Berichte aus Brasilien
Musik-Supermacht Brasilien(1)
Zurück zum Samba
Wegwerf-Pop, Rock und Rap im Abwind - Authentisches dagegen populär wie selten

von Klaus Hart
06/02
 

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Zweiundvierzig Auftritte pro Monat in ganz Brasilien - das schafft derzeit nur Jorge Aragao, 52, schwarzer Sambista aus Rio de Janeiro - und hat auch noch sichtlich Spaß daran. Jahrelang schleppt er Kühlschränke, Waschmaschinen zu Kunden, schlägt sich grade so durch - heute ist er gefragt wie kein anderer Komponist, Sänger seiner Sparte, auf dem Höhepunkt der Karriere, seit über einem Jahr unter den ersten Zehn der Verkaufshitparade, Million-Seller, monatelang Nummer Eins. Mit seinen romantischen, melodiösen Sambas weit, weit vor allen in Deutschland bekannten Brasil-Stars, wie Caetano Veloso, Gilberto Gil, Marisa Monte. Das besondere daran - Jorge Aragao schaffte es so gut wie ohne Werbung - seine eigene Plattenfirma nahm ihn nicht für voll, die Musikmedien ignorierten ihn - aber das Volk auf der Straße machte den Totgesagten zum Star. Dabei hatte Jorge Aragao schon einmal, in den Achtzigern, am Ende der Militärdiktatur, für eine Trendumkehr gesorgt. Sein Lied „Coisa de Pele“ - frei übersetzt - diese Sache mit der Haut, läßt die Dunkelhäutigen aufhorchen, wird zur Hymne, betont schwarzes Selbstbewußtsein, protestiert gegen kulturelle Überfremdung, die Diskriminierung des Samba. Motto - zurück zu den Wurzeln. „Als ich diese Musik schrieb“, sagt Aragao zum Trend, „wurden in Brasilien zu achtzig Prozent nur ausländische Titel gespielt, fast nichts von uns, genau das Gegenteil von heute. Nach Coisa de Pele änderten sich die Dinge - plötzlich kauften sich die Leute Gitarren, Banjos, Tambourins, das war wie ein Fieber; die Brasilianer entdeckten den Samba neu, spielten ihn an den Straßenecken, mit unserer Musik wurde es eine richtige Bewegung.“ Ein Blick auf die Hitparaden, ein Ritt über die Radioskala genügt - authentische Sambas, aber auch die sentimentalen Balladen der Sertaneja-Musik des Hinterlands, der Forrò des Nordostens, liegen unangefochten an der Spitze - die quotenstärksten Sender Sao Paulos etwa, mit rund zwanzig Millionen Einwohnern drittgrößte Stadt der Welt, bringen ausnahmslos nur Musica Popular Brasileira. Dabei hatte sich die multinationale Musikindustrie auch in Brasilien jahrzehntelang mit gewaltigem Werbeaufwand abgerackert, um den Geschmack und die Hörgewohnheiten der musikbesessenen Einheimischen zu ändern - ähnlich wie in Deutschland. Vor allem im Rocksektor wurden immer mehr kurzlebige Wegwerfbands produziert, wurde mittels Druck und Bestechung der anglo-amerikanische Popanteil in den absolut dominierenden Privatsendern hochgetrieben, auf Kosten etwa des Samba. Ein neuer Song, eine neue CD von Michael Jackson, Madonna oder Britney Spears werden bis heute problemlos fast weltweit, und auch nach Deutschland durchgeschaltet, bestens vermarktet - nur die Brasilianer bleiben stur, bevorzugen Qualität, ähnlich den Kubanern - US-oder Britpop ist nur selten unter den Top zwanzig. Der Marktanteil einheimischer Künstler pegelte sich dagegen konstant bei achtzig Prozent ein. Rechnet man die CD-Raubkopien mit, das Stück für umgerechnet zweieinhalb Euro, ist er noch weit höher - nach China produziert, vertreibt Brasilien heute die meisten „CD-Piratas“. Auf jede legal vertriebene Scheibe Jorge Aragaos entfallen heute mindestens zwei schwarzgepreßte guter Qualität, überall von Straßenhändlern angeboten.

