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Die Radikale Linke und die „friedliche Revolution”

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1.Teil: Der Kapitalismus kann machen, was er muß
Das Symbol 1989 und die weltweiten Folgen.

Mit dem Ende des real existierenden Sozialismus verschwand – im Weltmaßstab betrachtet – die für den Kapitalismus einzig ernstzunehmende Gesellschaftsalternative, die er nicht nur fürchtete, sondern die ihm auch tatsächlich Paroli bieten konnte – wirtschaftlich, militärisch, politisch. Das muß, trotz aller unbedingten Kritik am realen marxistisch-leninistischen Staatsmodell, immer wieder hervorgehoben und betont werden. Es ist zu vermessen zu sagen, der Kapitalismus sei nur übrig geblieben und er hätte nicht gewonnen. Letztendlich erheblich für die Linke weltweit sind die Analyse der Fehler und die Lehren, die daraus für die Zukunft gezogen werden.
Im Zusammenspiel mit einer immensen Produktionssteigerung und eines erhöhten Absatzes – angekurbelt durch die Folgen des Zweiten Weltkrieges – kam in den westlichen kapitalistischen Staaten ein Wohlfahrtsmodell zum Tragen, das nicht unerheblich ein Produkt der kalten Auseinandersetzung um das bessere Gesellschaftsmodell gewesen ist. Dieses Modell kennt nach 1989 keine ernstzunehmenden Konkurrenten mehr. Und damit ist ein wesentlicher Grund für das Modell eines kapitalistischen Wohlfahrtsstaates auf nimmer Wiedersehen verschwunden. (Natürlich muß an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß weitere wesentliche Gründe für das Ende des kapitalistischen Wohlfahrtsmodells existieren. So die immense Staatsverschuldung durch die ständig künstlich geschaffene Staatsnachfrage insbesondere in den Siebzigern – der sogenannte Keynseanismus – oder die Veränderungen der Produktion durch den Einzug der Mikroelektronik weg vom sogenannten fordistischen Modell. Verwiesen sei außerdem auf die Politik Ronald Reagans in den USA oder Maggie Thatchers in Großbritannien, die beide mit großen Schritten den Wohlfahrts - bzw. Sozialstaat zerschlugen.)
Es nicht richtig, davon auszugehen, daß im Zuge der Zerschlagung oder - wie es gern verniedlichend genannt wird – des Umbaus des Sozialstaates, eine tatsächliche Angleichung der Lebensverhältnisse und Standards von Zentrum und Peripherie stattfindet. Für ewige Zeit, unter den Bedingungen des Kapitalismus, wird dieser klaffende Gegensatz bestehen bleiben, weil die Peripherie – trotz aller Effektivierung der weltweiten Produktion und des Absatzes im Zuge sogenannter Deregulierung – den Status eines Zulieferers und Billigherstellers für die kapitalistischen Zentrumsstaaten nicht verlieren wird.
Tatsächlich haben die Ereignisse von 1989 – dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus – dazu geführt, dem Kapitalismus einen ungehinderten Zugang zu allen Teilen der Welt zu ermöglichen – von, im Weltmaßstab betrachtet, unerheblichen Ausnahmen mal abgesehen. Im Zusammenspiel mit weiter oben bereits erwähnten veränderten Produktionsbedingungen und – weisen schimpft sich diese Tatsache Globalisierung oder Neoliberalismus. Interessanterweise ist es so, daß es innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft kaum größeres Interesse gibt, dortige Ressourcen wirklich zu nutzen noch jeweils neue Absatzmärkte aufzubauen. In aller Regel geht es um Zugriffssicherungen, die mittels Politik hergestellt werden. So geht eine Neuaufteilung der Welt in imperialistische Interessenssphären vonstatten. Dabei spielen zwei Faktoren eine wesentliche Rolle: der monetäre – die Kreditpolitik über IWF und Weltbank – und der militärische.

Beide Faktoren kennen ein Außen und ein Innen: Der monetäre – der Geldfaktor – dient nach außen hin zur Ruhigstellung unberechenbarer Staaten (z.B. Rußland) und nach innen zum Machtpoker insbesondere zwischen Euro und Dollar. Der militärische dient nach außen einem permanenten Bedrohungsszenario gegenüber möglichen Abtrünnigen vom Kapitalismus. Dazu ist eine permanente, jederzeit abrufbare Interventionsfähigkeit notwendig. Und gerade wer diese Interventionsfähigkeit nachweisen kann und mit allen erdenklichen Nebenwirkungen und Folgen durchsteht, hat das tasächliche Sagen. In diesem Sinne läßt sich insbesondere in der Nato eine funktionale Interessenbündelung aller Mitgliedsstaaten konstatieren, die zumindest den Vorteil ungebremster Alleingänge einzelner bis auf weiteres in sich birgt.
