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Berlin: Industriefreie Zone
Von Peter Ehrlich und Margaret Heckel, Berlin

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Der zerrüttete Berliner Senat hinterlässt eine Industriewüste. Die Hoffnung auf neues Wachstum ruht derzeit allein auf den kreativen Dienstleistern - Internet, Werbung, TV, Presse und Agenturen.

Auf dem Pariser Platz am Brandenburger Tor ist Berlin Boomtown. Wo vor zwölf Jahren noch Volkspolizisten die Mauer bewachten, drängeln sich heute Touristen vor dem wieder aufgebauten Hotel Adlon, das im Mai auf eine Auslastung von sagenhaften 80 Prozent kam. 11,4 Millionen Übernachtungen zählten die Statistiker für das vergangene Jahr: Besucherrekord. Der Tourismus ist zu einem der dynamischsten Wirtschaftszweige der Hauptstadt avanciert.

Doch das schmucke Berlin zwischen Potsdamer Platz und Prenzlauer Berg täuscht über die wahre ökonomische Lage der Metropole hinweg. An den Rändern gleicht die Hauptstadt immer mehr einer Industriebrache: Büro- und Fabrikgebäude stehen leer, aus Gewerbeflächen werden Unkrautbiotope.

Drei von vier Arbeitsplätzen in der Industrie sind seit 1991 verloren gegangen, in absoluten Zahlen wie im relativen Vergleich mehr als in jeder anderen Großstadt. Die Joblosenquote liegt bei 15,7 Prozent. "Noch immer brechen mehr Jobs in der traditionellen Industrie oder im Handwerk weg, als neue geschaffen werden", sagt Landesarbeitsamts-Präsident Clausnitzer.

Zwar haben Lobbyisten, Verbände, Botschaften und deren Dienstleister in den vergangenen Monaten rund 50.000 neue Jobs geschaffen. Dennoch sei es dringend nötig, die Investoren zu begeistern, mahnt Jürgen Reuning, Chef von Otis, einem der großen Arbeitgeber der Stadt.

Senat nicht zu beneiden

Der neue Berliner Senat ist nicht zu beneiden. Die Wirtschaft erwartet neue Impulse, zugleich ist die Stadt pleite, der Verwaltungsapparat verfilzt. Angesichts dieser Probleme raten viele Experten den Regierenden, sich bei ihren Bemühungen auf einige wenige Zukunftsbranchen zu konzentrieren. Neben dem Tourismus sind das für Thomas Heilmann, den Geschäftsführer der Werbeagentur Scholz & Friends, vor allem die Neuen Medien und ihre Dienstleister sowie die Bio- und Verkehrstechnologie. Zwei wichtige Standortvorteile kommen Berlin dabei zugute: sein Status als deutsche Hauptstadt und die Tatsache, dass die City im Ausland als die einzige Glitzermetropole des Landes wahrgenommen wird.

"London und Paris spielen zweifelsohne in einer anderen Liga als Berlin", gibt Ulrich Schmid zu, Geschäftsführer im Medienbüro Berlin-Brandenburg. Anders als in der britischen und französischen Hauptstadt sind aber die Mieten und Lebenshaltungskosten in Berlin noch günstig - was inzwischen sogar kreative Köpfe aus New York City anlockt. "Viele, die wegen der dortigen Entlassungswelle nach Neuem suchen, denken an Berlin", sagt Schmid. Und sind die Kreativen erst mal da, so der Marketingstratege, folgen auch Firmen.

Stadt der Werber

Rund 100.000 Menschen arbeiten gegenwärtig in der Berliner Medien-, Werbe- und Internetbranche sowie bei den angeschlossenen Dienstleistern. 16 der 20 größten Werbeagenturen haben eine Dependance in der Stadt, die Zahl der Internet- und Multimediafirmen hat sich seit Anfang 2000 nahezu verdoppelt.

Auf kurze Frist lassen sich diese Wachstumsraten allerdings nicht halten. Der Crash der New Economy hat auch in der Hauptstadt seine Spuren hinterlassen.

Zum Teil wird dieser Rückschlag ausgeglichen durch den Zuwachs an Dienstleistern, die der Regierungsumzug an die Spreeufer gespült hat. "Die größte Stärke Berlins liegt darin, funktionale Hauptstadt geworden zu sein und damit nun internationales Interesse zu erregen", sagt Karl Brenke, der am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) für die regionale Konjunktur zuständig ist.

Seit 1999 vergeht kaum eine Woche, in der nicht irgendein Verband, eine Botschaft oder eine neue Firmenrepräsentanz zur Einweihung ihrer neuen Berlin-Dependance lädt. Die drei großen Industrieverbände sind längst vor Ort, nun hat es auch die neue Dienstleistungsgewerkschaft Verdi an der Spree gezogen.

Geld mit Gesundheit

Auch im Gesundheitssektor schlummert ein enormes Potenzial. Während die Landespolitik die Schließung von Kliniken prüft, drängen Berliner Privatkliniken auf den internationalen Markt.

