir kritisieren/uns theoretisch auseinandersetzen.
Ein Beispiel für dieses grundlegende Vorverständnis sind Positionen, wo Leute sagen, wir wollen keine Theorie mehr machen, wir wollen eine Kritik machen, weil es uns nicht um Legitimation geht, sondern um Kritik des Bestehenden. Das sind Grundpositionen, die lassen sich aus einer Wissenschaftlichkeit heraus nicht erklären, sondern das sind Grundannahmen, die man entweder teilt oder nicht teilt. Daran sieht man, daß für uns jede theoretische Auseinandersetzung einen ganz klaren Bezug zum Pragmatismus hat. Entsprechend gibt es für uns auch Erfolgskriterien, Tests, denen wir solche Kritiken/Theorien unterziehen. Kriterien, die fragen, was bringt diese oder jene Theorie/Kritik uns. Wenn wir eine Theorie haben, die uns am Ende sagt, daß wir nichts machen können, dann ist diese Theorie für uns an diesem Ende sinnlos oder (mit Bezug auf die Wertkritik) wertlos.
Ich will das ganze an einem Beispiel konkreter machen, an der Frage, ob es in der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft ein einziges wesentliches Prinzip gibt - etwa den Wert -, an dem sich alles fest macht. Die pragmatische Bedeutung dieser Frage ist leicht einzusehen: Wenn es ein solches Prinzip gibt, wäre es sinnvoll, eine Hauptwiderspruchspolitik zu betreiben, die dieses Prinzip angreift. Wenn nicht, müßte an verschiedenen Punkten angesetzt werden, die Politik wäre vielfältiger.
Wenn es so etwas gäbe, wären die gesellschaftlichen Widersprüche Erscheinungen, hinter denen sich das wesentliche, kapitalistisch-bürgerliche Element versteckt hält. Dieses Element muß dann ausgemacht werden, wir müssen zu ihm begrifflich durchdringen. Die materielle Welt ist gar nicht das Eigentliche, dieses steckt irgendwo dahinter. Wir bräuchten dann erst einmal eine Theorie, die all diese Erscheinungen durchdringt, die uns zum Wesentlichen bringt und die dieses alleinige, allgegenwärtige und allmächtige Prinzip zum Vorschein bringt. Damit fände eine Reduktion von Phänomenen auf dieses Problem statt und mit dieser Reduktion korrespondiert in unserer Erfahrung überhaupt nichts. Wir können dieses Prinzip nicht sehen, das alles erklärbar macht, sondern wir sehen vielfältige Widersprüche an verschiedenen Punkten, die für uns auch Ansatzpunkte sein können, ohne das wir sie z.B. auf den Wert reduzieren müssen.
Für uns gibt es dieses einheitliche und wesentliche Element im Kapitalismus nicht, sondern Kapitalismus ist nur insofern eine Totalität, als es sich um eine Gesamtheit sich reproduzierender Verhältnisse handelt, welche sich nicht ausschließen, sondern vielfach noch stützen. Innerhalb dieser Vielfalt gibt es widerstrebende Tendenzen, gibt es reale und objektive Widersprüche, die zu einer Veränderung des Kapitalismus führen. Für uns hat sich die kapitalistische Gesellschaft in den zweihundert Jahren ihrer Existenz drastisch verändert, trotzdem gibt es eine Stabilität des Reproduktionszusammenhanges, welche die Rede vom Kapitalismus erlaubt. Diese wird durch ein Sich-Stützen der Teile erreicht, welche materiell und ideologisch aufeinander Bezug nehmen.
So waren im Industriezeitalter die Produktion in der Fabrik und das Leben der ArbeiterInnen in Kleinfamilien sich gegenseitig voraussetzende Realitäten. Wissenschaftliche Betrachtungen über die Natur dienten dazu, dem entsprechende Rollenbilder für die Geschlechter durchzusetzen. Das Leben wurde den Bedürfnissen der maschinellen Produktion angepaßt und die maschinelle Produktion auf die Dressierbarkeit der menschlichen Arbeitskraft ausgerichtet. Keiner dieser Teile hätte existieren können, wenn er im eklatanten Widerspruch zum Rest der herrschenden Realität gestanden hätte, gleichzeitig sorgte die enge Verbindung dieser Bereiche auch dafür, daß jeder von ihnen als selbstverständlich erschien, obwohl wir heute die Naturalisierung der Geschlechterverhältnisse genauso absurd finden, wie den Rhythmus der industriellen Maschinenproduktion unmenschlich.
Es gibt viele kapitalistische Selbstverständlichkeiten, welches das Problem von vorhin mit den Grundpositionen, die durchaus kritisierbar sind, sehr anstrengend macht. Alle Sachen, auf die wir eingehen, wo wir sagen, daß ist einsichtig, müssen da kritisiert werden, wo sie als Ausdruck der Verhältnisse, in denen wir leben, erkannt werden. Insofern ist die Rede von der Totalität der Realität - dem Kapitalismus - durchaus nicht sinnlos und das Streben nach einer Radikalisierung von Kritik in Hinsicht auf eine Voraussetzungslosigkeit finden wir sehr verständlich und es ist wirklich schade, daß so etwas nicht funktioniert.
