Probleme der Linken
Die "Interim" & Israel
Eine Text-Auswahl aus & zur Interim 550
06/02
 

trend
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Offener Brief an indymedia Deutschland
Antisemitismuskritik nicht mit Zensur begegnen

Liebe Leute!
Am 9. Mai erschien das Heft Nr. 550 des Berliner Polit-Fanzines Interim mit einer Ausgabe unter dem Motto der Israel-Solidarität und machte damit redaktionsinterne Meinungsunterschiede öffentlich. In der Nacht vom 27. auf den 28. Mai wurden Ausschnitte dieses Heftes auf indymedia Deutschland veröffentlicht. Dieser Beitrag ist zensiert worden. Ebenso wie drei Ausfertigungen eines Leserbriefes (1 2 3), der sich kurz darauf hierüber beschwerte. In allen Fällen wurden die Links von der Open-Posting-Seite entfernt, so daß diese Beiträge zur Zeit lediglich über persönliche Bookmarks oder Links auf anderen Websites erreichbar sind. Erst in Reaktion auf einen weiteren Leserbrief vom Vormittag des 28.05. erfolgte eine erste Stellungnahme, derzufolge "der text an sich die moderationskriterien eher nicht verletzt."

Ausschlaggebend sei aber, daß "der kontext möglicherweise" die Kriterien verletze. Darauf folgt die Ankündigung, alle Links auf den zensierten indymedia-Artikel ebenfalls zu zensieren. Dies ist geschehen und wurde in der Folge unangekündigt auch auf Links auf externe Interim-Mirrors ausgeweitet. So wurden am 29. Mai mehrfach Ergänzungen mit dem Link auf http://www.interim.tk/ zensiert. Die aktuelle Zensurmaßnahme wird mit einer Dolchstoßlegende begründet, die sich mindestens den Vorwurf verantwortungsloser Paranoia gefallen lassen muß: Ein Sprecher des Moderationskollektivs wertet das Erscheinen der Interim Nr. 550 als "die zerstörung eines emanzipatorischen projekts".

Was ist geschehen? "Wir, die aktuelle Redaktionsgruppe, haben unseren Spielraum innerhalb des Interim-Konzeptes genutzt, um uns solidarisch mit Israel zu erklären und begründen diese Positionierung im folgenden Text. Unsere Position wird nicht von allen an dieser Zeitschrift Beteiligten vertreten und ist nicht repräsentativ für 'die' Interim. Die nächste Ausgabe kann schon wieder ganz anders aussehen..." Die Zeitschrift Interim steht symbolisch für das politische Erbe der autonomen Bewegung. Daß eine Redaktionsgruppe in den politischen Wirren nach dem Tag des Bodens ein klares Zeichen gesetzt hat, daß dieses Erbe auch ein antifaschistisches ist, findet unsere Anerkennung. Nichts ist zerstört worden außer der Vorstellung, die Interim (und von ihr repräsentiert die traditionelle linke Szene) müßten der Intifada und ihren Begleiterscheinungen in Europa zwangsläufig und hundertprozentig unkritisch gegenüberstehen. Um diese Illusion ist es nicht schade.

Nimmt man ausschließlich die Wertung des zensierenden Moderationskollektivs zur Kenntnis, kann der Eindruck entstehen, es gebe keinerlei politische Unterschiede innerhalb des deutschlandkritischen Spektrums. Diese verschwörungstheoretisch motivierte Projektionslogik wird nicht ohne Grund von vielen indymedia-NutzerInnen als Symptom einer gegenwärtigen gesellschaftsumfassenden politischen Stimmung gewertet. Wer sich offen intifadakritisch äußert oder gar symbolisch für Israel Partei ergreift, wird reflexartig mit der Bahamaskeule mundtot gemacht. Bereits jetzt hat dieses Zensurverhalten dem Ansehen von indymedia Deutschland schweren Schaden zugefügt und den fatalen Eindruck genährt, indymedia-Moderationskollektive stünden für die Mitarbeit von Antisemiten offen.

Es muß etwas geschehen:

1. Schluß mit der politischen Zensur gegen antisemitismuskritische Beiträge! Derartige Verstöße von Moderationskollektiven gegen die Moderationskriterien schaden nicht nur der Funktion und dem Ruf von indymedia Deutschland, sondern werden auch von Antisemiten als Einladung aufgefaßt. indymedia Deutschland ist aufgefordert, die erklärte Absicht zur Rotation der Moderationskollektive zu präzisieren und zur Anwendung zu bringen.

2. Distanzierung nach rechts! indymedia Deutschland ist angehalten, im Wortlaut der Moderationskriterien unter Punkt 2 die Liste der Ausschlusskriterien ("rassistisch, antisemitisch, sexistisch, chauvinistisch, generell menschenverachtend") um das Kriterium "völkisch" zu vervollständigen.

3. Berechenbarkeit herstellen! indymedia Deutschland ist aufgefordert, einen Diskussionsprozeß in Gang zu setzen, der dazu führt, im Moderationsalltag anwendbare Definitionen dieser Ausschlußkriterien zu formulieren. Ziel muß sein, den individuellen Ermessensspielraum der Moderatoren soweit wie möglich zugunsten transparenter Modalitäten zu reduzieren.

4. Rubrikensystematik anpassen! indymedia Deutschland ist im Einklang mit Punkt 4 der Moderationskriterien aufgefordert, den in Form von Beiträgen bereits präsenten Themenbereich Deutschlandkritik auch in der Rubrikenliste einzuführen.

5. Reformkonzept erarbeiten! indymedia Deutschland ist aufgefordert, alle konstruktiv intendierten Vorschläge zur Verbesserung der Arbeitsweise und Funktion des führenden deutschsprachigen Open-Publishing-Mediums zu sammeln und auszuwerten. Ziel muß sein, indymedia Deutschland in die Lage zu versetzen, mit emanzipatorischen politischen Neuentwicklungen Schritt zu halten, ohne daß dies durch Willkürentscheidungen einzelner sabotierbar ist, die in eine Machtposition gelangt sind.

Es ist nicht der erste Fall von politischer Zensur auf indymedia Deutschland. Ende April wurde beispielsweise ein kritischer Bericht über eine Palästina-Solidaritätsveranstaltung durch Entfernung von der Open-Posting-Seite zensiert - ebenfalls aus politischen Gründen, da auch dieser Artikel zu den Moderationskriterien in keinem erkennbaren Widerspruch stand.

Politische Zensur stellt einen Angriff gegen die Grundsätze von indymedia Deutschland dar. In der Präambel der Moderationskriterien heißt es: "Damit daraus keine Machtposition entsteht, wechseln die Kollektive und setzen nur die im Konsens erarbeiteten Moderationskriterien um. (...) Indymedia hat keine politische Redaktion. Im Gegensatz zu Projekten mit einer klaren politischen Zielsetzung will das Moderationskollektiv nicht selbst Politik machen, sondern in erster Linie eine emanzipatorische Nutzung von Medien fördern."

Der Streit um die Interim ist der Prüfstein: Sind diese Grundsätze tatsächlich die Bytes wert, die sie belegen?

 im Juni 2002

deutschlandkritische Initiative antisemitismusstreit.tk, Berlin
Gerhard Kern, Morbach
Ökologische Linke (Ökoli), Wien
Bestimmte Negation Neukölln, Berlin
Thomas Becker, Bielefeld
AntifaschistInnen für Israel, Wiesbaden/Mainz
Autonome Antifa Nordost (AANO), Berlin
Samuel Laster, Jewish Internet Scout, Berlin-Wien

Quelle: http://www.antisemitismusstreit.tk

Textauswahl:

Text 1

Das Problem ist Antisemitismus

Geschichte oder: da war doch was?

Die Entstehung des Staates Israel und die der zionistischen Bewegung müssen vor dem Hintergrund des Holocausts und den gescheiterten Assimilationsbemühungen der europäischen Jüdinnen im 19. Jahrhundert betrachtet werden. Die Staatsgründung Israels, als letzte und einzige Zufluchtstätte, erfolgte also angesichts der Vernichtungsdrohung und Durchführung gegen "die Juden" und ist ein direktes Produkt aus dem deutschen Nationalsozialismus. Da Jüdinnen immer noch und immer wieder von antisemitischer Diskriminierung und Verfolgung bedroht sind, darf Israel das Existenzrecht nicht abgesprochen werden. Das Bekämpfen des Zionismus ist vor dem Hintergrund des geschichtlichen Kontextes ebensowenig hinnehmbar(1).

Die besondere Entstehungsgeschichte und Situation des israelischen Staates lassen es auch nicht zu, linke Kritik (z.B. an Staaten, Militär, etc.) einfach so auf Israel anzuwenden. So ist die Forderung nach der Auflösung des Staates Israel zur Zeit nicht mit anarchistischer Anti-Staatlichkeit begründbar, weil diese Forderung die Schutzfunktion Israels für von der Herrschaftsform (!) Antisemitismus 3etroffene ausklammert. Solange es Deutschland und Antisemitismus weltweit gibt, lehnen wir - als Anarchistlnnen! - eine Diskussion über die Existenz des Staates Israel ab.

Es geht um Antisemitismus...

