Klassenkampf - Krise - Kommunismus?

aus dem Wildcat-Zirkular

06/03    trend onlinezeitung

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Bischofferode, die Lausitzer Bergarbeiter, die Stahlarbeiter im Ruhrgebiet, Unis im Streik, die Binnenschiffer, LehrerInnen ... Vor wenigen Monaten Air France und jetzt die Fischer in Frankreich. Trotzdem erscheint der Aufstand in Chiapas beinahe schon als anachronistisch. Woran liegt das?

Wir sind solchen Aufzählungen und voreiligen Schlüssen auf einen neuen Kampfzyklus gegenüber - zu Recht - sehr mißtrauisch geworden. Zum einen, weil wir uns damit schon zu oft auf dünnstem Eis bewegt haben (es wirkt ganz komisch, wenn man heute zum Beispiel das Editorial der Wildcat 38 liest, in dem wir von einer neuen politischen Phase geschrieben haben, die nun anfangen würde...), zum anderen, weil die Leute, die da kämpfen, selber nicht das Gefühl haben, als würden sie oder könnten sie die Welt verändern.

Wir selber sind politisch-theoretisch in die Krise gekommen. In unseren praktischen Versuchen können wir die Spanne zur Revolution nicht aufstecken, in keinem Einzelfall die vorwärtstreibende proletarische Tendenz finden, auf der Ebene von Initiativen sind wir meist nur noch die radikalere Variante der autonomen Hiphop [1]-Politik. Deshalb können wir mit unseren Analysen auch die Menschen nicht mobilisieren, sondern erklären ihnen nur noch, warum die Scheiße funktioniert! [2]

In der öffentlichen Diskussion hat sich der Kapitalismus als das bessere System durchgesetzt. Der Markt ist allen andern Formen von Regulierung, Absprachen, politischen Interventionen usw. überlegen. Dagegengehalten werden dann höchstens Zusammenbruchstheorien à la Kurz (Kollaps der Moderne) oder moralische Argumente à la »der Kapitalismus ist ungerecht, siehe die verhungernden Kinder« [3]. Gleichzeitig fällt uns auch nicht viel ein zu den alltäglichen Verhaltensweisen der ArbeiterInnen, die anscheinend auch davon ausgehen, daß der Markt die beste Organisationsform ist [4]. Und es ist doch auch allgemeine Gefühlslage: der Kapitalismus hat gewonnen, weil er das überlegene System ist, das sich selbst am effektivsten reproduzieren kann, in seiner Reproduktion immer wieder (»auf ewig«?) an veränderte Bedingungen anpassen kann. Zwar ist darüber niemand so recht glücklich - die Kapitalisten auch nicht [5] - aber es läßt sich nun mal nicht ändern.

Die Erarbeitung einer eigenen Theorie von der gegenwärtigen Krise soll uns in mehrerer Hinsicht weiterhelfen:

  1. wollen wir genau rauskriegen, wo wir stehen, in welcher historischen Situation wird sind (gegen die Geschichtslosigkeit des sich ewig reproduzierenden Kapitalismus);
  2. wollen wir kapieren, in welcher Krise unsere Feinde sind, wo revolutionäre Bruchpunkte im System liegen (gegen die Behauptungen, der Kapitalismus und der »freie Markt« seien nun mal das überlegene System);
  3. wollen wir auf dieser Ebene dann eine organisierende Diskussion über unsere praktischen Eingreifmöglichkeiten führen (gegen mechanische und voluntaristische Organisationsmodelle - aber auch gegen den um sich greifenden Defätismus);
  4. brauchen wir mehr als eine moralische Kritik an der ungerechten Welt. Wir wollen besser kapieren, welche (subjektiven) Kräfte das Kapital in die Krise gebracht haben und ob darin eine emanzipatorische, im Sinn von Marx »kommunistische« Kraft liegt (»Kommunismus ist nicht ein Zustand, sondern die wirkliche Bewegung«).

Deshalb kommen in diesem Zirkular drei Beiträge: Der folgende setzt sich zunächst etwas theoretischer mit der Krise und verschiedenen politischen Ansichten dazu auseinander. Der zweite ist ein Versuch, empirisch genauer zu gucken, wie Krise und Arbeiteraktion zusammenhängen. Als drittes haben wir einen Artikel von Riccardo Bellofiore aus der italienischen Zeitschrift altre ragioni übersetzt, mit dessen politischen Schlußfolgerungen wir zwar nicht einverstanden sind (er ist anscheinend ein Demokratiefan), er hat aber den großen Vorteil, daß er sehr ausführlich auf die vorherrschenden bürgerlichen nationalökonomischen Theorien und Ideologien eingeht und sie auseinandernimmt.

Im nächsten Zirkular werden wir dann auf neuere linke Krisentheorien eingehen - und vielleicht auch schon weitere Beiträge dazu abdrucken können.

Crisis what crisis?

Die Frage ist erstmal: welche Krise? In der Diskussion werden ständig (mindestens) zwei verschiedene Begriffe von Krise durcheinandergeschmissen. Der eine ist der aktuelle zyklische Wirtschaftseinbruch mit negativen Zuwachsraten des Bruttosozialprodukts, Entlassungen usw. Der andere ist die strukturelle Krise seit Anfang der 70er Jahre (»Krise des Kapitalismus«). Die erste Art der Krise gehört zum Wesen des Kapitalismus. Dies hatte Marx erkannt und auf abstrakter Ebene verschiedene Erklärungs-Möglichkeiten angeführt. Er meinte, wenn die inneren Zusammenhänge des Kapitalismus erst mal begriffen sind, »stürzt, vor dem praktischen Zusammensturz, aller theoretische Glauben in die permanente Notwendigkeit der bestehenden Zustände« (Brief an Kugelmann). Wie ernst für die Verfechter des Kapitalismus diese Kritik bereits ist, zeigt sich z.B. daran, daß sie nach dem Zweiten Weltkrieg allen Ernstes behauptet haben, sie hätten nun das Problem dieser zyklischen Krisen gelöst: durch die Präzision der Vorhersagen über die wirtschaftliche Entwicklung, die Genauigkeit der Wirtschaftswissenschaften und durch die Macht des Staates, antizyklisch gegenzusteuern, würde es nun zu keinen Rezessionen mehr kommen. Heute wissen wir, daß das auch damals nicht stimmte, aber als Ideologie von der Überlegenheit der »sozialen Marktwirtschaft« spielte es bis Mitte der 60er Jahre eine Rolle.