Weiß Wim Wenders eigentlich, was sein Film über den Buena Vista Social Club und die gleichnamige CD in Brasilien anrichteten? Die uralten, meist vergessenen Sambistas von Rio de Janeiro gingen zusammen ins Kino, um die kubanischen Kollegen zu sehen - erkannten sich auf der Leinwand wieder, identifizierten sich mit den Kubanern. Und etwas beschämt erinnert sich jetzt die Nation, die Kulturszene der eigenen, zu Unrecht belächelten, mißachteten Klassiker überall in Brasilien, holt die Beethovens, Mozarts des Samba wieder ins Rampenlicht. Filme nach Wim-Wenders-Vorbild entstehen, alle paar Wochen eine neue CD - wie die von Nelson Sargento, 77, nur noch zwei Zähne im Mund, grade noch mal vor der Misere gerettet. Rückenwind, finanzielle Unterstützung kommt von erfolgreichen Jüngeren: „Wir machen jetzt unseren Buena Vista Social Club“, verkündete Marisa Monte, 35, gründete ihr Label Phonomotor, damit Argemiro Patrocini und Jair do Cavaquinho von der Sambaschule Portela, beide über achtzig, 2002 zum erstenmal im Leben ihre wundervollen Kompositionen veröffentlichen können. Und gibt auch mit anderen in den Slums Vergessenen durchweg ausverkaufte Konzerte.

Aber immer noch leben die meisten hervorragenden Sambistas weiter in Armut, manche sogar im Elend. Brasiliens größter Rock-Fotograf Ruy Mendes, stieß eher zufällig darauf, wurde richtig wütend, lichtete viele davon ab, zeigt die Fotos derzeit in Sao Paulos Pinakothek:“Man nimmt die eigene Kultur nicht wichtig - das gibt es oft in den früheren Kolonien, denkt, was von draußen kommt, ist grundsätzlich besser. Erst jetzt, mit der Globalisierung, ändert sich das langsam. Da alles globalisiert wird, schauen die Leute mehr auf das Eigene, das Authentische, bewerten es höher.“

Entsprechend schrumpfte die Rockszene - nur noch wirklich hochklassige Bands, unverwechselbar brasilianisch, mit ganz drastisch realitätsbezogenen, sozialkritischen Texten, wie etwa die „Tità´s“(Titanen) aus Sao Paulo, werden noch akzeptiert, füllen Stadien, machen aber Samba und Sertaneja längst nicht mehr den Platz streitig. Ein Brasil-Punkrocker avancierte indessen gar zu einer Art Nationalidol - Supla, 35. Der wasserstoffblonde Paradiesvogel drehte kürzlich mit Ex-Freundin Nina Hagen in Berlin einen Videoclip - auf sie gemünzt, „Garota do Berlim“(Mädchen von Berlin). Im Oktober würden ihn die Neunzehnjährigen gar zum Präsidenten wählen, unter den möglichen Kandidaten rangierte er laut Umfragen immerhin auf Platz vier. Der große Junge hat eben Tiefgang, dazu hochprominente Politikereltern. Mama Suplicy, Brasiliens bekannteste Feministin, Sexualwissenschaftlerin, ist derzeit Präfektin der Metropole Sao Paulo - der Papa ist progressiver Kongreßsenator, Säule der Ethik und Unbestechlichkeit im tiefkorrupten Politikbetrieb.

Rap, HipHop, kräftig gepuscht von den US-Musikmultis, faszinierte in den Neunzigern vor allem die Slumperipherien, fand auch bei den Mittelschichtskids Anklang, schien ein ernsthafter Konkurrent brasilianischer Rhythmen zu werden. Das Strohfeuer, der Kick obszöner, extrem gewaltverherrlichender Texte ist für die meisten vorbei - eine Jugendzeitschrift ermittelte jetzt per Leserbefragung, daß dieses Genre derzeit am stärksten auf die Nerven geht, langweilt. Das Gleiche wie beim Rock - nur Rapper, die wirklich etwas zu sagen haben - allen voran die extrem regimekritischen Racionais MC`s aus Sao Paulo, halten ihre Position.

Editorische Anmerkungen:

Der Autor schickte uns seinen Artikel am 18.6..2002 zur Veröffentlichung. Er schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt.

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