Antisemitismus ist in der palästinensischen Gesellschaft und in allen Ländern, von denen Israel umgeben st, stark verbreitet. Ob mensch die palästinensischen Terrororganisationen wie Hamas und Jihad, die sich der Zustimmung von breiten Teilen der palästinensischen Bevölkerung sicher sein können, in ihren Äußerungen und Aktionen betrachtet(2), oder sich mit Umfrageergebnissen und den berüchtigten (von der EU finanzierten) palästinensischen Schulbüchern auseinandersetzt, Antisemitismus und eine völkische Formiertheit sind massiv vorhanden und bestimmen die Politik auf der palästinensischen Seite. Deshalb kann es zur Zeit auch keine "Friedenslösung" geben. Die antisemitischen Terrororganisationen streben im Einklang mit breiten Teilen der palästinensischen Gesellschaft die Beseitigung des Staates Israel an. Vor diesem Hintergrund die Forderung an Israel zu stellen, Zugeständnisse zu machen und auf die palästinensische Seite zuzugehen, ist absurd(3).

Bezeichnend ist besonders die Forderung nach einer Anerkennung des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge durch Israel. Die Forderung erstreckt sich nicht nur auf die ca. 750.000, z.T. freiwillig bzw. auf Druck der eigenen Führer Emigrierten, sondern auch auf deren Nachkommen (insgesamt mehrere Millionen). Sie läßt sich nur mit einer völkischen Argumentation begründen. Vor diesem Hintergrund betrachtet, stellt die Forderung wie Amos Oz sagt, den "arabischen Euphemismus für die Liquidation Israels" dar, da sie, wenn sie umgesetzt würde, die Funktion Israels als Zufluchtsstätte für von Antisemitismus bedrohte Jüdinnen verunmöglichen würde.

Auch wenn der israelische Staat aufgrund seiner relativen militärischen Stärke einen sicheren Stand zu haben scheint, ist er wegen des Antisemitismus und der zum Teil unsicheren innenpolitischen Situation in den umliegenden Ländern zumindest mittelfristig immer in seiner Existenz bedroht. Zur Zeit bilden diese Länder keine Allianz, wie sie es in den vergangenen Jahrzehnten in Kriegen gegen Israel oft taten. Zum Teil kann sogar von einem entspannten Verhältnis gesprochen werden (z.B. zu Ägypten). Das kann sich wie erwähnt aber sehr leicht und sehr schnell wieder ändern. Auch die Unterstützung Israels durch die USA ist bei weitem nicht für alle Zeiten so sicher, wie es die Antiimps mit ihrer simplen Weltsicht glauben. Nach dem 11.9. hat sich die Außenpolitik der USA z.B. verändert und ist jetzt mehr auf arabische Bündnispartner angewiesen.

Die erwähnten Kriege gewann die israelische Armee alle - ein Umstand, der die Weiterexistenz des jüdischen Staates überhaupt erst ermöglichte4. Die erste militärische Niederlage Israels würde das Ende der einzigen Zufiuchtsstätte bedeuten, die verfolgten Jüdinnen weltweit ausreichend Schutz vor Pogromen, Mord und Vernichtung bieten kann.

Erstaunt haben wir in Gesprächen in den letzten Wochen registriert, daß vielen die existentielle Bedrohung Israels und das Vorhandensein von Antisemitismus in der palästinensischen und den arabischen Gesellschaften neu war. Während beim ersten Punkt noch fehlende Kenntnisse der Geschichte des Nahen Ostens als Grund angenommen werden kann, vermutlich auch in' Kombination mit dem Trugbild, nach dem dort im Wesentlichen mit "Steinen gegen (israelische) Panzer" gekämpft wird, ist der zweite Punkt schon schwerer zu fassen. Vielleicht trauen einige ihrem Erkennen des Antisemitismus in der palästinensischen und den arabischen Gesellschaften nicht und befürchten statt dessen dem rassistischem Bild des "durchgeknallten, fundamentalistischen Arabers" aufgesessen zu sein. Vielleicht projizieren auch"' einige ihre Wünsche, Sehnsüchte und revolutionsromantischen Vorstellungen auf die Palästinenserinnen, die sie zu . armen Opfern und zum revolutionären Subjekt stilisieren und verkennen dabei, daß diese "armen Schweine" nicht nur (relativ) arm, sondern (viel zu oft) auch Schweine sind.

...da kann Deutschland nicht fehlen.

In Deutschland ist eine anti-israelische Stimmung hegemonial. Mit den dominierenden Bildern, die Israelis als "Kindermörder" und Palästinenserinnen als "David im Kampf gegen Goliath" darstellen, wird der Konflikt auf eine brutale israelische Aggression reduziert. Während israelisches Handeln als Machtpolitik "enttarnt" wird, billigt mensch den palästinensischen (Selbst-)Mordkommandos mildernde Umstände zu. Die Beteiligten kommen aus allen politischen Spektren, von ganz rechts über konservativ und antizionistisch-antiimperialistisch bis "links-Israel-kritisch". Im politischen Diskurs haben "Tabubrüche" im deutsch-israelischen Verhältnis Hochkonjunktur, die im Zuge der "Norma!isierung" die Entsorgung der deutschen Geschichte und damit das Auftreten Deutschlands als selbstbewußte Nation befördern. Sie sind Ausdruck des deutschen Antisemitismus. Gleichzeitig profilieren sich Deutschland und die EU im Konkurrenzkampf mit den USA als ernstzunehmende Faktoren in der Weltpolitik. Sogar über den Einsatz deutscher Soldaten in Israel wird nachgedacht.

Diese Entwicklungen werden sicher von Teilen der "linken Israelkritikerlnnen" wahrgenommen und abgelehnt. Wir haben die Kategorie "linke Israelkritikerlnnen" hier eingeführt, um deutlich zu machen, daß wir durchaus zwischen den unterschiedlichen Positionen differenzieren und nicht alle in einen großen Antisemitlnnen-Sack stecken. Antizionismus (als Ausdruck eines "linken" Antisemitismus), die Negierung des Existenzrechts Israels und andere völlig untragbaren Positionierungen werden nicht von allen geteilt, die die anti-israelische Stimmung (auch unbewußt) prägen. Nur verkennen die "linken Israel-Kritikerlnnen, daß Kritik-an-Israel-üben zur Zeit die Art ist, mit der sich Antisemitismus in Deutschland äußert und verbreitet. Jede von deutschen Linken geäußerte Kritik, z.B. am Vorgehen der israelischen Armee oder Scharon steht in diesem Kontext und verstärkt den anti-israelischen und antisemitischen Tenor in der Diskussion* Dabei spielt es keine Rolle, daß die Kritik für sich genommen nicht antisemitisch, antizionistisch oder antiisraelisch (bezogen auf das Existenzrecht) sein mag - eben weil sie nicht aus dem Kontext, in dem sie geäußert wird, herauszulösen ist. Auch der Verweis auf israel-kritische Äußerungen von Israelis (z.B. aus den Resten der israelischen Friedensbewegung) oder anderen Jüdinnen ändert an diesem Kontext gar nichts.

Die Parolen "Solidarität mit Israel!" und "Lang lebe Israel?" sowie das demonstrative Verwenden von Israel-Fahnen bedeuten andererseits keineswegs, alles, was in und unter der Beteiligung von Israel passiert, gutzuheißen.

Darum geht es auch gar nicht. Es geht "nur" um das Existenzrecht Israels und das Recht der Jüdinnen, die dort Zuflucht gefunden haben, dieses Existenzrecht, das permanent gefährdet ist, zu verteidigen, und zwar auch militärisch, weil es bisher nur so möglich war und auf absehbare Zeit nur so möglich sein wird.

Offensichtlich wird diese Bedrohung Israels und das daraus resultierende Sicherheitsbedürfnis von vielen nicht erkannt bzw. verkannt. So erscheint dann auch allzu häufig das Bekenntnis zum "Existenzrecht Israels" als Floskel, um dann um so härtere Kritik an Israel üben zu können (und so wahnsinnige Forderungen wie ein Rückkehrrecht aller vertriebenen Palästinenserinnen einzufordern - um nur ein Beispiel zu nennen, wo das Bekenntnis zur Floskel verkommt).
Um es noch einmal anders zu formulieren: "Solidarität" ist per se immer kritisch, ansonsten verkommt Solidarität zur Gefolgschaft. Insofern ist Kritik an vorhandenen Mißständen in Israel auch prinzipiell zulässig, andererseits ist der Diskurs um Israel derart antisemitisch aufgeladen und wirkmächtig, dass jede Kritik an israelischer Politik funktionalisiert wird und in antisemitisches Fahrwasser gerät - ob gewollt oder nicht. Eine Diskursintervention, die angesichts des Antisemitismus zweifelsohne notwendig ist, muß vor diesem Hintergrund politisch diskutiert werden.

In diesem Sinn: Solidarität mit Israel!

die aktuelle Interim-Redaktion

(1) Der Begriff "Antizionismus" wird dabei ganz unterschiedlich gebraucht. Zum einen als ein Ersatzbegriff für Antisemitismus, der im Unterschied zu diesem für Linke eine positive Bezugnahme ermöglicht, zum anderen, wenn es um die Negierung des Existenzrechts Israels geht, oder auch, wenn z.B. israelische Militär- oder Siedlungspolitik kritisiert wird.
Wir möchten an dieser Stelle ein passendes Zitat von Martin Luther King anfügen: "...Du erklärst, mein Freund, daß Du kein Judenhasser bist, sondern bloß "Antizionist". Und ich sage, lasse die Wahrheit von hohen Berggipfeln erklingen, lasse sie in allen Tälern der grünen Erde Gottes widerhallen: Wenn Menschen Zionismus kritisieren, meinen sie Juden."