Danach kam es zu einer ersten, kleinen Rezession und im Gefolge der dann einsetzenden Arbeiterkämpfe seit Anfang der 70er Jahre zu einer »strukturellen Krise«, die bis heute ungelöst ist und sich auch im zyklischen Auf und Ab von Boom und Rezession nicht löst (auch der längste Aufschwung seit dem Zweiten Weltkrieg in der BRD der 80er Jahre konnte die tieferliegenden »strukturellen« Probleme nicht lösen).

Auch dieser Krise standen die bürgerlichen Ökonomen zuächst ratlos gegenüber. Sie wurde zunächst allen Ernstes als »exogen« (von außen kommend) eingestuft, da ja die Marktwirtschaft gesund sei, nur hätten eben die bösen Scheichs »uns« den Ölhahn zugedreht. In der zweiten Hälfte der 70er Jahre bemerkten die Marxorthodoxen allerdings »schon«, daß es sich um eine Krise des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems handelte, und nach dem erneuten scharfen Kriseneinbruch 1979/80 setzten sich auch unter bürgerlichen Volkswirtschaftlern mehr und mehr dramatische Sichtweisen durch.

In der linken Krisendiskussion, die sich auf Marx bezieht, gibt es seit zwei Jahrzehnten heftige Auseinandersetzungen darüber, was die Ursachen der heutigen Krise seien: Überproduktionskrise? Unterkonsumtionskrise? strukturelle oder konjunkturelle Krise? Profitklemme? Überakkumulationskrise? Dabei haben die meisten dieser Marxisten übersehen, daß Marx selber in zwei Schritten vorgeht: Er analysiert zunächst die allgemeinen Grundzüge der kapitalistischen Ökonomie, aus denen er die Möglichkeit der Krise ableitet; das unterscheidet er aber von der Analyse der Kräfte, welche die Aktualität der Krise erzeugen. Marx analysiert auf der abstrakten Ebene ein ganzes Bündel von Möglichkeiten kapitalistischer Krisen: So ist bereits die Tatsache, daß die Produkte sich gegen Geld tauschen müssen, eine erste Krisenmöglichkeit, denn vielleicht wird ja das Geld nicht ausgegeben, und der Mehrwert kann sich folglich nicht »realisieren«. [6] Mangelnde Nachfrage, Disproportionen zwischen den Sektoren oder den Abteilungen, zu niedrige Profite, weil der Mehrwert zu stark in höhere Löhne geht, finanzielle Instabilitäten oder Grenzen bei der weiteren Ausdehnung des Kredits.... sind nach Marx alles mögliche Ursachen der kapitalistischen Krise. Einer der wenigen linken Theoretiker, die sich nicht am Streit beteiligt haben, was denn nun der eigentliche »marxistische« Grund der gegenwärtigen Krise ist, sondern Marxens Trennung in Möglichkeit und Aktualität der Krise nachvollzieht, ist Negri.

»Es wäre indessen falsch, auf irgendeinem der Elemente der marxschen Beschreibung der Krise zu insistieren und es zu isolieren: bei Marx müssen diese Elemente in ihrer Einheit betrachtet werden. ... Es muß [nämlich] hervorgehoben werden, daß all dies lediglich eine erste Annäherung an die marxsche Analyse des Zyklus, der Krise und der Entwicklung ist. Wir haben sie nach ihrer kapitalistischen Seite in ihrer Objektivität beschrieben. Aber die Lehre von der Erscheinungsform ist nicht die Lehre von den Ursachen, der kapitalistische Standpunkt ist nicht der der Arbeiterklasse. Von der Abstraktion der Möglichkeit der Krise muß nun zu deren Wirklichkeit, von der Beschreibung der objektiven Möglichkeit zur Dialektik der Wirklichkeit hinabgestiegen werden. Die bisher erwähnten Elemente der Beschreibung sind 'bloße Formen, allgemeine Möglichkeiten der Krise, [...] abstrakte Formen der wirklichen Krise. In ihnen erscheint das Dasein der Krise als in ihren einfachsten Formen, und insofern in ihrem einfachsten Inhalt, als diese Form selbst ihr einfachster Inhalt ist. Aber es ist noch kein begründeter Inhalt. [...] Warum also diese Formen ihre kritische Seite herauskehren, warum der in ihnen potentiell enthaltene Widerspruch als solcher erscheint, ist aus diesen Formen allein nicht zu erklären.' In diesem Fall, von diesem Standpunkt aus '(ist) die Möglichkeit [...], daß Krisen eintreten, [...] zufällig, [...] bloßer Zufall' [Marx-Zitate aus Theorien über den Mehrwert] ... Der Standpunkt der Arbeiterwissenschaft [7] muß also jenseits der bloßen Objektivität der phänomenologischen Beschreibung erreicht werden: ohne diese »Begründung« kommt der marxschen Theorie keine Notwendigkeit zu. Und es ist kein Zufall, daß seit Bernstein der Reformismus Marx nur bis zu diesem Punkt zu lesen versteht.« (Negri: Zyklus und Krise bei Marx)

Marx hat den »Fall der Profitrate« nicht entdeckt - Mitte des vorigen Jahrhunderts trieb der alle bürgerlichen Nationalökonomen um und nährte gewisse Endzeitstimmungen -, Marx versuchte nur, diese langfristige Krisentendenz auf den inneren Zusammenhang der kapitalistischen Akkumulation zurückzuführen und ihn mit der Werttheorie zu verbinden. Das sogenannte »Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate« besagt, daß der lebendigen Arbeit ein immer größeres Quantum an toter Arbeit (Fabriken, Maschinen, Wissenschaft) gegenübertreten muß, daß aber gerade dadurch der Profit fällt. Der Zwang, die lebendige Arbeit mit immer mehr toter Arbeit zu kontrollieren, ist der Zwang zur Konzentration und Zentralisation des Kapitals und des Produktionsprozeß, also zur Entwicklung der produktiven Kooperation des Gesamtarbeiters. Die »Tendenz« im Fall der Profitrate ist die Regelmäßigkeit, mit der die Arbeiterklasse diese Elemente der Kontrolle in ihre stärkste Waffe umdreht - und damit einen ganzen Typus der Kapitalakkumulation in die Krise stürzt. Marxþ »Gesetz« vom tendenziellen Fall der Profitrate war also einerseits gerichtet gegen die damaligen Vorstellungen von den »großen Geistern, die Geschichte machen«, er hielt den Ideologen des Kapitals den Spiegel vor: das Kapital als Klassenverhältnis produziert zwangsläufig die Krise. Andererseits war dieses »Gesetz« ein Untersuchungsprogramm: Wo liegen die historischen Gründe der Krise in den Kämpfen und im Verhalten der Arbeiterklasse?