Es läßt sich festhalten, daß mit dem Ende des Ostblocks tatsächlich die Rückkehr des Krieges als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln stattfindet. Dabei wird gegen die vorgegangen, die der neuen weltkapitalistischen Ordnung mutmaßlich oder tatsächlich im Wege stehen. Das schließt ausdrücklich jeden aufblühenden sozialistischen oder anderweitig emanzipativen Gesellschafts- oder Organisationsversuch ein. Mit dem Ende der Nachkiegsordnung, wofür das Symbol 1989 explizit steht, haben Errungenschaften wie die UNO längst ihre Legitmiation verloren. Sie erscheinen heute nur noch als weltgemeinschaftliches Feigenblatt zur Funktionalisierung der Menschenrechte laut UNO-Charta. Eine Änderung der Doktrin der Nato, die erst vor wenigen Monaten erfolgte, und in der festgeschrieben wurde, daß selbst der UN-Sicherheitsrat faktisch für die Entscheidugen der Nato unerheblich ist, wäre beispielsweise zu Zeiten des Warschauer Vertrages als militärisches Pendant und Regulativ undenkbar gewesen.
Das überall zu konstatierende Aufflackern sogenannter ethnischer Konflikte - von Bürgerkriegen zur sogenannten nationalen Befreiung – als fast durchweg zu beobachtendes nationalistisch-völkisches Aufbegehren verweist darauf, daß nach dem Ende des Ostblocks diese größtenteils von Nationl-Wahn getriebenen Bewegungen, Organisationen oder Gruppen nun auf sich selbst zurückgeworfen werden. Die tatsächlich aufklärerische Wirkung, die mit der damaligen ideologischen Hinwendung vieler sogenannter nationaler Befreiungsbewegungen zum Marxismus-Leninismus, und damit zum Ostblock, einherging, hat endgültig ausgedient. Statt von einem starken Wirtschaftblock wie dem RGW sehen die Anhänger ethnischen und nationalen Wahns ihre Heilbsbringung in der Hingabe ihres „reinen” Blutes, mit dem sie ihre völkisch halluzinierten Parzellen märtyrerhaft tränken.
Die Verwalter der Neuen Weltordnung sehens zwar mit Schrecken, aber keinen Grund zum Eingreifen – ausnähmlich dem Fakt, das „Krisengebiet” grenzt zu nahe ans westliche Zentrum. Stattdessen wird die Verantwortung an die fachidiotischen NGOs delegiert, die diese sie bei weitem überfordernde Aufgabe mit Kußhand übernehmen und die völkischen Parzellierungen gar noch vorantreiben.
Vor denen, die aus diesen Verhältnissen flüchten bzw. flüchten wollen, verschließen die Staaten des Zentrums ihre Tore. Solange das Reich des Bösen – der real existierende Sozialismus – weltpolitisch präsent war, solange waren die Türe und Tore für die Flüchtlinge weit geöffnet. Doch jetzt sollen die Menschen gefälligst dort bleiben, wo nichts zu holen ist. Ein Schengener Abkommen, das die Festung Europa festschreibt, hätte es vor 1989 nie gegeben – ja nie nicht geben können. Die Sicherheits- und Migrationspolitik muß, im Gegensatz zu vor ’89 nun erst recht nicht mehr besser sein als sie der Kapitalismus braucht.
Es ist seit 1989 Tatsache: Keine ersntzunehmende Alternative zum Kapitalismus kann für sich in Anspruch nehmen, wirklich präsent zu sein und das Denken der Menschen mitzubestimmen. Entprechend selbstsicher forciert und optimiert der Kapitalismus die Ausbeutung und die Profite. Nicht zufällig feiern Esoterik, Verschwörungstheorien, Religionen und Akte X als altes neues Opium fröhliche Urständ. Ein nicht geringer Teil der Menschheit ahnt, daß etwas nicht stimmt, doch kaum jemand ist mehr in der Lage, das ausgerufene „Ende der Geschichte” – den endgültigen Sieg des Kapitalismus weltweit – in Frage zu stellen.
Der Einbruch der Linken mit ihren großen Alternativen ließ den Blick auf die schreiende Ungerechtigkeit des Kapitalismus per se von der Bildfläche verschwinden. Seitdem kann der Kapitalismus machen, was er muß, weil er vom Charakter her gar nicht anders kann.