(2) Die meist entschuldigend als Verzweiflungstäter bezeichneten oder zu Märtyrern des palästinensischen "Befreiungskampfes" stilisierten Selbstmordattentäter haben fast ausschließlich die Ermordung jüdischer Zivilistlnnen als Ziel. So zeigen zum Beispiel der Bombenanschlag auf ein linkes Studi-Cafe in Israel (Anfang März, Café Moment in Jerusalem), sowie das Attentat der Hamas am 28.03., dem Pessachfest, einem der höchsten jüdischen Feiertage, die antisemitische Motivation der Angriffe. Alle Übergriffe und Anschläge in Europa richten sich ebenfalls gegen Jüdinnen als Jüdinnen. Hier fehlt komplett die Möglichkeit, den zum Ausdruck kommenden Antisemitismus zu leugnen, was bei Angriffen auf israelisches Militär noch möglich wäre.

(3) Die "linke" PFLP, die bei einigen deutschen Linken als unterstützenswert gilt, kämpft im übrigen ebenso gegen das Existenzrecht Israels.

(4) Die größeren' Kriege im Überblick:
1948 nach der Ausrufung des Staates Israel: Ägypten, Irak, Transjordanien, Syrien und der Libanon gegen Israel
1967 Sechs-Tage-Krieg: Ägypten, Jordanien und Syrien gegen Israel
1973 Yom-Kippur-Krieg: Syrien und Ägypten gegen Israel
1991 Golfkrieg: Beschuß Israels mit konventionellen Raketen und Bedrohung Israels mit Giffgas(!) durch den Irak

Text 2

Palästina. Israel. Deutsche Linke.

Mit den Artikeln „Die Synagoge im Dorf lassen. Deutsche Linke, Antisemitismus und Palästina-Israel-Konflikt" von Sven Glückspilz und „Zur Kritik der Palästina-Solidarität. Antisemitismus in der deutschen Linken" von der Antisemitismus-AG der Gruppe subcutan wurden in Interim 548 unterschiedliche Einschätzungen zu einem in den vergangenen Wochen und Monaten äußerst virulenten Diskurs innerhalb der radikalen Linken [bzw. mit solchen, die sich ehedem darunter subsumierten) gemacht. Dieser -von zum Teil heftigsten Ausfällen - geprägte Diskurs könnte Glauben machen, der Nahostkonflikt würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der BRD 'und hier vor allem von einer (selbst-) marginalisierten Linken) entschieden.

Jahwe, Gott oder Allah sei Dank - dem ist nicht so, und es sind obige Versuche zu begrüßen, die Debatte auf ein Niveau zu heben, daß emanzipatorischen Linken angemessen ist. In diesem Sinne versteht sich auch dieser Beitrag zur Debatte.

Die Diskussion vom Kopf auf die Füße stellen

Eines der Hauptprobleme in der Diskussion um den Themenkomplex „Nahostkonflikt - Israel/Palästina" und - daraus resultierend - „Palästina-Solidarität und Antisemitismus" scheint verschiedener Einschätzungen nach der Umstand, daß sehr viele Leute meinen reden zu müssen und dabei die wenigsten Ahnung haben. Damit soll nicht einem abgehobenen Expertentum das Wort geredet werden, noch „darf" nur argumentieren, wer mindestens sieben Semester an Volkshochschule / wahlweise Universität mit geisteswissenschaftlichem Schwerpunkt, zumindest aber ein fettes Bücherregal mit einschlägiger Literatur zum Thema vorzuweisen-' hat. Mitnichten. Es ist jedoch mehr als ärgerlich, wenn - derzeit leider Regel und nicht Ausnahme - trotz ganz offensichtlich mangelnder Kenntnisse über den Nahostkonflikt sowie Israel/Palästina und einem fahrlässig unscharfen bis inflationären Gebrauch bestimmter relevanter Begriffe, Einschätzungen vor- und Positionen eingenommen werden, die implizit oder explizit einen Allgemeingültigkeitsanspruch formulieren und umso lauter tönend daherkommen [zur plastischen Ausgestaltung sei an dieser Stelle auf Sven Glückspilz verwiesen].

Daß es dabei keine quasi „homogene" linksradikale Position zum Thema geben wird, ist alles andere als tragisch. Jeder ernstzunehmenden Einschätzung und Positionierung im Konfliktfeld, will sie sich nicht der Lächerlichkeit preisgeben - und sei sie auch noch so kontrovers -, muss jedoch ein „Studium" der Lage, sprich: eine Analyse relevanter gesellschaftlicher und historischer Faktoren, Entwicklungen und Einflüsse, vorausgehen [und zwar primär bezogen auf Nahost und weniger die BRD;. Eine solche Leistung darf von jedem denkenden Menschen, der sich zudem als progressiv, emanzipatorisch und linksradikal versteht, zu erwarten sein; nicht ein Nachplappern geistiger Kurz- und Schnellschüsse, die der Thematik, um die es sich doch wohl eigentlich drehen sollte, nicht im geringsten gerecht werden und nur einmal mehr als Indiz selbstzentrierten Unvermögens gewertet werden können.

Sprich- wer aktuell über Israel/Palästina sprechen will, kann nicht über die Geschichte der Kolonialisierung Palästinas, über Ursachen, Zusammenhange und Wirkungen schweigen, muß sich mit einer Analyse des „innen" von Israel und den Autonomiegebieten [politisch, ökonomisch, sozial], dem sog. „Friedensprozeß" nach Oslo, mit Besatzung, Widerstandsformer, und -Organisationen und ihrem gesellschaftlichen und historischen Kontext etc. pp. beschäftigen - und dann irgendwann auch mal mit dem Verhältnis der Linken in der BRD zu Israel/Palästina, nicht anders herum. Der umgekehrte Weg führt, wie die Gegenwart beweist, zu eurozentristischem Unverständnis, zu thematischer und - was noch viel schwerer wiegt - begrifflicher Beliebigkeit, in dem Befindlichkeiten einer „typisch deutschen Debatte" [0-Ton von Genossinnen aus Frankreich bzw. den USA] auf die Situation und den Konflikt in Nahost projiziert werden und schlußendlich [meist männliche] Verwirrte der verschiedenen „linken" Lager sich widerspruchslos mit allem und jedem solidarisieren oder gar wie wild (zur falschen Zeit am falschen Ort und überhaupt) mit Nationalfahnen rumwedeln [hier vorwiegend die einer bekannten Besatzungsmacht) und sich dabei vermutlich auch noch aufgeklärt und fortschrittlich vorkommen.

Rassist' Faschist! Antisemit'

Zur Zeit bleibt indes eine fundierte Analyse des Nahostkonflikts aus linksradikaler Sicht Mangelware. Ja, mehr noch: sie scheint gar nicht erwünscht zu sein. Wie sonst lässt sich der in bestimmter Kreisen erschreckend inflationäre Gebrauch des Adjektivs „antisemitisch" im Kontext der Lage in Nahost werten, wenn nicht als unverantwortlich sinnentleerte Waffe im Kampf gegen bestimmte, offenbar nicht genehme Analysen, Positionen oder Fakten zum Thema Israel/Palästina, die schon per Definition dem Vorwurf des Antisemitismus gänzlich unverdächtig sein sollten (vgl. auch Sven Glückspilz).

Als ähnlich perfide Versuche können Beiträge empfunden werden, die sich einer Positionierung zum Nahostkonflikt vordergründig enthalten wollen, unter Ausblendung oben geschriebener Analysefaktoren über einen Antisemitismus-Diskurs aber genau dies tun 'was zumindest zum Teil der AG Antisemitismus der Gruppe subcutan unterstellt werden darf].

Was aber meint Antisemitismus?

Begriffsgeschichtlich ist der ältere Antijudaismus die seit der Spätantike religiös, wirtschaftlich im 19. Jh. auch kulturkritisch motivierte Judenfeindschaft, während erst der rassische Antisemitismus die unaufhebbare Andersartigkeit und Minderwertigkeit der jüdischen „Rasse" behauptet. Dieser Antisemitismus, am wirkungsmächtigsten bekanntlich in Deutschland und Österreich, wurde zentrales Element der im letzten Drittel des 19. Jh. entstehenden völkisch-germanischen Weltanschauung, die einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen germanischer und semitischer Rasse behauptete und ebenfalls gegen das „verjudete" Christentum agitierte.

Bei o.g. Arbeitsgruppe liest sich dies dann folgendermaßen:

„Auch in der innerlinken Debatte ist es inzwischen üblich, den Kritikerinnen des Antisemitismus vorzuwerfen, sie würden ja im Nahost-Konflikt ständig Israelis und Juden gleichsetzen und jede Kritik an Israel als Antisemitismus 'verteufeln'. Das sehen wir anders. Antisemitismus ist - stark verkürzt - die Verbreitung von Vorurteilen gegen Jüdinnen und Juden. Unzweifelhaft ist, dass es sich bei Israel - sowohl nach seinem Selbstbild wie auch in der Fremdwahrnehmung - um einen jüdischen Staat handelt".

Aha. Eine Kritik an der herrschenden Politik Israels könne also „Vorurteile" gegen den jüdischen Bevölkerungsteil befördern, Kritik an Israels sei damit per se antisemitisch (guod erat demonstrandum} .