Ganz im Gegensatz dazu hat die Marxorthodoxie daraus ein mechanisches »Gesetz« gemacht, das ohne Zutun der Menschen eines Tages den Kapitalismus zusammenbrechen lassen wird. Damit wollen wir uns nun aber nicht weiter auseinandersetzen. Wir wollen uns stattdessen kritisch zwei Kriseninterpretationen zuwenden, die im letzten Jahrzehnt in der undogmatischen Linken (von grün bis autonom) große Bedeutung erlangt haben. [8]

Die neoschumpeterianischen Kriseninterpretationen

1985 erschien im Wagenbach-Verlag ein Buch: Das Ende der Massenproduktion, das großen Einfluß auf die linksalternative Szene haben sollte. Geschrieben hatten es die beiden MIT-Profs Piore und Sabel. Ihre grundlegende These ist grob zusammengefaßt: Es gab eine große Krise im 19. Jahrhundert, in der die industrielle Massenproduktion gegen die Macht der Handwerker-Arbeiter durchgesetzt wurde [9] - die heutige Krise entspricht dem, es stehen ähnliche »Jahrhundertentscheidungen« an (der amerik. Originaltitel war: The second industrial divide). »Die derzeitige Krise unterscheidet sich allzu deutlich von der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre. Damals waren Faschisten, Kommunisten und Kapitalisten überall in der ganzen Welt darum bemüht, dem technologischen Beispiel eines Landes nachzueifern: dem der Vereinigten Staaten.« (S. 22) Während es in der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre nur um die Regulierung einer Produktionsweise (Fließband, Taylorismus, Massenproduktion) ging, steht heute diese Produktionsweise selbst zur Disposition.

Auf diese Krise gibt es ihrer Ansicht nach zwei Reaktionsformen: das Modell der Massenproduktion ausweiten oder: »Die andere wesentliche unternehmerische [eben!] Reaktion nennen wir flexible Spezialisierung. Sie findet sich in dem Geflecht technologisch hochentwickelter, außerordentlich flexibler Industriebetriebe in Mittel- und Oberitalien. Flexible Spezialisierung ist eine Strategie permanenter Innovation: der Anpassung an sich ständig verändernde Bedingungen, und nicht der Versuch, diese unter Kontrolle zu halten. [das Kapital lernt Zen, oder was??] Eine solche Strategie beruht auf flexiblen, für verschiedene Produktionszwecke einsetzbaren Technologien, auf den Fähigkeiten qualifizierter Arbeiter und darauf, daß - auf politischem Wege - eine industrielle Kommune geschaffen wird, die den Wettbewerb so einschränkt, daß nur die Innovation gefördert wird. Die Ausdehnung der flexiblen Spezialisierung führt daher zu einer Wiederauflebung handwerklicher und kleingewerblicher Produktionsformen, die an der ersten industriellen Wegscheide an den Rand gedrängt wurden.« (S. 26)

An ihrem Lösungsvorschlag werden drei Sachen klar: Sie setzen ihre Hoffnungen in eine unternehmerische Initiative (u.a. deswegen gehören sie in die Schumpeterþsche Tradition - und wir werden gleich sehen, daß damit sehr stark auch ihre Analyse der Krisenursachen zusammenhängt). Sie beziehen sich auf die italienische, dezentralisierte Fabrik, das Vorbild »kreativen Unternehmertums« der zweiten Hälfte der 80er Jahre war hier das Benetton-System. Ihr Abfahren auf »kleingewerbliche Produktionsformen« und angepaßte Technologien erklärt ihren großen Erfolg im grünen Lager.

Was aber hinter Benetton, dezentralisierter Fabrik und Kleingewerbe steckt, hat unter anderem Sergio Bologna ganz gut herausgearbeitet: Überausbeutung, eine breite Proletarisierung und Prekarisierung der Beschäftigten. [10]

Priore/Sabel haben - wie alle Schumpeterianer - kein zusammenhängendes Verständnis der Krise, sondern beschreiben diese »als eine Kette von Zufällen, die durch Fehler zusammengehalten wird« (S. 185). Nämlich Fehler, die Regierungen und Unternehmer gemacht haben. So zählen sie zwar alle möglichen Krisenursachen auf, bestehen aber drauf, daß die Krise letztlich nicht erklärt werden kann, strukturell bestünde sie »aus der Unfähigkeit der institutionellen Strukturen der späten sechziger Jahre, sich auf die Ausbreitung der Massenproduktionstechnologie folgenreich einzustellen.« (S. 186) In ihrem Verständnis ist der Unternehmer das treibende Moment der Geschichte, durch Innovationen erzeugt er ein »neues technologisches Paradigma«, dem sich dann die übrige Gesellschaft anzupassen hat. Sie landen somit bei einer völligen Technikgläubigkeit, obwohl sie weiter vorne ihren Feind so bezeichnet hatten: »unaufhaltsame, einheitliche, allumfassende Logik technologischer Entwicklung« (S. 35), der Marx alles zugetraut und alles untergeordnet habe.