Letzterer Satz umschreibt kurz, was mit dem Symbol ‘89 zu verbinden ist.

2. Teil: Für Volk und Vaterland.
Das neue Deutschland ist nicht das alte.
Das alte aber gehört zum neuen wie das Ei zur Henne.

Als am 3. Oktober 1990 die DDR an die BRD angeschlossen wurde, waren die Deutschen am Ziel. Einhergehend mit einer neuen Weltordnung, in der mit dem Übrigbleiben des Kapitalismus aus dem Blöckekonflikt ein alternatives Gesellschaftsmodell für unmöglich erklärt wurde, vereinigten sich die beiden deutschen Nachkriegsstaaten.
Auch wenn es von den wenigen DDR-WiderständlerInnen und Oppositionellen nicht das Ziel war, durch den eigenen Protest ein vereinigtes Deutschland zu schaffen – sondern eine prinzipielle Kritik am DDR-Regime zu üben, so muß doch davon ausgegangen werden, daß der größte Teil der BürgerInnen, die im späten Herbst 1989 auf den Straßen der DDR demonstrierten, auch die Teilung Deutschlands überwinden wollte. Die Rufe nach einem einheitlichen Deutschland, dem freien Konsum und der Ballermann-Sex-Gesellschaft übertönten schnell die ursprünglichen kritischen Stimmen gegenüber dem DDR-Regime.
Um den Ruf nach deutscher Einheit soll es in diesem Referat gehen – um seine Ursprünge und Folgen.
Wir erinnern uns – auch wenn das in Deutschland nicht gern gehört wird – vor damals 45 Jahren war gerade der 2. Weltkrieg zu Ende gegangen, den Deutschland ausgelöst hatte und mit ihm – als wesentliches Ziel der nationalsozialistischen Politik – den Holocaust organisierte und durchführte. Nach dem Sieg der Alliierten gegenüber Deutschland war eine Konsequenz der alliierten Besatzungspolitik aus den Ergebnissen des 2. Weltkriegs eine Teilung Deutschlands. Auch wenn sicher spezifisch ökonomische und machtpolitische Interessen der unterschiedlichen Staaten einen entscheidenden Anteil an den Teilungsambitionen hatten, so muß diese Teilung aus radikal-linker Sicht als richtig und notwendig anerkannt werden.
In Deutschland wurde diese Teilung nicht selten als ungerechtfertigt empfunden, was einherging mit einem fehlenden Eingeständnis der eigenen Schuld und Verantwortung am Holocaust. Davon ausgehend muß auch die Wiedervereinigung betrachtet werden. Wertet man nämlich die Teilung Deutschlands im Sinne seiner machtpolitischen Schwächung als richtig und notwendig, so mußte die Wiedervereinigung als gefährlicher politischer Akt verstanden werden, der angesichts der Historie keine Rechtfertigung hatte. Schließlich mußte der Vereinigung die Annahme zugrunde liegen, die beiden deutschen Nachkriegsstaaten wären wieder normalisiert und es gäbe Grund, Deutschland als gleichberechtigten Staat zu behandeln.
Daß es aber angesichts des Holocaust – dieses Zivilisationsbruchs – kein normales Deutschland geben kann, sollte allerdings zumindest in der radikalen Linken außer Frage stehen.
In Deutschland wollte davon aber niemand etwas wissen. Daß ein verantwortungsvoller Rückbezug auf die eigene Vergangenheit, jedes Eingeständnis von Schuld und Verantwortung für den Holocaust fehlte, machte sich schnell in den Losungen der DDR-BürgerInnen bemerkbar. Die kritischen und oppositionellen Stimmen gegenüber dem DDR-Regime wurden von den BürgerInnen der ’89er-Demos kaum aufgenommen beziehungsweise sich kritisch mit ihnen auseinandergesetzt – im Gegenteil. Stattdessen wurde sich auf einen traditionellen Volks-Begriff besonnen, in dem man zuerst “Wir sind das Volk!” und schon bald das neu eingeführte “Wir sind ein Volk!” skandierte. Während man in der Losung “Wir sind das Volk” noch die ursprüngliche Kritik am fehlenden Mitbestimmungsrecht der Bevölkerung heraus hörte, ist der völkische Inhalt der Losung “Wir sind ein Volk!” eindeutig und unmißverständlich. Welche Auswirkungen dies hatte, sollte sich noch herausstellen.