In der eigenen Logik derart selbstimmunisiert und mit schwerstem politischmoralischen Gerät aufgerüstet, sst sich jedwede unerwünschte Position munter niederwalzen.

Nur, was hat all das noch mit Israel/Palästina zu tun?

Wie kann es sein, dass erklärte Linke in der BRD mit einem falsch verstandenen Solidaritätsbegriff faktisch die Politik eines rassistischen und militaristischen Ministerpräsidenten nebst dezidiert rechtsradikaler Kräfte in seinem Kabinett unterstützten und es dabei konsequent schaffen, die israelische außerparlamentarische Linke nicht nur zu ignorieren, sondern deren Arbeit faktisch zu sabotieren.

Man kann von bestimmten Gruppen halten, was frau will - es ist indes schon merkwürdig, dass beispielsweise die Gruppe Libertad! für Forderungen und Ausführungen in Flugblättern, die quasi austauschbar mit denen israelischer Gruppen wie etwa Gush Shalom, Ta'ayush, Women Coalition oder Hadash sind, neben viel Zuspruch eben auch schärfste Ablehnung [bis hin zur Verweigerung von Veranstaltungsräumlichkeiten im AG-Laden - so viel Berliner Lokalkolorit sei erlaubt] in oben beschriebener Logik erfuhr.

Wie ist all das zu bewerten?

Der Diskussion um Israel/Palästina und Solidarität/Antisemitismus liegt kein semantisches Problem zugrunde. Der Ciskurs scheint vielmehr Ausdruck einer leider schon seit längerem anhaltenden Regression analytischer Fähigkeit und theoretischer wie historischer Kompetenz der radikalen Linken bezüglich ihrer näheren und fernen Umwelt. Der daraus erwachsene Teufelskreislauf aus Unverständnis - Veränderungsdrang - Konzeptionslosigkeit - [Auto]Aggression - Pauschalisierung - Unverständnis - ... führt dann beispielsweise zu einer Gesellschaftsanalyse, die - blind für real-existierende gesellschaftliche Widersprüche und potentielle Anknüpfpunkte - außer einer „Avantgarde" weder fortschrittliche politische Subjekte noch beeinflussbare gesellschaftliche Akteure, sondern nur noch Faschisten und Rassisten zu entdecken vermag. Oder aber meint, fundierte Kritik an der Politik Israels und ein daraus abgeleitetes Solidaritätsverständnis könne per se nur Antisemitismus sein.

N.N.

Editorische Anmerkungen:

Beide Artikel erschienen in der Interim 550. OCR-Scan by Red. trend.

Wir haben beiden Texten den offenen Brief an Indymedia Deutschland vorangestellt, weil er nicht einfach nur die Zensurbestrebungen bei Indymedia kritisiert sondern weil er auch die Grundsatzfrage für ein unabhängiges deutsches Indymedia Webprojekt benennt: Der Streit um die Interim ist der Prüfstein: Sind diese Grundsätze tatsächlich die Bytes wert, die sie belegen?

Einen Gesamtüberblick über alle israelrelevanten Texte der Nr. 550, gibt es bei
http://www.angelfire.com/clone/snowwhitemirror/flugis/Interim550_Israel.html



Update vom 20.6.2002
Probleme der Linken Teil II

Die "Interim" & Israel
Eine Text-Auswahl aus der Interim 551

1) Vorworte

S. 2

Liebe geduldige Leserinnen und Leser!

Da haben wir Euch aber einen Schrecken eingejagt: ist doch die letzte Nr. einfach nicht erschienen! Entgegen wilder Gerüchte hatte der Ausfall dieses Blättchens ausschließlich technische Gründe. Die umstrittene Nr. 550 hatte damit nichts zu tun. Diese war nicht das Ergebnis einer feindlichen Übernahme von außen, sondern die autonome Entscheidung einer am Projekt beteiligten Redaktion. Für Wirbel gesorgt hat die Ausgabe nicht nur in der Szene, sondern auch in unserer Redaktionsgruppe. Herausgekommen sind zwei Stellungnahmen, die Ihr im Anschluß findet.

Durch den Ausfall der letzten Nr. sind einige Ankündigungen und Aufrufe mangels Aktualität rausgefallen. Einiges mußten wir schieben, da wir die Post von vier Wochen unterbringen mußten. Also sorry falls ausgerechnet Eure Zusendung diesmal fehlt.

Außerdem: Zu den auf der Diskette eingeschickten Nazi-auf-Demos-Photos hätten wir gerne noch einen erklärenden Text. Bitte schickt uns doch noch was! Generell gilt für Disketten: immer mit Text einschicken! Sowieso gilt immer noch: Texte einschicken heißt auch Schokolade einschicken.

Für die sofortige Rückreise der deutschen Nationalmannschaft und sonstiger Truppen im Ausland!

Eure Interims

S. 3

Ein paar Worte zur Interim 550:

Als Mehrheitsfraktion der heutigen Redaktion haben wir das dringende Bedürfnis, eine Kritik an der .letzten Ausgabe loszuwerden. Im Grossen und Ganzen können wir uns dabei den Papieren "Es geht um mehr!" und "Badesaison" anschliessen. Deren Ausführungen sehen wir als wichtige und notwendige Beiträge zur Diskussion, ohne dass wir alle genannten Fakten kennen. Der teilweise verwendete Oberlehrerinnenstil bei "Es geht um mehr!" hat uns allerdings etwas gestört. Unstrittig ist für uns, dass auf Demos wie am 13.4. zu einem aktiven Verhalten gegen antisemitische Äusserungen gefunden werden muss und dieses nicht nur den jeweiligen Ordnerinnen überlassen werden darf.

Die Vorwortbemerkung der Nr. 550 zur Demoroute Unter den Linden und ihrer angeblich historischen Einordnung ist bodenloser Unsinn, der nicht weiter kommentiert zu werden braucht - ansonsten haben wir schon auf die zwei Beiträge verwiesen. Im Wiederholungsfall wird sich für uns die Frage stellen, ob wir weiter Teil eines Projektes sein wollen, das Ausgaben wie die Nr. 550 hervorbringt

Noch ein paar Worte zur Interim 550 :

Es kommt nicht alle Tage vor, dass eine Redaktionsgruppe der Interim zwei grundverschiedene Stellungnahmen zu einem so aufgeladenen Thema veröffentlicht. Wir dokumentieren hier zugleich unsere Unfähigkeit, eine gemeinsam tragfähige Position zu entwickeln als auch die Bereitschaft, trotz trennender inhaltlicher Differenzen zunächst weiter an einem Projekt zu arbeiten.

Wenngleich die folgende Stellungnahme also nur von einem kleinen Teil der diesmaligen Redaktion getragen wird, bekommt sie dennoch den nötigen Raum. Für uns war die letzte Ausgabe sowohl in ihrer Klarheit als auch in der zentralen Aussage - "Solidarität mit Israel" - überfällig und gerechtfertigt. Eine solche Bezugnahme ist aus unserer Sicht Ausdruck einer linken Positionierung gegen den sowohl weltweit, aber vor allem in Deutschland virulenten Antisemitismus und seine Renaissance im aktuellen antiisraelischen Diskurs. In diesem Sinne teilen wir die Stellungnahme der letzten Redaktion und begrüßen die Parteinahme gegen sämtliche Formen antiisraelischer Politik hierzulande.

Dabei bedeutet "Solidarität mit Israel" für uns keine Zustimmung zur Militärpolitik Scharons. Es im Kontext der aktuellen deutschen Debatte und vor dem Hintergrund der realen Angriffe auf Jüdinnen und Juden sowie jüdische Einrichtungen vor allem eine Diskursintervention zugunsten des unbedingten Existenzrechts Israels und gegen jede positive Bezugnahme auf antiisraelischen Terror (wie bspw. in der Demo-Parole "Intifada bis zum Sieg" zur Zeit geäußert).

Bauchschmerzen haben wir dort, wo ausgerechnet in der deutschen Linken die Solidarisierung mit Israel zu eigener Opfer-Wahrnehmung und zu einer Instrumentalisierung zum Zwecke innerlinker Provokation führt. In diesem Sinne scheidet für uns ein allzu plakativer Gebrauch der Israel-Fahne aus. Schlägt die Parteinahme für Israel in offene Zustimmung zu militärischen Einsätzen und in die Rede vom islamischen Faschismus um (wie etwa in den Texten der Bahamas) melden wir scharfen Widerspruch an.

In der bisher in der Interim geführten Debatte tauchten erfreulicherweise bislang weder platte pro-palästinensische Positionen noch antiislamische Statements in einer nennenswerten Zahl auf. Das läßt uns auf einen Prozeß hoffen, der die undifferenzierten Chiffren des neuen deutschen Antiimperialismus hinter sich läßt und in der Solidarität mit Israel die spezifische linke Position findet, die historisch und aktuell im Land der Auschwitz-Betreiber, -Leugner und -Verdränger notwendig ist.

Eine Minderheit der diesmaligen Redaktion

S. 4

Es geht um mehr!