Spätestens hier werden die vielen Übereinstimmungen mit Detlef Hartmann [11] deutlich: Bei beiden Positionen ist der Wert immer schon produziert, der Widerspruch liegt nicht zwischen Arbeitern und Kapital, das sie zur Arbeit zwingt, sondern zwischen (unternehmerischen) Erneuerern und sozialem Konservativismus. Detlef dreht diese Analyse bloß um, weil er die Unternehmer haßt - »die permanente Reproduktion des Kapitalverhältnisses ist keine Frage der Produktion, sondern der Effizienz der gesamtgesellschaftlichen Unterwerfungs- und Zurichtungsleistungen.« (ak 362 S. 30) - aber den Widerspruch sieht er ebenfalls nicht zwischen Klassen. Auch in seinem Geschichtsbild ist der Unternehmer die treibende Kraft, die (bei ihm im Verein mit den Intellektuellen) neue »Paradigmata« durchsetzt. Auch er schreibt gegen die »technologische Gewalt« an. [12]

Begrifflich geprägt sind wir selbst (wie Detlef Hartmann auch) von Panzieris Analysen über kapitalistische Technologie [13] und von Marxþ Ausführungen über Maschinerie und große Industrie im Kapital: Ure »sagt von einer Erfindung zum Kettenschlichten, deren unmittelbarer Anlaß ein strike: 'Die Horde der Unzufriednen, die sich hinter den alten Linien der Teilung der Arbeit unbesiegbar verschanzt wähnte, sah sich in die Flanke genommen und ihre Verteidigungsmittel vernichtet durch die moderne mechanische Taktik. Sie mußten sich auf Gnade oder Ungnade ergeben.« [14] Technik ist Kriegsmittel gegen die Klasse. Seit den technologischen Horrorvisionen des Kapitals in den 80er Jahren (Roboterisierung, Automatisierung) haben wir gelernt, genauer zu sein und zwischen kapitalistischer Propaganda und der Realität zu unterscheiden. Dabei haben wir immer wieder festgestellt und herausgearbeitet, daß dazwischen Welten liegen, [15] daß die Arbeiter die Technologie aneignen und umdrehen können, daß Technologie ein soziales Verhältnis ausdrückt. [16] Vor ein paar Jahren hat sich mal jemand die Mühe gemacht und historisch genau nachgeforscht, was der mechanische Webstuhl, den Marx so oft als Beispiel für den »Waffencharakter der kapitalistischen Maschinerie« anführt, gar nicht die riesigen Erfolge gebracht hat, die Ure immer behauptet hatte, Marx selbst war der Propaganda von Ure aufgesessen. In Wirklichkeit konnten an diesem Webstuhl beschäftigte Arbeiter die neue Technologie sogar dazu benutzen, sich lohnmäßig und von ihrer Ersetzbarkeit her gegenüber ihrem Unternehmer zu qualifizieren.

Solche reale, widersprüchliche Entwicklungen kümmern aber Detlef (und mit ihm eine Menge anderer Genossen) nicht die Bohne: in Schumpeterþscher Weise wird die Technologie völlig überschätzt, die in sie eingespannten Menschen gar als »Subjektreste« bezeichnet - was aber letztlich nur der kapitalistischen Propaganda von der eigenen Effizienz und Allmacht aufsitzt und nicht mehr angeben kann, wo die materielle Möglichkeit zur Revolution herkommen soll.

(Neo-)Keynesianische Krisentheorien

Die neokeynesianischen Ansätze sind erstmal sympathischer: »Industriekapitäne machen Arbeitslosigkeit«, »Technik als soziale Wahl«, »Krise kommt daher, daß die Leute zu wenig verdienen (Unterkonsumtionskrise)«. Aber dieser Ansatz hat zwei große Probleme: der Keynesianismus ist in den 70er Jahren gescheitert. Kurz zusammengefaßt bestand er in einem Deal zwischen Kapital und Klasse, daß Lohnzuwächse und Produktivitätssteigerungen gekoppelt und gewisse Mindestreproduktionsstandards gesichert werden. Die Weigerung der Unternehmer zu investieren war damit nicht zu erklären - und schon gar nicht mehr zu steuern: Ende der 70er Jahren war in den meisten kapitalistischen Ländern eine Situation erreicht, wo die Zinsen negativ waren (d.h. sie lagen unterhalb der Inflationsrate), trotzdem kam es zu keinem neuen Aufschwung. Erweiterungsinvestitionen blieben aus (technisch ist das die Ursache dafür, daß alle Staaten verschuldet sind, denn im keynesianischen Sinn mußten sie in der Krise Schulden machen, um antizyklische Ausgaben zu tätigen). Dahinter steckten Kämpfe der Klasse für mehr Lohn und weniger Arbeit (ein Unding in keynesianischer Sicht) und das Ausnutzen aller Mechanismen wie Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Mindestlohn usw.. Deshalb steckt das Kapital so tief in der Klemme: Es kann nicht »hinter« den Sozialstaat zurück, der eingeführt worden war, um die revolutionäre Drohung des Klassenkampfs in »Arbeiterbewegung« in einer »sozialen Marktwirtschaft« zu verwandeln.

Die Bemühungen der Keynesianer (u.v.a. Hankel, Matzke, Kalecki [17]) gingen deshalb dahin, Keynes' Ansatz auf die internationale Ebene zu erweitern. Sie interpretieren die Verwertungskrise als Übergang zu einem globalen Kapitalismus; dabei geraten die Unternehmer in Schwierigkeiten, weil sie die Preise ihrer Produkte nicht mehr festsetzen können (internationale Konkurrenz); die Nationalstaaten geraten in Schwierigkeiten, weil der selbsttragende Aufschwung ausbleibt und weil sie in globalen Währungssystemen nicht mehr über die Notenbanksouveränität verfügen.

Die Neokeynesianer sehen die momentane Krise also weniger als tiefe, historische Krise der kapitalistischen Produktionsweise überhaupt, sondern eher als Anpassungskrise an neue Verwertungsbedingungen; ihr historischer Rahmen ist also nicht die Veränderung einer Produktionsweise wie Mitte des 19. Jahrhunderts, sondern die Weltwirtschaftskrise der 30 Jahre des 20. Jahrhunderts. Sie tendieren dazu, die konjunkturellen Aspekte der Krise über- und die strukturellen Ursachen unterzubewerten. Als Auswege aus der Krise schlagen sie je nach politischem Standort deshalb Beschäftigungsprogramme, Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus, finanzielle Umverteilungen und ähnliches vor.

Damit wird ein grundsätzliches Handicap dieses Ansatzes deutlich: Sie sehen zwar die Klasse als Motor der Geschichte, ihre Lösungen zielen aber allesamt auf Strategien von oben. Und das heißt im Ergebnis: der Klassenkampf treibt die kapitalistische Entwicklung an.