Das Ziel der Einheit des „deutschen Volkes“, daß sich historisch und aktuell über das Blut definiert, wurde somit schnell zum bestimmenden Element der DDR-BürgerInnenbewegung. Und auch von westdeutschen PolitikerInnen wurde der Gedanke der Einheit forciert, der in dem Ausspruch Willy Brandts „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“ gipfelte. Die Idee einer natürlichen Einheit, wie sie von Ost- wie West-BürgerInnen und PolitikerInnen vorgestellt wurde und im Vollzug der deutschen Wiedervereinigung realisiert werden sollte, zeigte die gefährlichen ideologischen Grundlagen dieses politischen Aktes.
Vielleicht nur noch am Rande die traurige Erwähnung, daß die ökonomischen und machtpolitischen Interessen der Alliierten bei der Teilung Deutschlands tatsächlich überwogen haben, sonst wäre die Entstehung eines wiedervereinigten Deutschlands sicher nicht zugelassen wurden.
Im geeinigten Deutschland zeigten sich schnell die Auswirkungen dieses Bezugs von ost- und westdeutscher Seite auf diesen traditionellen deutschen Volksbegriff.

Die ersten Beispiele dafür, wie der Bezug auf vergangene Traditionen funktioniert, bekamen MigrantInnen – besonders im Osten Deutschlands – zu spüren. Die neuen Deutschen, die 1989 noch brüllten „Wir sind ein Volk!“, duldeten keine Fremden und brachten unmißverständlich zum Ausdruck, wer mit dem “WIR” gemeint ist. „DIE“ Fremden auf jeden Fall nicht. Daß dies kein Einzeltäterverhalten war, sondern das sich das “EINE” Volk einig war, zeigte sich deutlich – überall im neuen Deutschland brannten Flüchtlingsheime oder waren bis in alle Teile der Republik fremdenfeindliche Parolen zu hören. Gestützt wurden diese rassistischen Mörderbanden und friedlichen deutschen „Ausländerhasser“ durch die Regelungen der Regierung, die 1993 mit ihrer veränderten Asylgesetzgebung die Immigration von Flüchtlingen amtlich genau regelte.
Völkisch-rassistischer Konsens und rassistische Pogrome wurden zum ersten Erkennungsmerkmal dieser neuen deutschen Republik.
Die prinzipiellen Bedenken einiger ausländischer Staaten gegenüber der Wiedervereinigung, später gestützt durch das Bekanntwerden dieser vielen rassistischen Progrome, verlangten eine dringliche Reaktion. Die Antwort darauf war so verblüffend wie einfach: „Wir sind normal!“.
Mit dieser Behauptung erhoffte und ermöglichte man sich nämlich zweierlei:
Zum einen, dem Verweis auf Auschwitz und der daraus resultierenden Forderung nach verhaltenerem politischen Vorgehen genauso aus dem Weg zu gehen, wie mit dem eigenen Bezug auf diese Vergangenheit, diese irgendwie in das eigene Politikverständnis einarbeiten zu können.
De facto heißt das, daß Auschwitz – das schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte – kein Hinderungsgrund mehr für deutsche Politik sein darf, sondern im Gegenteil, die Legitimation für besonders aggressives Vorgehen weltweit.
Martin Walsers Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Börsenvereins des deutschen Buchhandels steht dafür symptomatisch und zeigt dabei noch deutlich, wie eng die Forderung nach Schlußstrich und einem normalen Umgang mit Deutschland mit traditionellen völkischen und antisemitischen Stereotypen verknüpft ist. Die Rede von der „Auschwitzkeule“, mit der ständig auf die ach so normalen Deutschen geschlagen würde, beweist dies. Außerdem – und da schließt sich der Kreis zwischen Walser und den ’89er-DemonstantInnen – bewies Walser auch, daß es ihm nicht um eine verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit dem Holocaust geht, sondern vielmehr um die Ermöglichung eines unabhängigen geeinigten Deutschlands, daß alle Handlungsfreiheiten besitzt. Während Auschwitz aber bei den BürgerInnen von ‘89 überhaupt nur indirekt Thema war – nämlich dadurch, daß es nicht thematisiert wurde und somit keine Rolle mehr spielte – geht Walser – da er weiß, daß er es nicht mehr außen vorlassen kann – auf Auschwitz ein. Allerdings – und da ist er sich einig mit den ’89ern –, als ob es keine Rolle mehr spielt. Oder besser gesagt, der Schlußstrich muß her – für Volk und Vaterland.