Das Deutsche Herzzentrum des Transplantationsspezialisten Roland Hetzer wirbt im Internet auf Englisch um Ausländer und zeigt dort Hotel- und Aufenthaltsräume seiner Klinik im Wedding. Die privaten Helios Kliniken haben vor kurzem zwei Hospitäler am Medizintechnikstandort Berlin-Buch übernommen und wollen dort 400 Mio. DM in einen Neubau mit 1000 Betten und angeschlossenem Hotel investieren.

Bei der Meoclinic in der Friedrichstraße kommt auf jeder zehnte Patient aus dem Ausland. Ihr ärztlicher Direktor Eckhard Löhde betreut viele Kunden aus Russland: "Hier wirken die traditionellen Bindungen Berlins in den Osten." Künftig will er seine Fühler auch nach Amerika ausstrecken: "Eine Operation in Berlin kostet mit Flug und touristischem Begleitprogramm weniger als der gleiche Eingriff in den USA."

Was für die Dienstleister gilt, scheint das Verarbeitende Gewerbe immer weniger zu beeindrucken. Industriell entwickelt sich Berlin zunehmend zu einer Wüstenlandschaft.

Industriewüste

Mit dem Mauerfall fielen auch die Berlin-Subventionen und damit alle Arbeitsplätze an den so genannten "verlängerten Werkbänken" weg. Über Umsatzsteuerpräferenzen und direkte Subventionen waren damals Stellen mit bis zu 250.000 DM in der Spitze bezuschusst worden. "Es gab Produkte, bei denen die Förderung höher war als die gesamten Produktionskosten", sagt DIW-Ökonom Brenke. Kakaomasse zum Beispiel, ein Produkt, das extra für Berlin erfunden wurde, habe sich nur durch die Berlin-Förderung gerechnet.

Von den einst mehreren hunderttausend Arbeitsplätzen sind gerade mal noch 113.000 Arbeitsplätze in der Verarbeitenden Industrie übrig geblieben. Eine magere Quote - in Berlin leben 3,4 Millionen Menschen. München mit knapp 1,2 Millionen Einwohnern kommt dagegen auf rund 120.000 Beschäftige in der Produktion, Hamburg mit 1,7 Millionen Einwohnern auf 103.000.

Ganze 14 industrielle Großbetriebe gibt es in der Hautstadt noch. Eine führende Position in Deutschland nimmt Berlin allenfalls noch im Schienenfahrzeugbau und in der Verkehrstechnik ein. Nach dem Verkauf von Adtranz an die kanadische Bombardier-Gruppe gibt es allerdings auch hier Angst vor Arbeitsplatzverlusten.

Zukunftspotenzial hat die Stadt heute als Ort für die Entwicklung und Koordination industrieller Produktion. So betreut der Aufzugbauer Otis von Berlin aus den Verkauf bis nach Sibirien, bei Bosch-Siemens Hausgeräte werden Waschmaschinen für die ganze Welt entwickelt.

Künftig will sich die Stadt auf kleine Firmen und neue Branchen konzentrieren. Seit Jahren bemühen sich Senat und Wirtschaftsförderer verstärkt um Ansiedlungen und Gründer. Die inflexible Bürokratie der Stadt macht den Strategen jedoch immer wieder einen Strich durch die Rechnung. "Berlin sollte dringend das Thema Internet in der Verwaltung angehen, aber da bewegt sich gar nichts", kritisiert Otis-Chef Reuning. Noch immer müssen in Berlin beispielsweise zwei Fluchtwege nachgewiesen werden, die das Bauen verteuern, ärgert sich Werber Heilmann: "In Hamburg genügt einer." Die Folge: Von den über 30.000 Neugründungen und Firmenzuzügen blieben 1999 per saldo gerade mal 1500 Betriebe übrig.

Mehr Sachverstand nötig

Heilmann empfiehlt dem neuen Senat mehr Interesse am Detail: So sei München vor allem deshalb der Top-Standort für Venture-Capital-Geber, weil die Landesregierung als erste ihre Finanzbehörden angewiesen habe, die Branche wie Vermögensverwalter und nicht wie die gewerbliche Wirtschaft zu besteuern. "Inzwischen machen das alle Bundesländer, aber die Bayern haben das als Erste erkannt", sagt Heilmann.

Mehr ökonomischer Sachverstand würde Berlin nach Meinung vieler Beobachter nur gut tun. "Die Hälfte der Leute im Wirtschaftsausschuss kann bis heute keine Bilanzen lesen", mokiert sich ein Unternehmer.

Gegenwärtig hoffen alle, dass der neue Senat beim Stopfen seiner Haushaltslöcher die Hochschulen bei seinen Sparaktionen ausnimmt. "Die breite Hochschul- und die Forschungsinfrastruktur ist ein großer Standortvorsprung der Region", sagt Norbert Bensel, Vorstand von DaimlerChrysler Services. Für einen wissensbasierten Dienstleister wie sein Unternehmen sei "das Flair einer Großstadt wie Berlin und die guten Schulen und Ausbildungsmöglichkeiten" wichtig, um hochqualifizierte Mitarbeiter anzulocken.

Vieles hängt nun davon ab, wie konsequent der Senat die Weichen stellt. Mancher Unternehmer fürchtet, dass eine Mehrparteienkoalition die Entscheidungsprozesse in der Stadt weiter verlangsamen würde. "Die Zeit", so Werbemanager Heilmann, "haben wir nicht".