Karl Heinz Roth stand über seinen Bezug auf Kalecki ebenfalls in dieser Tradition. [18] Obwohl wir seinen Thesen zur »neuen Proletarität« insgesamt positiv gegenüberstehen, wird dieses Dilemma ganz deutlich etwa in seinem Editorial in der »1999 Heft 1/94»: »Jedoch haben nicht die Träger der Sozialrevolten, sondern die herrschenden Eleiten der keynesianischen Gleichgewichtsutopie den Laufpaß gegeben.« Damit schneidet er seine Krisenanalyse von den Bewegungen der Klasse ab. Ganz richtig analysiert er, daß die »post-fordistischen« Strategien von Priore/Sabel u.a. inzwischen gescheitert sind: »Der Boom der Mikrounternehmen kam nicht zustande«. Und daß jetzt neue Unternehmerstrategien durchgesetzt werden sollen, wobei das Geschwätz vom »toyotisierten Netzwerkkonzern« in der Realität längst als Überausbeutung in Zulieferklitschen, verschärftes Gegeneinanderausspielen der Belegschaften und Standorte, Verdichtung der Arbeit und Entgarantierung als sogenannter »selbständiger« LKW-Fahrer deutlich geworden ist. Das Problem an den Ausführungen von Karl-Heinz im letzten Jahr war, daß er an diesem Punkt immer sehr widersprüchlich wurde: die Krise der Gewerkschaft geriet ihm in seinen Formulierungen immer leicht zu einer Krise der Arbeiterklasse und seine Verweise auf Kalecki waren bisher immer von einer Hoffnung auf die Möglichkeit einer neuen fiskalischen Umverteilung durchdrungen. Wenn er nun schreibt: »Die 'entscheidende Reform«, zu der sich der Linkskeynesianer Kalecki ... bekannte, scheint alles in allem unwiderruflich der Vergangenheit anzugehören«. Und die Frage stellt: »Sollte es nicht möglich sein, neue Handlungsspielräume zu erkunden und jenseits aussichtslos gewordener [gewerkschaftlicher] Defensivpositionen neue Solidarisierungsprozesse einzuleiten?« Wenn er seinen Befund ernst nimmt, daß es keinen Spielraum mehr gibt für staatlichen Reformismus oder Radikalisierung der Gewerkschaft, dann können wir uns gemeinsam die Frage stellen, wie die »Bewegung from the bottom up« entstehen könnte, die den herrschenden Zuständen ein Ende setzen kann - denn davon findet sich in seinen letzten Texten nichts.

Resümee:

Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt unserer Überlegungen angelangt. Aber wir haben einiges dazu gelernt: der Kapitalismus ist mit seinen zyklischen Krisen identisch, er ist keineswegs das überlegene Gesellschaftsmodell, im Gegenteil: er hangelt sich durch die möglicherweise tiefste Krise seiner Existenz und kein Nationalökonom blickt mehr durch, was da eigentlich passiert. Wir stehen mitten in einem Umbruch der Produktionsverhältnisse, die mindestens mit dem Umbruch zwischen den revolutionären Bewegungen des Vormärz und der Errichtung des Bismarck'schen Sozialstaats zu vergleichen sind. Wir leben in einer offenen Situation, niemand kann voraussehen, was kommt. Von da aus müssen wir nun wieder unser eigentliches Problem angehen. Die frühen Operaisten hatten es noch einfach: sie konnten direkt im Verhalten und in den Kämpfen der Klasse für gleichen Lohn, gegen die Arbeit und für mehr Geld sowohl die Ursachen der kapitalistischen Krise als auch kommunistische Elemente ausmachen, die über den Kapitalismus hinaus auf eine neue Gesellschaftsform zu verweisen schienen. Damals hätten zwar viele gedacht, daß die Revolution um die nächste Ecke sei - oder eben nicht, aber niemand hat gedacht, daß der Kapitalismus durch diese Kämpfe in eine Krise geraten würde, die heute, zwanzig Jahre danach tiefer als je zuvor ist. Und da haben wir nun ein Problem: Wie sieht heute dieses Verhältnis aus, wo das Kapital nach dem ruhigsten Jahrzehnt des Jahrhunderts (nach Streiks, Demos usw. gerechnet) in seiner tiefsten Krise des Jahrhunderts ist? Wie kriegen wir heute das Verhalten der Klasse, die Krise des Kapitals und die kommunistische Bewegung zusammen?

Marx benutzt den Begriff der »Produktionsweise« in der Deutschen Ideologie bereits auf zwei Arten, philosophisch, wenn er schreibt: »Die Menschen haben Geschichte, weil sie ihr Leben produzieren müssen, und zwar müssen auf bestimmte Weise«. Und zur Beschreibung einer bestimmten Etappe in dieser Geschichte, wenn er schreibt: »Die Weise, in der die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, hängt zunächst von der Beschaffenheit der vorgefundenen und zu reproduzierenden Lebensmittel selbst ab. Wie die Individuen sind ... fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen also sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion.« In der Kritik der politischen Ökonomie bezeichnete er dies nochmal ausdrücklich als den Leitfaden seiner Untersuchungen: »Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab und, einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente, kann kurz so formuliert werden: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. ... Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.« (Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S. 8 f.)

Das Bild vom Haus mit seinen Fundamenten war wahrscheinlich nicht so glücklich - Stalin hat dann ja die entsprechende »Theorie« draus gemacht ... Marxens Methode der Kritik der politischen Ökonomie gerät an einigen Stellen in seinem Werk in einen Widerspruch zu seiner Suche nach den Vorboten einer neuen Gesellschaftsordnung: Zuweilen sah er diese sogar in den Aktiengesellschaften (insofern die seiner Ansicht nach vom Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate ausgenommen seien), im wesentlichen glaubte er aber wohl, daß die fabrikmäßige Massenproduktion die materielle Grundlage für den Sozialismus hergeben würde. Es gibt hier einen Widerspruch in seinem Denken, denn in seiner Kritik des Kapitalismus arbeitet er immer raus, daß nur die Abschaffung der Arbeit die Grundlage für eine freie Gesellschaft sein kann. Ich schrecke deshalb auch immer zurück, wenn mich jemand darauf festlegen will, ob ich »Marxist« bin, oder nicht - aber ich denke, wir können die Marx'sche Methode nach wie vor benutzen.

