Editorial
Buchgläubigkeit
06/02
 

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Irgendwann im Winter 1966/67 tauchten in Westberlin Mao-Bibeln auf. Die Kommune 1 hatte sie sich von der Botschaft der VR China aus Ostberlin besorgt. Mao galt der revoltierenden Jugend als eine Art Symbolfigur ihres Protestes. Mit Mao-Postern und Mao-Bibeln konnte man so herrlich die verkalkten westberliner Antikommunisten an der Uni, in der SPD und CDU, beim DGB und anderswo provozieren.

Es sollten knappe drei Jahre der Revolte folgen, bis die Mao Tsetung Ideen von einem Großteil der Jugend- und Studentenbewegung nicht mehr nur als Teil der medialen Vermittlung ihrer Proteste verstanden, sondern zur politisch-ideologischen Grundlage ihrer Politik ernannt wurden. Untersuchungen führen und die Klassenanalyse erstellen, damit das Programm der Revolution endlich geschrieben und die Revolution gemacht werden konnten, waren die zentralen maoistischen Losungen. Gegen all zuviel Studium der Wirklichkeit, die einer revolutionären Praxis entgegen stehen könnte, wappnete man sich ebenfalls mittels der Mao Tsetung Ideen. "Gegen die Buchgläubigkeit" lautet die passende Parole.

Längst ist alles gescheitert und vergessen, was sich die 68er als revolutionäre Ziele gesetzt hatten. Der verkrusteten BRD-Gesellschaft wurde eine kulturelle Modernisierung beschert, die sie bitter nötig hatte - mehr nicht.

Eigenartigerweise lebt jedoch die Denunzierung der Beschäftigung mit Theorie, wie sie in der Parole gegen die Buchgläubigkeit seitdem zum Ausdruck kommt, munter im linken&radikalen Spektrum weiter. Gegen theoretische Einsichten in den Gang von Geschichte und Gesellschaft munitionieren sich heute noch immer gern BewegungspolitikerInnen mit dem Vorhalt der Buchgläubigkeit gegen diejenigen, die sich hauptseitig mit Theorie beschäftigen, und führen - sozusagen als Gegenbeweis - ihre individuell erlebte Empirie der Verhältnisse  ins Feld.

Überhaupt die Arbeit am Begriff ist schon deswegen unbeliebt, weil das Lesen eine notwendige Voraussetzung darstellt.

Und weil der linksradikale Zeitgeist ohne tiefer gehende Beschäftigung mit der Theorie und ohne Arbeit an der Analyse von Gesellschaft und Geschichte auskommt, wie die immer schärfer werdende Kontroverse um den Antisemitismus wieder einmal zeigt, ist es mehr als mutig, gerade im politischen Zentrum der Theorielosigkeit - dem Kreuzberger Mehringhof, eine linke Buchmesse durchzuführen.

Bekanntlich gehören wir trend-RedakteurInnen zur Theoriefraktion. Sonst würden wir den trend gar nicht machen. Daher begrüßen wir die 1. Linken Buchtage Berlin ausdrücklich. Aber wir bleiben skeptisch, wenn sich unsere Berliner Freunde in dieses Projekt stürzen, und es nicht nur virtuell unterstützen, sondern sich auch mit zwei Veranstaltungen (Filmmatinee: Starbuck - Holger Meins mit Gerd Conrath, Lesung: Der Anti-Jurist oder die Kriminalität der schwarzen Roben, mit Bodo Saggel) daran beteiligen.

Wir wünschen gutes Gelingen.

m.i.r.i.a.m.