Während also hier Auschwitz zum bloßen Fakt der Geschichte erklärt wird, daß für heutige politische Entscheidungen keine Rolle mehr zu spielen braucht, gerät es in anderen Diskursen zur bloßen Legitimation deutscher Politik. Am Beispiel des Kosovokonflikts ist dies erst kürzlich zu beobachten gewesen. Das deutsche “Anrecht” (sic!) auf Auschwitz wird zum entscheidenden Grund, warum Deutschland wieder militärisch agieren muß. „Weil WIR (das deutsche Volk) Auschwitz haben, müssen wir in den Krieg ziehen, um ein neues Auschwitz zu verhindern.“ lauteten die Argumentationen für den Krieg. Damit sind dann gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Zum ersten gerät Auschwitz zur Normalität der Geschichte, die überall wieder passieren könnte, z.B. eben im Kosovo, und zum anderen wird Auschwitz zum Grund für das Agieren Deutschlands als militärische Weltmacht.
Doch wo schließt sich nun der Kreis zu den Aktivitäten der BürgerInnenbewegung von 1989? Es ist das völkische Bewußtsein, daß verbindend wirkt. Die Wiedervereinigung war der Beginn eines neuen alten deutschen Bewußtseins und neuer Möglichkeiten. Der Identifikation als “deutsches Volk”, die sich in der Wiedervereinigung Bahn brach, in den rassistischen und antisemitischen Progromen ihren Ausdruck fand, wird heute in politischen Entscheidungen und im öffentlichen Diksurs fortgeführt.
Das Ergebnis dessen ist in den Feierlichkeiten zur Wende zu erkennen. Wer wird am 9. November diesen Jahres noch den Opfern der Progrome der Deutschen an den Juden von 1938 gedenken, wenn doch an diesem Tag vielmehr die 10jährige Maueröffnung zu feiern ist? Auch darin zeigt sich das neue deutsche Bewußtsein, daß die mörderischen Traditionen von Auschwitz explizit abgelegt hat, sie aber implizit immer beibehielt – im Namen des Volkes.

3. Teil: Doppelte Opposition.
Leipziger Gruppierungen mit linksradikaler Ausrichtung vor ‘89 und ihr Wirken während der Wendeereignisse in Leipzig

Eine radikale Linke im heutigem Verständnis hat es vor der Wende in Leipzig nicht gegeben. Es gab jedoch Gruppen und Freundeskreise, die in Abgrenzung zu anderen oppositionellen und gegenkulturellen Bewegungen ein eigenes Grundverständnis entwickelten, aus dem heraus agiert wurde. Leipzig war in den Siebzigern und den Achtzigern ein Zentrum unabhängiger Jugendbewegung in der DDR, die fernab von Kirche und Intellektuellenkreisen aktiv war.
Daß bei den Entwicklungen vor und um ’89 in Leipzig wenig Eigenes umgesetzt werden konnte und das Wirken dieser Gruppen neben dem der anderen Oppositionellen unterging, erklärt sich aus der „doppelten” Opposition, in der sie sich befanden. Zum einen bestand diese Opposition gegenüber der Staatsmacht allgemein sowie zu deren Ideologie und zum anderen gegenüber denen, die heute als Opposition oder Gegenkulturbewegung der DDR bezeichnet werden. Kritisiert wurde an ihnen, daß es ihnen entweder nur um bürgerliche Freiheiten und Werte ging, wie man sie aus dem Westen kannte, oder daß ihre Oppositionshaltungen antikommunistische bzw. nationalistische Wurzeln hatten. Kritisiert wurden außerdem die Profilierungssucht und das Machtstreben einzelner Oppositioneller, die Perspektivlosigkeit revolutionärer Strömungen sowie die jeweiligen Strukturen innerhalb der oppositionellen Bewegungen.
Die unabhängigen und völlig eigenständigen Leipziger Gruppen und Freundeskreise unterlagen wie alle anderen der allgemeinen Repression des DDR-Regimes, hatten unter den totalitären Verhältnissen aber noch weniger Möglichkeiten, sich zu bilden und zu informieren, eigene Strukturen aufzubauen und Aktionen zu organisieren, als das andere Oppositionelle hatten. Viele Oppositionelle agierten ja innerhalb gesellschaftlicher Organisationen, oder sie erhoben als Künstler und Intellektuelle das Wort und sahen sich dabei immer durch eine Lobby innerhalb der DDR oder aus dem Westen geschützt. Andere agierten aus dem Schutzraum „Kirche” heraus. Hippies, Langhaarige, Anarchos oder Punks wurden dagegen vom DDR-Staat verfolgt, bekamen von westdeutscher Seite keine Unterstützung und stießen auch bei vielen DDR-Oppositionellen auf Ablehnung.