Unter heutigen Kritikern, wie beispielsweise Detlef Hartmann, ist es modern geworden, den oben dargestellten Widerspruch bei Marx dahingehend zu interpretieren, daß sie ihm vorwerfen, er habe auf die Entwicklung »gesetzt«. Ich denke, es ist aus dem obigen klar geworden, daß er im Gegenteil gegen die zeitgenössischen Auffassungen der Aufklärer oder der liberalen Ökonomen gezeigt hat, daß »Fortschritte« etwa in der Entwicklung der Technik immer ein Fortschritt in der Ausbeutung sind. Marx glaubte zwar an die Existenz von Bewegungsgesetzen der menschlichen Gesellschaft (insofern war er ein Kind des 19. Jahrhunderts), aber er hat nie versucht, diese Bewegung in ein geschichtsphilosophisches Schema des allgemeinen Entwicklungsgangs der Menschheit zu pressen.

Seine (unglückliche) Metapher vom Haus und vom Fundament gab die Grundlage für sehr viele »Marxisten«,

a) genau das zu tun (die »ehernen ökonomischen Gesetze« des TäTäRä-Sozialismus, aber auch die Zusammenbruchstheorien von R. Kurz & Co.), und

b) den »Überbau« nur als Mittel im Dienst der Reproduktion der Produktionsverhältnisse zu begreifen. Zwar funktionieren die religiösen, politischen usw. Verhältnisse als wesentlicher Bestandteil der Produktionsverhältnisse, es wäre aber ein Irrtum zu glauben, die ganzen gesellschaftlichen Verhältnisse, Religion, Verwandtschaft usw. würden nur existieren, um verschiedene Formen der Ausbeutung zu ermöglichen oder zu rechtfertigen.... (das wäre Funktionalismus, wie ihn z.B. Althusser mit seiner Theorie der »ideologischen Staatsapparate« vertritt, aber auch Hirsch/Roth mit ihren »massenintegrativen Apparaten« sind gleich in der Nähe).

Ich hab das jetzt ä bißle länger gemacht, weil mir dabei vier Sachen wichtig sind:

  • Kritik des Fortschrittsbegriffs (manchmal wird auch in unserer Szene ganz unbefangen vom »technologischen Fortschritt«, von »industrieller Revolution« oder ähnlichem Schabernack geredet);
  • Kritik des Hartmann'schen: »jeder weiß was er tut«-Gefasels in seinem ak-Artikel (übrigens ist Detlef nicht der einzige, der die vorgebliche Kritik an Marxens »Fortschrittsgläubigkeit« dazu benutzt, sich von der Arbeiterklasse loszusagen - denn im gleichen Atemzug wird dann immer den ArbeiterInnen unterstellt, daß sie die »Gewinner am industriellen Fortschritt« seien);
  • Kritik unseres eigenen Funktionalismus/Strukturalismus (der oft noch kruder als Verschwörungstheorie daherkommt)
  • letztlich ist die Dialektik zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen nach wie vor der beste Schlüssel zum Kapieren von Krisen; wir müssen dabei aber immer obige Beschränkungen im Auge behalten und vor allem klar haben, daß »Produktivkräfte« vor allem anderen die Menschen (ihr Wissen, ihr Können [19]) und die (von den Produktionsverhältnissen erzwungene) produktive Kooperation sind; erst in zweiter Linie die Hardware (Maschinen, Technik ...).

Wieso reicht uns die operaistische Krisentheorie eigentlich nicht mehr?

a) Negris Schriften in der zweiten Hälfte der 60er Jahre zur »Krise des Planstaats« haben ein wichtiges theoretisches Fundament für die operaistische Analyse der aktuellen Klassenverhältnisse gelegt: Das Kapital hatte zwischen 1917 und 1929 lernen müssen, daß es bei Strafe des eigenen Untergangs die Arbeiterklasse politisch anerkennen mußte. Die revolutionäre Drohung, die von der Arbeiterklasse ausging, konnte nicht ausgelöscht werden (»auf lange Sicht sind wir alle tot« hatte Keynes gesagt), sie konnte nur »als Motor der Entwicklung« integriert werden. Dies mußten seit den 30er Jahren alle entwickelten kapitalistischen Länder anerkennen (auch der Nationalsozialismus setzte keynesianische Mechanismen in Gang; die verschiedenen Regierungen der BRD, selbst von Nixon ist der Ausspruch überliefert: »Heute sind wir alle Keynesianer«). Negri und andere hatten hellsichtig analysiert, wie die Klasse in den 60er Jahren aus diesem System von Produktivitätssteigerungen gegen Lohnerhöhungen auszubrechen begann: die Verweigerung der Arbeit, den Lohn als politische Größe zu entwickeln, die Ausbreitung der Kämpfe in alle gesellschaftlichen Bereiche (welfare mothers, Arbeitslosengeld = Lohn für Nicht-Arbeit usw.) sprengten den keynesianischen Deal. Das machte die »Krise des (keynesianischen) Planstaats« aus. Der Operaismus war ein wunderbares theoretisches Istrument, um diese Krise zu analysieren. Es gab auch viele Versuche in die Richtung, die Vertiefung der Krise durch die Arbeiterkämpfe als Übergang zum Kommunismus zu praktizieren. Diese Hoffnungen haben sich aber zerschlagen. Heute ist sicherlich kein direkter Weg Arbeiterkampf-Krise-Vertiefung der Krise-Kommunismus mehr vorstell- und praktizierbar. Deshalb müssen wir an dieser Ebene weiterdiskutieren, um zu kapieren, was real vor sich gegangen ist, wie die Klasse wieder an den Drücker kommen kann. Die immer wiederholte Behauptung, die unmittelbare Ursache der kapitalistischen Krise sei der Arbeiterkampf, bringt nix, wenn wir diese Kämpfe nicht real ausmachen können.