Ja, wir haben uns die Augen gewischt als wir die letzte Nummer in den Händen hielten - es waren keine Freudentränen. Wir haben uns die Augen gerieben, weil wir glaubten einer Sinnestäuschung aufzusitzen. Leider war dem ja nicht so und eine Reaktion auf euch ist bitter notwendig. Viel lieber hätten wir die Proteste zum Bush-Schröder-Treffen ausgewertet, ein paar zukunftsweisende Diskussionen um Organisierungsmöglichkeiten geführt, oder irgendetwas anderes Vernünftiges getan. Nun müssen wir uns an Euren Positionen abarbeiten -weil wir finden, dass die so nicht unwidersprochen bleiben können.

Bisher hielten wir es für einen weitgehenden Konsens Nationalstaaten nicht zu unterstützen und deren Symbole allerhöchstens als Karikatur zu benutzen. Auch in der aktiven Auseinandersetzung mit Antisemitismus gibt es sicherlich sinnvollere Dinge, als sich fahnenschwingend oder -druckend zu positionieren. Die Titelseite war platter Symbolismus. Eine redaktionelle Verantwortung sieht in unseren Augen anders aus

Euer Heft stellt eine faktische Diskussionsverweigerung innerhalb des Projektes dar. Trotz der begonnen Diskussion um. eine Schwerpunktnummer, die möglichst "beide Seiten des Konfliktes" berücksichtigen sollte habt ihr einen einseitigen Alleingang gemacht. Ihr stellt Euch damt in die fatale Logik von Blöcken, Feindbildern und Spaltereien - wie sie in der Szene leider üblich geworden sind. Unseren gemeinsamen Versuch genau diese unkonstruktive Konfrontation zu überwinden habt ihr damit torpediert.

Zugleich reihen sich Eure Texte in die schrillen Denunziationstöne ein, die eigentlich Markenzeichen von dogmatischen Gruppen sind. Statt einigermaßen differenziert und sachlich über die Palästinasolidemonstration zu schreiben und diese zu kritisieren nennt ihr es pauschal eine "Pro-Antisemitismus-Demonstration". Mit solchen Totschlagsargumentationen und dem inflationäre Gebrauch von Amisemitismusvorwürfen verbinden ihr die notwendige Auseinandersetzung mit dem Thema.

Zudem schockt uns eure Akzeptanz von gewalttätigen Auseinandersetzungen innerhalb der Linken. Wie anders ist sonst zu verstehen, wenn ihr schreibt: "... die erwähnten Pro-Antisemitismus-Demos (haben) eine solche inhaltliche Nähe zu Naziaufmärschen, dass eine antiantisemitische Linke über einen entsprechenden Umgang nachdenken sollte." Sollen wir jetzt die Soligruppen verprügeln, Libertad!büros in die Luft jagen und das Gegeninformationsbüro besetzen?

Abgesehen von diesen praktischen Widersprüchen zu eurem Vorgehen wollen wir und mit eurem inhaltlichen Beitrag auseinandersetzen. Um es vorwegzunehmen: auch dieser findet unsere Zustimmung nicht. Ihr hattet in eurem Vorwort angekündigt Antisemitismus als deutsches/europäisches Phänomen zu betrachten und den Nahostkonflikt aussen vor zu lassen. Ihr hättet dabei bleiben sollen! Eure Argumentation baut ganz wesentlich auf Behauptungen über Palästina/Israel auf- und zwar mit schlechten und falschen. Eure Argumente im Einzelnen:

1) Antisemitismus in der palästinensischen Gesellschaft strebt die Vernichtung Israels an und verhindert damit einen Friedensprozess, deshalb 'als keine positive Bezugnahme auf eine palästinensische Bewegung möglich.

So eindimensional ist die Welt nun leider nicht. Keine Erklärung (Antisemitismus vs. Unabhängigkeitskampf) kann den Konflikt dort eindeutig erklären - so dass für uns 'nur' noch die Entscheidung für die "richtige" Seite möglich ist. Eure richtige Annahme - Israel und die zionistische Bewegung sind Ergebnisse eines europäischen Antismitismus - läßt sich auch auf die anti-israelischen Stimmungen in den besetzten Gebieten und den arabischen Staaten übertragen. Antijüdische Stereotypen, Weltverschwörungsbehauptungen und bildliche Darstellungen erinnern in der Tat an die europäischen "Vorbilder".

Anders als der Antisemitismus in Europa hat jedoch die Feindbildlogik in weiten Teilen der arabischen Bevölkerungen eine tatsächliche Grundlage: den anhaltenden Krieg mit Israel. In der Rassismusforschung gibt es die Unterscheidung von strukturellem und Kriegsrassismus. Damit sollen antisemitische Argumentationsweisen bei Palästinenserinnen nicht entschuldigt werden - aber vielleicht hilft die Unterscheidung den Charakter dieser Stimmungen besser zu verstehen. Als strukturellen Rassismus würden wir eine rassisch/ethnisch/oder auch religiös begründete Diskriminierung bezeichnen, die spezifische Dominanzstrukturen herstellen oder aufrecht erhalten sollen. Kolonialer Rassismus, Rassismus gegen blackpeoples in de USA oder Rassismus gegen Flüchtlinge in Westeuropa folgt genau diesem Muster. Auch der europäische Antisemitismus läßt sich als eine Form der strukturellen Dominanz verstehen.

Im Gegensatz zu diesem strukturellen Rassismus gibt es eine Form von kurzfristigen Feindbildmobilisierungen in Kriegsgesellschaften. So wurden zu Kriegszeiten in Deutschland massiv rassistisch argumentierende Feindbilder gegen Franzosen/Französinnen oder Briten/Britinnen mobilisiert, die nach den jeweiligen Kriegen nur noch einen latenten Charakter hatten. Die Feindbildlogik ist wesentlicher Bestandteil einer jeden Kriegsmobilisierung und benutzt die zur Verfügung stehenden Stereotypen. Insofern ist der Antisemitismus arabischer Gesellschaften ein aus Europa geborgtes Feindbild, das sich bisher noch nicht mit strukturellen Dimensionen der Dominanz verbunden hat. Die arabischen Gesellschaften haben keine antisemitische Tradition. Vielmehr wurden Juden und Jüdinnen als Trägerinnen einer Buchrelegion immer akzeptiert. Die einzige Zeit, in der jüdische Gemeinschaften in Europa verfolgungsfrei leben konnten war die Zeit der arabischen Besatzung der Iberischen Halbinsel vor etwa 1000 Jahren. Damit soll weder die Vernichtungskraft von Feindbildern verharmlost, noch anti-jüdische Ressentiments geleugnet werden. Doch eine einfache Übertragung in die Logik des europäischen Antisemitismus ist überheblicher, ahnungsloser und im konkreten Fall gefährlich reaktionärer Eurozentrismus.

Denn eine Unterscheidung an dieser Stelle ist zentral für die Positionierung im Konflikt selbst: Struktureller Rassismus kann eben nur strukturell als Aufhebung des Dominanzverhältnisses beendet werden - Kriegsrassismus verschwindet jenseits von Feindbildmobilisierungen. Für den konkreten Fall heisst diese Unterscheidung, sich an einem totalen Krieg gegen die arabische Umgebung zu orientieren oder aber an der Hoffnung auf eine Friedensregelung festzuhalten. Ihr seit in eurer Analyse konsequent und folgerichtig und setzt auf die Verteidigung der militärischen Option - den richtigen Ausgangspunkt jedoch hat sie nicht! Abgespult wie ein mathematischer Beweis klingt immer so viel so logisch, leider sind die Anfangsgleichungen oft unüberlegt, voreilig und falsch.

2) Das Rückkehrrecht für Flüchtlinge ist ein "arabischen Euphemismus für die Liquidation Israels".

Das stimmt - aber wo gibt es diese Forderung? Die palästinensische Verhandlungsposition war immer die nach einer "Anerkennung des Flüchtlingsproblems". Wie dann eine Regelung aussehen kann ist eine offene Verhandlungssache. Teilrückgabe, Gebietsaustausch, Entschädigungszahlungen... alles noch offen und ungeklärt. Genau in diesen Punkten könnte eine BRD-Linke z.B. fordern, dass die BRD aus ihrer historischen Verantwortung heraus die Entschädigungszahlungen übernimmt. Abgesehen davon gibt es Umfragen unter den Flüchtlingen, die besagen, dass nicht einmal 10% von ihnen in ihre alten Dörfer zurückkehren wollen. Nicht zuletzt, weil die israelische Kriegsstrategie der letzten 50 Jahre eine weitgehende Zerstörung des ehemalig arabisch genutzten Bodens mit einschloss. Landnahmen waren immer mit der weitgehenden Zerstörung bestehender Strukturen und der möglichst umfangreichen Neuordnung verbunden. Nicht ein mal die Topografie sollte an die ehemalige Nutzung erinnern. Orientierten sich klassische Kriegsstrategien an den geografischen Gegebenheiten, so zielen die neuen Kolonialstrategien auf die Neuordnung der Umwelt. Israels Militärstrategie folgt weitgehend diesem Muster. Die sogenannte "Flüchtlingsfrage" ist das Menetekel der verhandlungsfeindlichen Positionen in israelischen Gesellschaft.

3) Eine existentielle Bedrohung Israels besieht trotz relativer militärischer Stärke.