Die fehlende Solidarisierung durch die DDR-Opposition und die Westmedien führte dazu, daß diese Szene größtenteils illegal und konspirativ agieren mußte, und personell durch Inhaftierungen und Ausreise bzw. Abschiebung in den Westen ständig ausgedünnt und zerschlagen wurde. Nachwachsende konnten sich kaum auf die Erfahrungen oder Strukturen der Älteren stützen. (Die stärksten Flucht- bzw. Ausreisewellen, bei denen ganze Freundeskreise und Szenen verschwanden, erlebte Leipzig Anfang der siebziger Jahre, Anfang der Achtziger und um 1988/89.)
Diese Ausgrenzung der „anderen Opposition” wirkt noch heute in der Geschichtsschreibung von Staat, Kirche und Bürgerbewegung nach. Dem entgegen werden damalige Ereignisse oder Entwicklungen jedoch gern für nostalgische Betrachtungen von der gegenkulturellen Bewegung unter dem Begriff „Die anderen Bands” herangezogen, von Kirchenkreisen vereinnahmt und verfälscht, sowie von DDR-verklärenden Linken aufgegriffen, die den Kampf um die Freiräume der DDR-Subkulturen und Alternativbewegung zu einer Qualität von DDR-Lebensgefühl- und Einstellung machen, das erst durch die realsozialistischen Umstände hätte produziert werden können.
Als agierende Gruppen erwähnt werden sollen hier die Leute um die Leipziger Beatgemeinde mit ihren Protestaktionen Ende der Sechziger, die Hausbesetzergruppen in den Siebzigern, die vor allem Häuser im Osten Leipzigs besetzten, offene Kreise, die sich Ende der Siebziger auf den Wiesen im Clara Zetkin-Park trafen, Lesungen veranstalteten oder Massenumzüge durch die Stadt veranstalteten. Erwähnt werden sollen die Freundeskreise, die in Leipzig Anfang der Achtziger eigene Kulturveranstaltungen organisierten, Demonstrationen gegen die Aufrüstung oder die Umweltzerstörung organisierten, Innenstadtaktionen wie die Sachsenplatzbemalung 1980 oder die Rockpalastfete 1981 in Lindenau machten, Freundeskreise, die in Wohnungen Lesezirkel durchführten, Szenetreffen, Konzerte oder Theateraufführungen organisierten. Für internationales Aufsehen sorgte 1983 die Kerzenaktion vor dem Capitol.

Die Leipziger Punkband Wutanfall war zwischen 1981 und 84 eine der ersten und wenigen illegalen DDR-Punkbands und somit ein wesentliches Element der emanzipatorisch wirkenden Punkbewegung. Die Leipziger Band L’Attentat veröffentlichte mit ihrer illegalen Platte „made in GDR” 1986 eines der wenigen Dokumente über die „andere” DDR-Jugend, hielt Kontakte mit der internationalen Punk- und Hardcore-Bewegung und steuerte bis 1989 konsequent den Kooperationsbestrebungen der „Anderen Bands” mit dem DDR-Kulturbetrieb entgegen. Die Leipziger Punks schufen sich in den Achtzigern einen unabhängigen Szenetreff im Mockauer Keller, organisierten regelmäßig Festivals und Konzerte in Leipzig und Halle, zu denen sich die Szene aus der ganzen DDR traf. Leipziger beteiligten sich an anarchistischen Untergrundpublikationen wie dem „Kopfsprung”, beteiligten sich an Solidaritätsaktionen für Verfolgte und Inhaftierte der Undergroundszene im Ostblock. Aus dem Kreis des Mockauer Kellers heraus entstanden 1989 eigene Aktivitäten innerhalb der Wendeentwicklungen, entschloß man sich im Herbst als einzige Gruppe in Leipzig dem antikommunistisch-völkisch/nationalistischen und rassistischen Mob, der zunehmend die Montagsdemonstrationen beherrschte, als „Gegendemonstration” entgegenzulaufen.
Dort finden sich auch die Wurzeln der „Reaktionkonzerte”, die als Gegenkulturbewegung entscheidende Akzente innerhalb der Nachwende-Szenekulturentwicklung der Stadt setzten. Bei Reaktion fanden sich Leute der Antifa, Hausbesetzer und Alternative zusammen, die dann Connewitzer Projekte wie das Conne Island entstehen ließen.
Die Darstellung der Ereignisse vom Herbst ‘89 wird heute hauptsächlich von denen geprägt, deren politische Ziele während der Entwicklungen umgesetzt wurden.