b) Viele »Spätoperaisten« haben die frühen Theoretisierungen eines Planstaats, der gegen die Arbeiterkämpfe die Krise benutzt, der »in die Krise geht«, inzwischen zu regelrechten Verschwörungstheorien ausgebaut. Auch in unseren eigenen Analysen herrscht oft ein unausgesprochener Funktionalismus vor, der in etwa besagt: Wenn »das Kapital« oder »der Staat« etwas tut, dann um folgendes zu erreichen. Dabei bleibt oft die Dialektik der Kämpfe auf der Strecke, bei denen nämlich oft was rauskommt, was keine der beiden Seiten gewollt hat, und auf dessen Grundlage dann die Kämpfe (auf höherer Ebene) weitergehen. Dabei gibt es auch ein gedankliches Problem: Wenn das Kapital so autonom ist, daß es »in die Krise gehen« kann, warum ist es dann nicht stark genug, die Krise auch wieder zu beenden? Dieser Strukturalismus der Analyse wird dann von Fall zu Fall mit einem recht dünnem »Dann-erst-recht« oder voluntaristisch überdeckt. Vor allem die Midnight Notes machen hier einen Kopfstand: Ihre Analysen am Schreibtisch sind strukturalistisch (sie beschreiben, wie der Kapitalismus sich reproduziert) und nur indem sie dieses Funktionieren verschwörungstheoretisch auf einen »Plan« reduzieren, erwecken sie den Eindruck, wir könnten da was dagegen tun (was zu tun sei, bleibt dann aber auch immer recht wolkig und beliebig). Sie haben den praktischen Optimismus verloren, der den Operaismus früher auszeichnete, weil er die Ursache der kapitalistischen Krise in den realen Kämpfen der ArbeiterInnen ausmachte.

Früher war es gerade des Hauptargument der Operaisten für die neue Phase in der Klassenzusammensetzung, daß der Arbeiterkampf den Zusammenhang zwischen Klassenkampf und kapitalistischer Entwicklung zerrissen habe, daß sie insofern historisch über den Keynesianismus rausgetreten sei. Wenn das aber stimmt, dann brauchen wir hier wirklich ein Stück neue Theorie. Denn wie schon Boyer sagt: »Wenn die Krisen länger dauern, geht den Theoretikern der Arsch auf Grundeis« - und das gilt scheint's auch für den Operaismus.

Neuere Ansätze zur Erklärung der kapitalistischen Krise

Jetzt fragen sich sicher alle: »Who the fuck, is Boyer?« Boyer ist ein Regulationist, und das wiederum sind Linke, die sich Ende der 70er ein Problem stellten: Die bürgerlichen und die meisten »marxistischen« Theorien konnten nicht den Charakter der tiefen Krise verstehen, in die das Kapital geraten war; die Operaisten konnten zwar die Krise verstehen, aber sie konnten auch nicht erklären, warum das Kapital immer tiefer hineingeriet, obwohl die Arbeiterkämpfe weltweit stark abflauten. Gleich vorweg: die Theorie der Regulation ist eine akademische Angelegenheit und ihre Vertreter sind heute oft Berater von reformistischen Politikern. Es geht mir nicht darum, ihre politischen Vorschläge hier auszubreiten. Aber der Ansatz hat einige Vorzüge:

  • sie kritisieren sowohl den keynesianischen als auch den neo-schumpeterianischen Ansatz und machen klar, daß die Krise tiefer geht; sie sehen die Ursache der Krise nicht in der mangelnden globalen Nachfrage, sondern in der Erschöpfung der Profitabilität
  • sie gehen materialistisch vor und lösen verschwörungstheoretische, funktionalistische und strukturalistische Verfestigungen auf;
  • sie haben sich viele Gedanken darüber gemacht, wie sich die aktuelle Krise des Kapitalismus begrifflich fassen läßt
  • sie haben ne ganze Reihe von Forschungen dazu gemacht, welche Versuche die Unternehmer auf internationaler Ebene (»peripherer Fordismus?«), auf dem Arbeitsmarkt (»Flexibilisierung der Arbeit in Europa«) und auf betrieblicher Ebene (Peugeot-Untersuchung, hybride Automatisierung) machen, um die Krise zu überwinden.

Sie haben einige Nachteile:

  • Regulationsschule ist ziemlich beliebig auch in ganz entscheidenden Fragen wie der Werttheorie haben sie unterschiedliche Meinungen und manche wechseln sogar im Lauf der Jahre ihre Meinung;
  • sie haben sich seit etwa 8 Jahren in einen abgedrehten Streit darüber begeben, ob die nächste Regulationsweise »post-«, »neo-«, »hyper-fordistisch« oder wie sonst aussehen wird, und ob das gut sein wird oder nicht so sehr;
  • damit legen sie ihr strukturalistisches Wesen bloß (zwar ist die Regulationsschule entstanden im Kampf gegen den Althusser'schen Strukturalismus, bei dem der Kapitalismus zu einem System stilisiert worden war, das sich immer wieder »reproduzieren« könne; aber sie ist letztlich strukturalistisch verhaftet geblieben (Konzept von Regulation und Selbstregulation hängt mit dem »Reproduktionskonzept« eng zusammen; Begriffe wie »massenintegrative Apparate sind funktionalistisch, nicht dialektisch, materialistisch): Sachen wie Fabrikorganisation usw. werden dann nicht mehr im Spannungsverhältnis vom Kampf um ihre Durchsetzung her untersucht, sondern werden danach kategorisiert, ob sie nun schon als »post-fordistisch« anzusehen sind; deshalb auch ihre Nonchalance der Frage gegenüber, ob man sich nach wie vor auf das »Marx'sche Wertgesetz« beziehen soll oder nicht: wenn Wert nicht mehr als Kampfverhältnis gesehen wird, sondern nur in seiner zweiten Bedeutung als gesellschaftlicher Regulator (Herstellung der Durchschnittsprofitrate, Kapital, das sich nicht verwertet, geht ein usw.), dann kann man natürlich auch versuchen, andere Regulatoren (wie Geld z.B.) als Bezugspunkte zu nehmen.

Einige Regulationisten erfassen zwar die politischen und sozialen Ursachen der Krise, sie verheddern sich aber an dem Punkt, wo sie nicht Kritik der politischen Ökonomie, sondern politische Ökonomie betreiben. Soziale Verhältnisse kommen bei ihnen nur sehr abstrakt oder als institutionalisierte Strukturen vor, also in »geronnener Form«. Veränderungen von klassenspezifischen Interessen, alltäglichen Verhaltensweisen und Orientierungen der gesellschaftlichen Menschen sind für sie kein Thema. Und das ist natürlich besonders daneben bei einer Krise, die wir sehr stark gerade in »Verhaltensweisen« und in nicht institutionellen Kampfformen sehen). [20]

So wie Boyer aber 1986 versucht hat, die verschiedenen kapitalistischen Krisen erstmal einzuteilen, kann für unsere weitere Diskussion recht nützlich sein, deshalb fasse ich sein Schema im folgenden zusammen. Danach gibt es fünf Typen von Krisen (Zitate alle von Boyer [21]):

Typ 1: Exogene Krise - die Krise als »externe« Störung

aufgrund von äußeren Ereignissen wie Naturkatastrophen, Ereignisse auf internationaler Ebene, Kriege ... Im strikten Sinn also eigentlich gar keine Krise.