Eure militärischen Spekulationen in ehren - aber eine tatsächlich militärtechnische Gefahr besteht für Israel nicht. Im Gegenteil: Das Verteidigungsministerium und auch US-Militärstrategen loben beispielsweise Israel als das einzigste Land der Welt das eine 100% Raketenabwehr vorweisen kann. Seit dem letzten Golfkrieg (damals trafen drei irakische Raketen israelisches Territorium) gab es eine massive Aufrüstung in diesem Abwehrbereich. Auch sonst übliche Waffengattungsvergleiche (die wir uns aber an dieser Stelle ersparen) sprechen für eine stabile militärische Überlegenheit. Die existentielle Gefahr Israels ist keine "militärische" als vielmehr eine "politischstrategische". Im Selbstbild des Staates und auch der Verteidigungsarmee befindet sich Israel in einem "asymetrischen Krieg". Das heisst, ungleich aufgerüstet stehen sich eine hochgerüstete Armee und ein weitgehend unterbewaffneter aber zu hohem Eigenrisiko bereiter Gegner gegenüber. Israel kann dabei nur verlieren: ist die Armee im traditionellen Sinne erfolgreich gibt es ein extrem negatives öffentliches Bild (siehe Dscherin) - auf der anderen Seite sind die Angreifbarkeit und eigene Verluste (zumal unter der Zivilbevölkerung) innenpolitisch nicht länger zu vermitteln. Das Versprechen der Verteidigungsstrategie, des riesigen Militärhaushaltes, der rigiden Einberufungspraxis und der weitgehenden Militarisierung der israelischen Gesellschaft war immer die Nichtangreifbarkeit und die totale Überlegenheit. Bei den Militärstrategen der israelischen Armee (IDF) heisst diese Orientierung (zero-death-strategie) - bezogen auf israelische Soldatinnen und Zivilistinnen, versteht sich- Dieses Versprechen konnte in den letzten zwei Jahren immer weniger eingelöst werden und stellt inzwischen auch in Israel selbst das Setzen auf militärische Lösungen zunehmend in Frage. Letztendlich ist der Krieg als Tod und Zerstörung das erste mal seil etwa 50 Jahren nach Israel gekommen. Die Einsicht in die mangelnde militärische Perspektive einer Sicherheit für die Existenz Israels ist die zentrale Hoffnung der Friedensbewegung Ihre Argumentation: Es geht um Israel - deshalb sofortiger Rückzug aus den Gebieten und Auflösung der Siedlungen.

Eure Argumentation ist eine andere. Das mag an mangelndem Wissen oder an der Unfähigkeit liegen militärstrategische Argumente eines Verteidigungsministerium in einen politischen Kontext zu setzen... Beides eigentlich kein Grund für eine Argumentation zu einem sehr umstrittenen Thema an so zentraler Steile wie der letzten Interim. Euer Bekenntniszwang und euer Halbwissen haben vielleicht den Anschein eine politisch korrekten Position - faktisch sind sie aber ein weiterer Schritt in Richtung Spaltung und Handlungsunfähigkeit von Linksradikalen in der BRD.

4) Schulbücher, freiwillige Emigrationen, anti-israelische Presse in der BRD...

Daneben gibt eine ganze Reihe von kleinen Ungenauigkeiten, die mehr oder weniger direkt aus den israelischen Staatsgndungsmythen oder dem Propagandaministerium kommen. Deshalb nur kurz darauf:

- Die vorgeblich antiisraelischen Schulbücher (dort sind in den Heften der 5. bis 7. Klasse Karten abgebildet, die das gesamt ehemalige Mandatsgebiet historisch korrekt als Palästina beschreiben) sind syrische und jordanische Ausgaben, die nach 1992 den autonomen Schulbehörden zur Verfügung gestellt wurden, weil diese nicht länger mit israelischem Lehrmaterial arbeiten wollte. Erst nach und nach gelingt es, z.T. mit europäischen Finanzierungen neue Schul- und Bildungsmaterialien zu drucken. Das Gerücht des Schulbuchantisemitismus der Autonomiebehörde hält sich seit etwa zwei Jahren in der öffentlichen Diskussion - einen Beleg gab es bisher nicht. Ihr solltet wirklich nur .Argumente verwenden, die ihr tatsächlich vertreten könnt, sonst wird eine Diskussion schnell zum Glaubenswettstreit - unsere Vorstellung von politischem Streit und auch von der Interim ist eine andere!

- Zur Flüchtlingsfrage betont ihr extra es seien "750.000 z.T. freiwillig bzw. auf Druck der eigenen Führer Emigrierten". Das ist das offizielle Geschichtsbild der israelischen Armee. Ob die in dem Fall als besonders objektiv gelten kann ist zu bezweifeln. In den 70er Jahren haben die sogenannten "Jungen Historiker" in Israel sich mit diesem Teil der Geschichte anhand von damals erstmals zugänglichen Akten beschäftigt und sind zu dem Schluss einer weitgehend geplanten und mit militärischen Mitteln durchgesetzten Vertreibung 1948/49 gekommen. Diese Maßnahmen wurden teilweise vor der offiziellen Staatsgründung und vor dem Angriff der arabischen Armeen am 15.05.1948 durchgerührt. So wurden beispielsweise aus den großen Städte Haifa und Jaffa bereits vor dem sogenannten "arabischen Krieg" fast 100.000 arabische Palästinenserinnen mit Terror und militärischen Angriffen von jüdischer Armee und zionistischen Milizen gezwungen, ihre Städte zu verlassen.

- Ihr schriebt: "In Deutschland ist eine anti-israelische Stimmung hegemonial. Mit den dominierenden Bildern, die Israelis als "Kindermörder" und Palästinenserinnen als "David im Kampf gegen Goliath" darstellen, wird der Konflikt auf eine brutale israelische Aggression reduziert. Während israelisches Handeln als Machtpolitik "enttarnt" wird, billigt mensch den palästinensischen (Selbst-)Mordkommandos mildernde Umstände zu." Wir wissen nicht welche Zeitungen ihr lest und welche Radiosender ihr hört - aber unsere Wahrnehmung ist eine andere. Die deutsche Regierung ist zur Zeit der einzig fest zu Israel haltende europäische Verbündete der Sharonregierung. Die medialen Darstellungen der Intifada ist das wenig reflektierte geschockt Sein über die Terrorakte und die alltäglichen militärischen Überfälle der IDF auf das Gebiet der Palästinensischen Autonomie sind jenseits von Grossoffensiven höchstens Kurzmeldungen wert. Israelische Diplomaten und Politiker haben eine Dauerpräsenz in den Kommentarspalten und Talkshows - palästinensische Positionen können selten direkt vorgetragen werden. Zentrales Feld der Berichterstattung sind oberflächliche Menschelein, strukturelle Ausgangslagen des Konfliktes (anhaltende Besatzung und Siedlungen) werden fast durchgehend ausgespart. Eine anti-israelische Stimmung also, die Israel nicht wirklich weh tut.

Soweit zu euren Argumenten. Die waren nicht so richtig gut. Da bleibt also die Frage, warum tut ihr das? Warum positioniert ihr euch zu Dingen (Nahost), von denen ihr offensichtlich wenig versteht? Warum polemisiert ihr gegen Gruppen und Leute, die sich mit den Strukturen des Konfliktes auseinander setzen wollen bevor sie Stellung beziehen'7 Warum lobt ihr ausdrücklich Gruppen - die nicht mehr aktiv Handeln . (Lautigruppe und die Friedrichhainer(Nicht)Festvorbereitung)? Ist das jetzt das neue Politikverständnis - gut ist wer/welche sich zurückzieht? Im Gegensatz dazu keine Zeile zu den Aktionen gegen das Bush-Schröder-Treffen in Berlin! Habt ihr da noch mit den Freudentränen über euren gelungen Fahnencoup auf der Titelseite zu kämpfen gehabt und gar nichts mitbekommen? Und warum überhaupt diese plumpe Provokation auf dem Titelblatt'? Wir verstehen es wirklich nicht.

Unser Verständnis von linksradikaler Politik ist auch weiterhin das gemeinsame Suchen von Konfliktlinien in der Gesellschaft und der Versuch das auch praktisch umzusetzen. Die zunehmende Kultivierung von Zweifeln, Zögern und Abgrenzen steht dem entgegen - und ihr habt dazu beigetragen. Das ist objektiv counterpolitisch - auch wenn ihr dass so sicher nicht gemeint habt. Dieser absolute Mangel sich auf andere einzulassen und die eigene Festung der Selbstgewissheit zu verlassen sind deutliche Anzeichen eines Dogmatismus, sind das Ende von Bewegung. Wenn die Interim auch weiterhin eine gemeinsames Projekt bleiben soll - und alles andere macht aus unserer Sicht keinen Sinn - dann nur auf der Basis eines linksradikalen Selbstverständnis und mit einem Mindestmaß gegenseitige Vertrauens.

Für eine gemeinsame Diskussion und mehr politische Genauigkeit!

Einige aus verschiedenen Gruppen, die an der Interim beteiligt sind.

 

S.6

An die Redaktion der Nr. 550:

Badesaison!

Wir nehmen die Interim Nr. 550, treten an den Beckenrand und tauchen hinein - tauchen ab in eine Welt von "gut" und "böse". Hier die "bösen" Palästinenserinnen dort die "guten" Israelis. Hier die "Pro-Antisemitsmus-Demos" dort die "Anti-Antisemitismus-Demos". Ihr versteigt euch in eurem Text "Das Problem ist Antisemitismus" zu einem Wortspiel, das Teile der einen Seite mit "Tieren gleichsetzt - Vergleiche die ansonsten immer benutzt werden, um Menschen besonders zu demütigen.