Deswegen gibt es für uns eine berechtigte Kritik an einer Teilbereichspolitik, wenn diese Teilbereiche nicht über sich hinausgehen, wenn sie sich als isolierte Felder betrachten, ohne Bezug zur Gesellschaft. Für uns war dieser Bezug immer sehr wichtig und darin würden wir auch einen Ansatzpunkt sehen, wie aus dem Dilemma mit den sich gegenseitig stützenden Verhältnissen entkommen werden kann. Wenn ich konkrete Widersprüche aufgreife und daran eine Analyse entwickle, die sich des breiteren gesellschaftlichen Zusammenhangs bewußt ist, dann läßt sich von dort aus eine linksradikale Kritik formulieren und darum geht es uns.

A: Wir haben, wie eben gesagt, ein großes Problem damit, ein globales Abstraktum zu bekämpfen, weil wir eben nicht wissen, wo der Wert wohnt. Ihr merkt, ich habe die Rolle der Vulgarisierung in unserem Team.
Vermeintlich schlaue Leute sagen uns, jetzt, wo es Staatsantifaschismus gibt, sind wir auch bloß Staat. Wir sagen schon, daß wir aufgrund der Sommerdebatte nicht weitermachen können wie bisher. Wir erkennen im Staatsantifaschismus den nationalen Integrationskurs: Die Offensive nach außen, sichtbar im Kosovokrieg, erfährt nun ihr innenpolitisches Pendant. Die Zivilgesellschaft, sollte sie denn, was sehr zweifelhaft ist, verwirklicht werden, würde nicht das Ende unserer Politik bedeuten, sie ist auch alles andere als unser Traum. Wir glauben nicht daran, daß nun alle zu liberalen Demokraten werden, nur weil das der Staat sagt. Wer das glaubt, muß auch glauben, daß Milosevic Hitler ist.
Unser grundsätzliches Kritikpotential kann aber gegenwärtig am Thema Antifaschismus viel schlechter verdeutlicht werden, als das früher gelang. Antifa ist damit aber nicht obsolet geworden, daß zeigt sich z.B. in der Provinz, wo linke Ansätze immer noch mit Nazis zu kämpfen haben. Ein zweiter Punkt, der Antifaschismus notwendig macht, ist der Fakt, daß es innerhalb der deutschen Gesellschaft praktisch keine Auseinandersetzung gibt, die nicht auf irgendeine Art und Weise eine Bezug zur nationalsozialistischen Vergangenheit hervorruft. Beispiele sind die Begründung des Kosovokrieges wegen Auschwitz, die ZwangsarbeiterInnenentschädigung oder die gerade aktuelle Finkelsteinrezeption, die beweist, daß es immer noch ein kollektives antisemitisches Bewußtsein gibt. Gegen all das passiert praktisch nichts. Solcherlei Ansatzpunkte müßte die Antifa immer noch thematisieren. Und neben den Ideologieelementen mit starkem Konitinutätsbezug zur deutschen Geschichte, ist es auch Aufgabe einer linksradikalen Bewegung - wir halten übrigens keinesfalls starr an der Selbsbezeichnung "Antifa" fest - den modernisierten Varianten von Nationalismus und Rassismus den Kampf anzusagen.
Es gibt aber auch andere Themenfelder, die sich aufgrund ihrer Relevanz, anbieten. Am Beispiel der Globalisierungproteste erscheint es z.B. möglich, Kapitalismus konkreter zu kritisieren. Man könnte zumindest diskutieren, ob man anhand der Globalisierungsproteste versuchen sollte, eine linksradikale Position zu formulieren, die sich dann in erster Linie von nationalistischen und sozialstaatlichen Tendenzen abzugrenzen hätte. Ein für das BgR wichtiges Themenfeld ist der Antirassismus. Da passiert ja gerade eine Veränderung. Der völkische Rassismus, der breiter Bevölkerungsschichten gerät zunehmend in Widerspruch zu einem utilitaristischen Modell von Seiten der Eliten, eine gesamteuropäische Entwicklung. Anhand dieser ließe sich ebenso eine konkretere Kapitalismuskritik vollziehen, in deren Mittelpunkt die Ablehnung der Einteilung von Menschen anhand einer ökonomischen Verwertungslogik stünde. Ein dritter Bereich wäre die deutsche Großmachtspolitik, die eingebettet in eine Renaissance von imperialistischen Bewegungen, angegriffen gehört. Es gibt also viel zu tun. Wenn man denn noch linksradikalen Widerstand leisten will.

Bündnis gegen Rechts Leipzig
3. März 2001