Begriffe wie „friedliche Revolution”, „Heldenstadt Leipzig”, „Demokratiebewegung” u.a. müssen aus den Erfahrungen der Beteiligten um die Gegendemonstrationen und der daraus entstandenen politisch handelnden Szene grundsätzlich in Frage gestellt werden. Auf den Montagsdemonstrationen kam es zunehmend zu unfriedlichen Auseinandersetzungen, zu Überfällen, zu Hetzjagden auf Linke, zu rassistischen Ausbrüchen. Die Bürger ließen zu, daß die Demonstrationen auch zu Aufmärschen Rechtsradikaler wurden, die neuen demokratischen Organisationen ließen zu, daß Gruppierungen aus den Entwicklungen herausgedrängt, daß Minderheiten unterdrückt werden konnten.
Die DDR-Rechtsradikalen und Neonazis werden die Entwicklungen der Wende genauso (und mit Recht) für sich vereinnahmen können wie Linke, Punks und Anarchos, die seit Jahren einen radikalen Oppositionskurs gegen das DDR-System fuhren und die breite Bürgerbewegung Ende der Achtziger erst animierten, auf den fahrenden Zug aufzuspringen.
Hinterfragt werden muß auch die Rolle der gesellschaftlichen Organisationen, der Künstler und Personen des öffentlichen Lebens, der neu entstandenen politischen Gruppen und Parteien in Leipzig um 1989, die oft durch ihr selbstsüchtiges und vorschnelles Handeln, durch Ignoranz und Verantwortungslosigkeit Konflikte erzeugten, die die Entwicklungen während des gesellschaftlichen Umbruchs maßgeblich beeinflußten.
Im Herbst 1989 bildeten sich aus Resten des Mockauer Kellers, aus Aktiven der Friedens- und Umweltbewegung der Wendezeit, aus Alternativen, Hausbesetzern, Studenten und vielen Neueinsteigern eine völlig neue Leipziger Szene, die den Ursprüng der späteren politisch aktiven Connewitzer Szene darstellte. Die Aktionen gegen den Golfkrieg 1991, gegen die rassistischen Morde von Mölln und Solingen oder die Änderung der Asylgesetzgebung im Mai 1993 waren meist Spontandemonstrationen. Ihre Zielrichtungen waren unkonkret, ihre Organisation meist chaotisch. Politischer Einfluß bzw. Erfolge konnten kaum verzeichnet werden.
Aus der Notwendigkeit heraus, in den Wirren der Wendezeit handeln zu müssen, sich eigene Freiräume zu erkämpfen und diese zu verteidigen, enstanden neben diversen Kulturprojekten und Projekten alternativen Lebens um die besetzten Häuser auch Antifastrukturen für den reinen Selbstschutz bis hin zum agierenden Offenen Antifaschistischen Plenum. Die Gegenaktivitäten zum bundesweiten Naziaufmarsch am 21.3.1992 führten innerhalb der Leipziger Szene zu einem Schub, sowie zu einer Anerkennung durch die Öffentlichkeit und anderer antifaschistischer Kräfte. Die autonome Antifabewegung Leipzigs setzte seit Beginn der Antifa-Bündnispolitik Maßstäbe, an denen andere Gruppierungen Leipzigs ihre eigenen Ansprüche messen mußten.
Aus dem Wunsch heraus, eigene „autonome” und unkommerzielle Zentren zu besitzen, entstanden reine Kulturprojekte wie die Villa, das Conne Island, das Zoro und das Werk II, die sich eigenständig entwickelten. Die Alternativkultur Leipzigs lebte nach der Wende erst richtig auf und lieferte durch die Zusammenarbeit verschiedener Personen und Projekte mit den Behörden den Boden, auf dem Imageprojekte der Stadt wie die „Kulturmeile Süd”, „Leipzig kommt”, „Planet Leipzig”, Kneipenfestivals, u.ä. überhaupt erst fruchten konnten.
Innerhalb der gespaltenen Besetzerszene Leipzigs setzte nach den Straßenschlachten vom 27./28.11.92 in Connewitz eine Organisierung und Einigung ein, trat man politisch als geschlossene Szene auf und versuchte auf gemeinschaftlicher Basis zu handeln.
Nach der Ermordung Thümis im Dezember 1992 in der Leopoldstraße setzte eine Diskussion über Inhalte und Ansprüche der Szene ein. Anfang 1993 enstanden neben dem Koordinierungsgruppenbüro und verschiedenen offenen Plenen auch erste eigene Szenepublikationen, über die die Szene kommunizierte und diskutierte.