Die, die sich auf so ein Niveau nicht einlassen möchten, gehören für Euch zu denen, die sich "um eine Positionierung herumdrücken" bzw. "pseudo-plurolistisch ..." argumentierten. Ihr bezeichnet die Pro-Palästina-Demo als eine "Pro-Antisemitismus-Demo" und die Solidarität-mit-Israel-Demo vom 13.4.02 als eine "Anti-Antisemitismus-Demo". Wie aber kommt ihr dazu? Ihr könntet doch wissen, dass auf beiden Seiten Anhängerinnen mitlaufen, die der jeweils anderen Seite das Existenzrecht absprechen. Die einerseits von Gross-Israel andererseits von Gross-Palästina träumen und bereit sind alles für die Umsetzung ihrer Idee zu tun. Zum Glück aber, gibt es immer auch die anderen, die Wissen, dass sie im Frieden mit den "Anderen" leben wollen. Die wissen, dass sowohl die Selbstmordanschläge als auch die militärischen Angriffe und Besetzungen aufhören müssen und dass es mit dem ausgestreckten Zeigefinger, der sagt - die da müssen aber zuerst aufhören - nicht funktioniert. Und für die schlägt unser Herz. Wir sind froh, wenn in Zeitungen oder im Radio ... Israelis oder Palästinenserinnen zu Wort kommen, die sich kritisch zu den jeweils "eigenen" Kriegspolitikern äussern. Diese Zwischentöne waren aber soweit wir wissen, auf beiden Demos in der Minderheit, was zumindest die Transparente und skandierten Slogans betrifft. Für uns Grund genug weder auf der einen noch auf der anderen Demo mitlaufen zu können. Aber auch euer Titel, eure Sprühschablone, Teile eures Vorwortes und Teile eures Textes sind nicht in unserem Sinn. Besonders der Titel und die Sprühschablone erwecken den Eindruck, dass ihr die Kriegspolitik der israelischen Regierung stützt. Wenn ihr aber als euer dringlichstes Anliegen - und an dem Punkt können wir uns treffen - gegen den Antisemitismus hier vorgehen wollt, dann drückt das auch durch das, was ihr layoutet oder ins Heft nehmt, aus.

Eine andere Red

S.7

Die Erde ist eine Scheibe... Oder wie einfach es ist, von nur einer Seite die Welt zu sehen.

Eine Kritik zum Artikel aus der Interim 550
"
Das Problem ist Antisemitismus

Um die letzten Worte des o.g. Artikels wörtlich zu nehmen: es muß politisch diskutiert werden. Ein guter Weg, wenn mit der Diskussion eine Analyse einhergeht. Antisemitismus ist tatsächlich in den meisten Gesellschaften gegenwärtig und bedarf der Aufdeckung und Bekämpfung. Es ist richtig , dass dies nach 1945 in Deutschland lange vollständig verdrängt worden ist.

Ein Trugschluss ist es aber, den Antisemitismus als alleiniges Unterdrückungsverhältnis wahrzunehmen, denn diese Einseitigkeit negiert andere Herrschaftsverhältnisse. Setzt man nämlich Antisemitismus als wichtigstes bzw. einziges Unterdrückungsverhältnis an, so ist ein Mensch mit eindeutiger und aufrichtiger nichtantisemitischer Gesinnung per se ein guter Mensch. Es berücksichtigt aber nicht, dass eben dieser vielleicht ein Fabrikbesitzer ist, der irgendwo in der Welt Arbeiterinnen für Hungerlöhne ausbeutet. Ebenso kann jener gute Mensch ein Vergewaltiger sein. Er kann Menschen anderer Hautfarbe diskriminieren, trotz eindeutig nicht-antisemitischer Gesinnung.

Dieser Zynismus ist bitterer Ernst! Das Erkennen einer Gefahr des Antisemitismus darf nicht die Existenz von kapitalistischen, sexistischen und rassistischen Unterdrückungsverhältnissen ausklammern. Ein einseitiger Blickwinkel macht eine kritische Analyse jeglicher Staats- und Gesellschaftsform unmöglich.

Fügt man im oben genannten Beispiel vom guten Menschen nicht-antisemitischer Gesinnung die Bezeichnung jüdischer Mensch ein, so wird deutlich, wie Antisemitismuskritik in deren Verkehrung verkommen kann. Ein positiver Antisemitismus ist nämlich auch einer. Nach Überzeugung der Interim-Redaktion von Nr. 550 müssen jüdische Menschen die eindeutigste nicht-antisemitische Gesinnung haben. So unterliegen die Redaktionsmitglieder der Gefahr, vor lauter Eifer in die falsche Richtung zu denken. Jüdisch zu sein ist eben nicht „rassisch" begründbar, sondern eine Frage der Sozialisation, des Glaubens, der Traditionen und kulturellen Strukturen. Über diese Erkenntnis sollte es spätestens seit der Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Deutschen Reich Einigkeit bestehen.

Mit anderen Worten: Es gibt deutsche JüdInnen, britische JüdInnen, amerikanische JüdInnen, JüdInnen in arabischen Ländern, israelische JüdInnen usw. Das Attribut Israels, ein jüdischer Staat zu sein, ist unter anderem damit begründet, dass er bereit ist, jeden Menschen jüdischer Herkunft als Bürgerin aufzunehmen. Dennoch leben auch christliche und moslemische und atheistische Menschen in Israel, wenn auch als Minderheiten.

Die Behauptung, der Staat Israel sei die einzige Zufluchtstätte für jüdische Menschen, ist in der gegenwärtigen Situation rein theoretisch. Antisemitische Tendenzen finden sich zwar in den meisten Staaten und Gesellschaften, aber eben nicht überall in denselben. Längst nicht alle jüdische Menschen sind in der Zwangslage, nach Israel auswandern zu müssen. Sei es aus wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder politischen Gründen.

Kritik am Staat Israel ist notwendig und richtig, sowohl historisch, als auch gegenwärtig. Das kapitalistische System Israels ist nicht positiv zu bewerten. Es herrscht ein Gefälle zwischen Arm und Reich, Wehrdienstverweigerung bedeutet rechtliche und soziale Ächtung, die Zustände in den Gefängnissen sind katastrophal u.v.m. Historisch betrachtet hatte die Staatsgründung Israels zum Zeitpunkt 1948 eine ihrer Ursachen im Holocaust. Trotzdem ist der Umgang des neuen Staates mit der palästinensischen Bevölkerung zu kritisieren. Diese und weitere Kritik stellt allerdings das Existenzrecht Israels heute überhaupt nicht in Frage. Es gibt den Staat Israel und eine israelische BevölkerungI

Die Existenzberechtigung wird aber von der Interim-Redaktion aus Nr. 550 dem palästinensischen Volk abgesprochen. Palästinensische Menschen leben unter widrigsten Bedingungen in Lagern oder in der Diaspora. Die Einrichtung autonomer Gebiete war ein Zugeständnis, dessen Ergebnis in der aktuellen Kriegssituation aber keine realen Verbesserungen für die Palästinenserinnen bedeuten. Ein Gewaltverhältnis Seiten des israelischen Staates gegen das palästinensische Volk ist eindeutig zu erkennen.

Das Ende der materiellen Unterstützung durch die SU die Krise des sozialistischen Projekts hat den Einfluss linker, emanzipatorischer Kräfte innerhalb der PLO schwinden und den der fundamentalistischen Kräfte erstarken lassen. Hamas und Jihad sind fundamentalistische Organisationen und arbeiten gegen emanzipatorische Bewegungen. Unterstützung und Aufbau emanzipatorischer Strukturen sind Aufgaben solidarischer Bewegungen. Solidarität bedeutet parteiische, jedoch nicht kritiklose Anteilnahme gegen Unterdrückungsmechanismen. Minimierung von Gewaltverhältnissen und Maximierung von emanzipatorischen Verhältnissen sind die Ziele. Dies betrifft sowohl die palästinensische als auch die israelische Gesellschaft. In beiden Gesellscharten gilt es, emanzipatorische Bewegungen und linke antikapitalistische Strukturen gegen reaktionäre oder fundamentalistische Kräfte zu unterstützen. In Israel finden sich emanzipatorische Bewegungen in der Resten der KP, der Friedensbewegung und intellektuellen Künstlern, in der palästinensischen Gesellschaft im von der PFLP und kleineren linken Gruppen aufgebauten sozialen Netz und Kollektiven.

Unabhängig von der aktuellen Nahostproblematik ist die „Maulkorbpflicht", die die Interim-Redaktion von Nr. 550 der gesamten Linken auferlegt, völlig inakzeptabel, sogar reaktionär! Grundsätzlich bedarf linke Politik Veränderungsbereitschaft und -willen. So ist es notwendig, sich auch schwierigen oder unbequemen Themen zuzuwenden, Probleme zu hinterfragen, sich Kritik zu stellen oder diese zu äußern. In diesem Sinne trägt eine Redaktion der Interim als linkes Infoblatt, so kritisch die Zeitung auch gesehen werden mag, eine Verantwortung gegenüber denjenigen, die sie als Medium zur Diskussion nutzen. Das Aufstellen eines Tabus ist im höchsten Maße unverantwortlich und begünstigt ein totalitäres Politikverständnis.

Freunde und Freundinnen des Galileo Galilei

 

S.8

 

Lasst euren ideologisch linkischen Diskurs nicht an dem Thema Palästina aus!


