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Die Ethik-Debatte zur Gentechnik - Gemeinheiten aus Achtung vor „dem Leben" 

Redaktion AndersGesehen
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Seitdem das britische Unterhaus im Dezember vergangenen Jahres das  Klonen von Embryonen erlaubt hat, läuft in Deutschland eine lebhafte  Debatte darüber, ob und inwieweit man das überhaupt darf. Während für  den Bundeskanzler längst sonnenklar ist, daß „wir" uns die Zurückhaltung in  Sachen Gentechnik angesichts der ausländischen Konkurrenz nun wirklich  nicht mehr leisten können (von wegen Arbeitsplätze), meldet sich ein ganzes  Heer selbsternannter Moralapostel und gibt kritisch zu bedenken, daß man  doch in so hochheilige Dinge wie „das Leben" nicht einfach so eingreifen  könne und überhaupt, wo denn die ganze Genforschung hinführen solle.

Trotz des erwarteten nationalen Nutzens werden Experimente mit  menschlichen Genen in der Tat nicht einfach so erlaubt. Hier wird ja nicht  bloß Naturwissenschaft gemacht, sondern die Forschungen betreffen  diesmal direkt die Grundlage des Staates: es ist sein Menschenmaterial, an  dem hier zum volkswirtschaftlichen und kommerziellen Nutzen  herumgedoktert werden soll - z.B. zur Steigerung seines  Leistungsvermögens oder zur Verringerung krankheitsbedingter  Ausfallzeiten.

Der Staat hat sich nun in seinem Grundgesetz das Exklusivrecht  ausbedungen, selber zu entscheiden, was überhaupt ein Mensch ist, wo sein  Recht auf Leben beginnt und wo es aufhört und unter welchen Bedingungen  und inwieweit er und seine Bürger in dieses eingreifen dürfen.

Deswegen wischt die Bundesregierung die moralischen Einwände gegen die  Gentechnik auch nicht einfach vom Tisch. Obwohl sie sich grundsätzlich  längst dafür entschieden hat, läßt sie eine intensive Ethikdebatte nicht nur zu,  sondern ermuntert sogar jedermann dazu, bestellt hierzu extra eine  Ethik-Kommission und veranstaltet eine Bundestagsdebatte (Recht und  Ethik der modernen Medizin und Biotechnologie am 31.5.01), mit der aller  Öffentlichkeit demonstriert werden soll, daß man es sich bei der Abwägung  des Für und Wider gentechnischer Experimente an Embryonen keineswegs  leicht macht.

Die in dieser Debatte dargelegten Standpunkte habe es allerdings in sich.

Der Bundeskanzler propagiert die Genforschung als hohe moralische Pflicht,  indem er ihren Gegnern einen höchst unmoralischen Standpunkt voller  Respekt einfach unterstellt: „Sicherlich ist die religiös motivierte Position  zu respektieren, die das Schicksal von Schwerstkranken und Patienten,  die zum Beispiel an Krebs, Alzheimer, Parkinson, Mukoviszidose oder  an einer anderen Krankheit leiden, als bedauerlich, am Ende aber  unabänderlich empfindet." Daß die besagten Krankheiten einfach  hinzunehmen seien, hat zwar nie jemand gesagt. Nichtsdestoweniger taugt  diese Unterstellung jedoch, um jetzt das Allheilmittel aus der Tasche zu  ziehen: „ Aber ich frage mich: Ist nicht der Wunsch, die ärztliche  Pflicht, alles nur Menschenmögliche für die Heilung schwerstkranker  Menschen zu unternehmen, ebenso zu respektieren?" - So einfach ist das  also: wenn gegen Krebs, Alzheimer und Parkinson bisher nichts hilft,  wird...nein, nicht etwa den Krankheitsursachen auf den Grund gegangen,  sondern einfach was Neues ausprobiert: die Gentechnik! Dann kann man  auch ganz getrost die Abschaltung der Atomkraftwerke auf den  St.-Nimmerleins-Tag verschieben - den bis dahin noch anfallenden  Leukämiepatienten wird es eine Freude sein, der Genforschung, Schröders  nationalem Prestigeprojekt, als Versuchskarnickel zu dienen!

Der Unionsabgeordneten Böhmer hingegen geht es um Höheres:  „Überlegen wir uns einmal, was es konkret bedeutet, eine  Präimplantationsdiagnostik durchzuführen: Das heißt, dass im  frühesten Stadium geprüft wird, ob der Embryo genetisch beschädigt  ist. In der Konsequenz führt das dazu, dass dieser aussortiert wird.  Aussortieren heißt selektieren, heißt, möglicherweise behindertes Leben  wegzuwerfen und zu töten. Ich glaube, an dieser Stelle ist aus Achtung  vor dem Leben und dem sich daraus ergebenden Schutz für dieses eine  solche Schlussfolgerung nicht zulässig. Deshalb scheidet für mich die  Präimplantationsdiagnostik aus." (Maria Böhmer, CDU/CSU-Fraktion).  So so, Präimplantationsdiagnostik bedeutet also Selektion von sogenanntem  „behinderten Leben" - warum ist sich Frau Böhmer da eigentlich so sicher?  Nun, wenn Frau Böhmer von einem „behinderten Leben" spricht, dann wird  sie schon genau wissen, daß sich dieses vom „normalem Leben" sehr wohl  unterscheidet. Die Bezeichnung drückt ja schon aus, daß das Leben in  dieser Gesellschaft für einen „Behinderten" sich erheblich schwieriger  gestaltet als für einen sogenannten „normalen" Menschen. In der  kapitalistischen Konkurrenz wird der vielbeschworene „Wert des  Menschlichen Lebens" nun einmal an seiner Brauchbarkeit fürs Geschäft  gemessen - und gegen diese Art von Selektion hat Frau Böhmer als  Partisanin der Marktwirtschaft selbstverständlich nichts einzuwenden. Daß  hierzulande behinderten Kindern und ihren Eltern das Leben nach Strich und  Faden zur Hölle gemacht wird, veranlaßt sie zur Sorge um höhere Werte:  ganz unverfroren wirft sie im Bundestag das aparte Problem auf, ob die  biologische Selektion bereits im Reagenzglas vielleicht nicht doch etwas  verfrüht sei.

Hinter dieser Ethik-Debatte mit ihrer heuchlerischen „Achtung vor dem  menschlichen Leben" steckt schon ein eigenartiger Standpunkt: Es soll für  einen Menschen wichtiger sein, daß er lebt, als wie er lebt. So ganz abwegig  ist dieser Standpunkt allerdings wiederum nicht: er reflektiert nämlich genau  die Lage der meisten Menschen in einer kapitalistischen Gesellschaft. Für sie  ist die Tatsache, daß sie leben, in der Tat das einzige, was ihnen von ihrem  Leben bleibt. Ihre Lebensgestaltung wird ihnen nämlich von den  Anforderungen des Kapitals diktiert, nach denen sie vom Beginn ihres  Lebens an sortiert werden und sich selbst zuzurichten haben.

Schreckensvisionäre, die in den Genlabors schon irgendwelche  Homunkulus-Macher am Werke sehen, können also beruhigt sein: die  Zurichtung des Menschenmaterials nach den Vorgaben des Staates und der  Geschäftswelt findet ohnehin täglich statt, seitdem es Kapitalismus gibt. Und  zwar ganz ohne Gentechnik.