Die ‘93er Osttour „Etwas besseres als die Nation” westdeutscher Kulturlinker brachte die Differenzen zwischen Ost- und Westlinken auf den Tisch. Für viele Leute und Gruppen Leipzigs war die Tour Anlaß, sich innerhalb der Nachwende-Bedingungen neu zu orientieren, Trennendes und Verbindendes zwischen Ost- und West zu thematisieren und sich an gesamtdeutschen Diskussionen und Aktivitäten zu beteiligen. Ab ca. 1994 bezieht sich der Staats- und Verfassungsschutz auf die Connewitzer Szene, die er als Zentrum der Autonomen Sachsens und der gewaltbereiten Antifabewegung bezeichnet, gegen die er operiert und in der er Spitzel wirbt.
Aus den eigenen Erfahrungen des Häuserkampf heraus lud die Szene zum Hausbesetzerinnenkongreß nach Leipzig. Obwohl viele Erwartungen nicht erfüllt wurden, gehörten Hausbesetzungen in Leipzig weiterhin zur politischen Praxis, gipfelten 1998 sogar in den „Weltfestspielen der Hausbesetzer”.
Aus einer reagierenden Szene, die mit Demonstrationen, Kampagnen oder Aktionen auf aktuelle Ereignisse wie die Goerdeler-Ehrung, die Schließung von Kulturprojekten, Naziaufmärsche, rassistische Übergriffe oder die Einführung des sächsischen Polizeigesetzes einging, wurde mit der Zeit eine agierende. Über Formen der Antifaarbeit wurde diskutiert, man beteiligte sich an der Antinationalismusdebatte, begab sich in Debatten über Ostidendität und Sexismus.
Ab 1995 unterstützte man die Wurzener Antifa und machte in der Öffentlichkeit auf die rassistische und nationalistische Realität im Muldentalkreis aufmerksam. 1989 nahm man Überfälle Rechtsradikaler in Leipzig-Grünau zum Anlaß, auf Probleme der akzeptierenden Jugend-Sozialarbeit mit Rechten im Stadtteil aufmerksam zu machen und solidarisierte sich mit Jugendlichen, die der rechten Dominanz ausgesetzt waren.
Seit den Oktobertagen ‘89 versucht die Leipziger Szene am 9. November den offiziellen Bestrebungen entgegenzuwirken, diesen Tag zum Feiertag der Maueröffnung zu machen, der die Angliederung an die BRD einleitete. Durch den Hinweis auf das Erstarken von Rechtsextremismus und Nationalismus in Leipzig und Deutschland, soll die Öffentlichkeit und die Politik nicht aus ihrer Verantwortung gegenüber deutscher Geschichte entlassen werden, soll ihr das Rückzugsgebiet „friedliche Revolution” durch das Aufzeigen und Erinnern an geschichtliche Ereignisse entzogen werden. Der Schulterschluß von Politik, Behörden und Bürgerbewegung der Stadt Leipzig während der Feierlichkeiten hat den Zweck, sich als Sieger der Geschichte hinzustellen, die eigenen Unzulänglichkeiten von ’89 mit Selbstgefälligkeiten zu kaschieren oder sich einfach nur wichtig zu tun. Um eine Aufarbeitung der geschichtlichen Entwicklungen und Ereignisse aus unserer Perspektive kann es nicht gehen, denn an einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in unserem Sinne ist man nicht interessiert. Das beweist das Auftreten der Veranstalter der Feierlichkeiten im politischen Alltag.
Die hier im Text beschriebenen Bewegungen und Gruppen werden deshalb auch nur zu Farbtupfern und zu Statisten der Ereignisse herabgewürdigt und somit ihre Rolle und Errungenschaften verschwiegen. So wird Geschichte gemacht und der Herbst 1999 ist ein guter Moment, dieses Kalkül nicht aufgehen zu lassen.

Literatur-Hinweise:

  • Broschüre „Vier Wochen Connewitz” (1993)
  • Broschüre „Leipzig ganz rechts” (1995)
  • Klarofix-Serie „Wir sagen alles” (seit Klarofix 1/1999)
  • Buch „Haare auf Krawall” (erscheint im Oktober 1999)

Editoriale Notiz: Wir übernahmen den Text, wie er in drei Teilen bzw. als drei Referate anläßlich der Diskussionsveranstaltung „Die Radikale Linke und die »friedliche Revolution«“ im Leipziger Conne Island gehalten wurde, von der Homepage des Projekts Conne Island. Die Referate wurden von der AG Neunundachtzig beim Bündnis gegen Rechts (BgR) erarbeitet. Die drei Beiträge widerspiegeln nicht en detail die Meinung der AG Neunundachtzig. Die Veranstaltung diente der inhaltlichen Vorbereitung von Aktivitäten anläßlich der im Herbst zu erwartenden unzähligen Gedenkveranstaltungen unter dem Motto „Leipzig erinnert an den Herbst ‘89“.