Das Problem ist euer Bedürfnis, euch mit der Diskussion um Israel zu entlasten - zu entlasten von der politischen Verantwortung gegenüber den palästinensischen Menschen, die unter israelischer Besatzung leben, zu entlasten, indem ihr jeden Widerstand und jede Kritik gegen Israel als Antisemitismus denunziert. Ihr weigert euch, euch mit den Tatsachen auseinander zusetzen. Ihr macht die Täter zu Opfern und die Opfer zu Tätern.

„Als ihr verfolgt wurdet, war ich einer von euch. Wie kann ich das bleiben, wenn ihr Verfolger Seid?" so äußerte sich Erich Fried dazu.

Wir - das sind einige Berliner Palästinenserinnen - möchten einige Artikel zum Thema Solidarität mit Israel in der letzten Interim-Ausgabe vom 9.Mai 02 kurz kommentieren.

Was einige dieser Artikel besonders „auszeichnet", ist ihr unverhohlener Rassismus und ihre menschenverachtende Sicht- und Ausdrucksweise gegenüber den Palästinenserinnen sowohl hier in Deutschland als auch gegenüber jenen in den besetzten Gebieten:

„Vielleicht projizieren auch einige ihre Wünsche, Sehnsüchte und revolutionsromantischen Vorstellungen auf die Palästinenserinnen, die sie zu armen Opfern und das revolutionäre Subjekt stilisieren und verkennen dabei, dass diese „armen Schweine" nicht nur (relativ) arm, sondern (viel zu oft) auch Schweine sind."

Wem es an historisch-politischem Durchblick und Kenntnis mangelt, dem bleibt nur eine verachtende Wortwahl, um seinen mangelnden Argumenten Ausdruck zu verleihen. '
Und damit zu den historischen Fakten:

„Da Jüdinnen immer noch und immer wieder von antisemitischer Diskriminierung und Verfolgung bedroht sind- darf Israel das Existenzrecht nicht abgesprochen werden."
.»Antisemitismus ist in der palästinensischen Gesellschaft und in allen arabischen Ländern, von denen Israel umgeben ist, stark verbreitet."

Da zeigt sich eure vollkommene Unkenntnis der historischen Entwicklung.

Antisemitismus war über Jahrhunderte ein spezifisch europäisches Phänomen. Im Gegensatz dazu zeichnete sich die arabisch-islamische Welt durch eine große Toleranz gegenüber den jüdischen Gemeinschaften aus.

So lebten im maurischen Spanien jahrhundertelang Juden, Christen und Muslime friedlich zusammen. Erst die Reconquista vertrieb die Jüdinnen, die dann in den arabischen Ländern ihre Zuflucht fanden.

Wenn es aber mittlerweile judenfeindliche .Bemerkungen von Araberinnen gibt, dann ist das nicht dasselbe wie der europäische Antisemitismus, sondern eine Folge der Besatzung Palästinas, der Vertreibung der Palästinenserinnen und des jahrzehntelangen Leidens. Es wird von uns erwartet, dass wir die Besatzung ohne Widerstand hinnehmen, um zu beweisen, dass wir nicht antisemitisch sind. Das werden wir nicht machen.

Wie jedes kolonisierte Volk haben wir ein Recht auf Widerstand. Es kann nicht sein, dass wir als
Palästinenserinnen eure Geschichte und euer schlechtes Gewissen ausbaden müssen. Wir Palästinenserinnen verurteilen jede Form von Rassismus und den Antisemitismus, sowie auch den Zionismus, dessen Grundlagen rassistisch sind.

Dass in Europa Jüdinnen vernichtet wurden, gibt keinem das Recht, ein anderes Volk zu vertreiben. Wie wäre es, ein Stück von Deutschland an die Opfer des Faschismus zu vergeben? i
Außerdem ist die Forderung nach der Anerkennung des Existenzrechtes Israels bereits überholt. Ist es doch gerade das Existenzrecht Israels, das von der PLO und somit dem PNC (Palästinensischer Nationalrat) im Rahmen der Oslo-Verträge anerkannt worden ist. Im Gegensatz zu der israelischen Likud-Politik, die sich nun ausdrücklich gegen die Existenz eines palästinensischen Staates ausgesprochen hat. Zum Glück ist die israelische Friedensbewegung da aufgeklärter. Sie fordert eindeutig einen Palästinensischen Staat in der Westbank und dem Gazastreifen. Auch hat der saudische Friedensvorschlag die Anerkennung Israels von
Seiten der arabischen Staaten zugesichert, wenn die Verhandlungen aufgenommen und den Palästinenserinnen endlich ein Staat zuerkannt würde.

Dann wird in einem Artikel behauptet, dass die „Terrororganisationen... im Einklang mit breiten Teilen der palästinensischen Gesellschaft die Beseitigung des Staates Israel" anstrebten. Die einzige Plattform, die hier ; wirkt und zählt, ist die der PLO. Der Palästinensische Kampf richtet sich gegen eine Besatzungsmacht und fordert das Selbstbestimmungsrecht für Palästina"!
„Die einzige Demokratie im Nahen Osten"

Wie „demokratisch" der Staat Israel ist, kann man bereits täglich in den Medien verfolgen. Dieses
Apartheidsystem hat bisher den etwa eine Millionen Palästinenserinnen in Israel nicht die gleichen Rechte zuerkannt, da nur jüdische Staatsangehörige die vollen Bürgerrechte genießen. So ist es z.B. verboten, dass jüdische Bürgerinnen Land an Araberinnen verkaufen. Sprecht einfach mal mit palästinensischen Gewerkschaftsvertreterinnen aus Israel. Die können euch einiges über diskriminierende Lohnstruktur und Arbeitsbedingungen unter den Palästinenserinnen erzählen.

Und dann noch ein wichtiger Punkt:

Die Zionistische Bewegung hatte bereits vor der Gründung des Staates Israel eine eindeutige Prämisse, dass nur jüdische Menschen das Recht auf Einwanderung besitzen.
Mittlerweile gibt es israelkritische Jüdinnen, die - wie in Berlin Mitte April 02 - öffentlich auf dieses „Recht" ' verzichten und stattdessen betonen, dass die 1948 vertriebenen Palästinenserinnen ein Recht auf Rückkehr haben, das übrigens auch von zahlreichen UN-Resolutionen bekräftigt wird.

Vertreibung und Recht auf Rückkehr

Beschönigend ist in einem der Artikel von „750.000 z.T. freiwillig bzw. auf Druck der eigenen Führer Emigrierten" die Rede. Dabei ist diese These mittlerweile selbst unter israelischen Historikern überholt. Sie geben zu, dass durch gezielte Massaker und Terrorkampagnen der größte Teil der palästinensischen Bevölkerung vertrieben wurden. In den Dorf Deir Yassin wurden im April 1948 254 Frauen, Kinder und Männer, fast die gesamte Bevölkerung, niedergemetzelt. Ben Gurion, der erste Staatspräsident sagte später dazu, dass es ohne das Massaker von Deir Yassin, den Staat Israel nicht gäbe. Insgesamt wurden 437 Dörfer zerstört. Die Aufarbeitung dieser Vergangenheit dauert in Israel an. Teddy Katz, Student an der Universität Haifa, schrieb seine Abschlussarbeit über das von den zionistischen Untergrundorganisationen in dem palästinensischen Dorf Tantura im Mai 1948 durchgerührten Massaker. Er wurde von der Universität exmatrikuliert.

Das zeigt, dass es mittlerweile auch nicht-regierungspolitisch-konformen Israelis an den Kragen geht.

Nicht zu vergessen die Militärdienstverweigerer wie z.B. Yigal Rosenberg, Yair Hilu und viele andere mehr.

Dass Israel als einzige Staat in der Region Nuklearwaffen besitzt, die er auch einsetzen wird, falls für ihn  „erforderlich", muss hier nicht weiter erläutert werden. Aber die Tatsache, dass gerade die USA all das finanziert, scheint euch keine Bemerkung wert. Auch keine zwingenden Zusammenhängen herzustellen zwischen den Interessen dieser beiden befreundeten und verbündeten Staaten und noch einigen anderen weltpolitischen Ereignissen wie dem anstehenden Angriff auf den Irak, zeigt nur allzu deutlich, dass es in eurem politischen Diskurs offensichtlich nur dann um legitime Zusammenhänge geht, wenn sie in euer politisches Bild passen.

Zum Schluss möchten wir noch das Massaker von Jenin ansprechen, das von euch in ebenso verächtlicher Weise „behandelt" wird. Einmal mehr zeigt der Artikel darüber, dass es hier mehr um Bagatellisierung des Themas geht: am Besten gar nicht die Ausmaße des Verbrechens herausfinden, um sich nicht einer israelischen Verantwortung an dem Massaker stellen zu müssen.

Für soviel interne Blindheit sind wir nicht verantwortlich. Lasst daher bitte euren ideologisch linkischen Diskurs nicht an dem Thema Palästina aus (Ihr wisst ja, die ewigen Projektionen...), sondern beschränkt euch besser auf andere Themen. Und solltet Ihr wirklich an dem Leben der palästinensischen Menschen in Israel und unter israelischer Besatzung interessiert sein, dann sprecht mit Betroffenen und Erfahrenen und nicht mit euch selbst.

Editorische Anmerkungen:

Alle Artikel des Teil II erschienen in der Interim 551.
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