Typ 2: normales Ergebnis der Regulation, »Anpassungskrise«

sozusagen völlig endogene Krise, die nichts mit unsicheren äußeren Faktoren zu tun hat, sondern in ihrer Zyklizität zum Funktionieren des Kapitals gehört. »Es ist zweifellos das Verdienst von Marx, als erster erkannt zu haben, daß dieses Phänomen dem Kapitalismus eigen ist, und verschiedene Möglichkeiten seiner theoretischen Erklärung vorgeschlagen zu haben.« Mangelnde Nachfrage, Disproportionen zwischen den Sektoren oder den Abteilungen, zu niedrige Profite, weil der Mehrwert zu stark in höhere Löhne geht, finanzielle Instabilitäten oder Grenzen bei der weiteren Ausdehnung des Kredits.... auch wenn die verschiedenen Theorien den Akzent mehr oder weniger stark auf die verschiedenen Faktoren legen, stimmen sie doch alle darin überein, daß Boom und Krise automatisch aufeinanderfolgen. Form und Tiefe dieser Krise hängen von den Modalitäten der Regulationsweise ab, im keynesianischen Sozialstaat wurde aus der Depression eine Rezession (weil die Löhne nicht mehr wegbrechen) ... die Ökonomie verfällt seit der Krise der 70er Jahre in einen Zustand, wo es keinen automatischen Aufschwung mehr zu geben scheint »Ist dies nicht Anzeichen dafür, daß die aktuellen Anpassungsmaßnahmen nicht mehr selbstkorrigierend sind und statt dessen das vorherige Regulationssystem weiter destabilisieren?«

Von daher ergibt sich die Abgrenzung zu »großen Krisen»: die ökonomische und soziale Dynamik tritt in Widerspruch mit der Entwicklungsweise. Große Krisen werden nochmal in Typ 3 und Typ 4 unterschieden, je nachdem, ob die Regulation das Akkumulationsregime destabilisiert oder ob es die Krise des Akkumulationsregimes ist, das auf die Regulation zurückwirkt.

Typ 3: Krise der Regulationsweise

Drei Krisenursachen sind hier möglich: a) exogene oder endogene Störungen »neuen Typs«, die nicht mit den bisher bekannten Methoden aufgefangen werden können; b) sozio-politische Kämpfe stellen die institutionalisierten Kompromisse infrage, neue soziale Strukturen sind inkompatibel mit der ökonomischen Reproduktion des Systems auf erweiterter Basis (»die Krise zeigt in diesem Fall das Auseinanderfallen zwischen der Zeit der Politik und der Zeit der Ökonomie«); c) die Vertiefung der Regulationslogik selbst führt zur Zerrüttung des Wachstums und zum Eintritt in eine Krise langer Dauer. (Boyer versucht also, alle marxistischen Analysen zusammenzupacken, die sich über die Ursachen uneins sind, aber darin übereinstimmen, daß die aktuelle eine »große Krise« ist).

»Genauso gerät das fordistische Lohnverhältnis in die Krise, weil es unter Druck kommt, der allerdings von Land zu Land verschieden ist: Arbeiterkämpfe gegen die Arbeitsorganisation, Lohnforderungen, die nicht durch Produktivitätserhöhungen kompensiert werden, Übernahme eines immer größeren Teils der mit der industriellen und städtischen Lebensweise zusammenhängenden kollektiven Kosten durch den Staat. Allgemein gesprochen scheint die Verrechtlichung (codification) von Ansprüchen auf Einkommen, die fast unabhängig von der ökonomischen Lage bestehen, zu einer Quelle von Konflikten sowohl wirtschaftlicher als auch sozio-ökonomischer Art zu werden, seit sich der Zuwachs der Produktivität abgeschwächt hat.«

Typ 4: Krise der Entwicklungsweise: das Akkumulationsregime selbst ist in der Krise.

Im Unterschied zum vorigen Krisentyp ist die Krise des Entwicklungsmodells dadurch gekennzeichnet, daß sie die Grenzen und den Höhepunkt der Widersprüche im Innern der wesentlichsten institutionellen Formen erreicht, die Voraussetzung für das Akkumulationsregime sind: Produktionsorganisation, Horizont der Kapitalverwertung, Aufteilung des Werts und die Zusammensetzung der gesellschaftlichen Nachfrage. Also Blockierung des dynamischen Reproduktionsprozesses der betrachteten Volkswirtschaft (Ökonomie). Für den Zeitgenossen ist es schwierig, Krisen vom Typ 3 und 4 zu unterscheiden, es lassen sich drei Kriterien dafür angeben:

  • Keine automatische Rekonstitution der Profite und des endogenen Wiederaufschwungs; die konjunkturellen Zusammenhänge unterscheiden sich deutlich von denen der Aufschwungperiode.
  • Die Akkumulationsdynamik unterminiert und zerstört die gesellschaftlichen Formen, die während der Aufschwungphase ihre Stütze waren.
  • Damit geht auch das Vorherrschen eines strengen Determinismus des Ökonomischen oder des Technologischen zuende. Weil es den vergangenen Kompromissen und Verhaltensregelns nicht gelingt, die ökonomische und soziale Kohärenz des Systems abzusichern, gibt es offene oder latente, offensive oder defensive Kämpfe, innovative Durchbrüche oder vergangenheitsorientierte Versuchungen, die die Besonderheiten der Konjunktur ausnutzen, um »andere Spielregeln« durchzusetzen versuchen, die zum Teil neu und zum Teil Wiederbelebungen älterer Verhaltensweisen sind. Gerade an diesem letzten Kriterium werden die Unterschiede zu Kondratief [Theorie der langen Wellen] offenkundig. Denn zum einen gibt es keinen Automatismus, der den Übergang von einer absteigenden Phase B zu einer aufsteigenden Phase A sicherstellt, im Gegensatz zu dem, der auf dem Scheitelpunkt interveniert. Zum anderen gibt es kein überhistorisches Gesetz, das voraussehen läßt, woraus ein mögliches, im Entstehen begriffenes Akkumulationsregime zusammengesetzt sein wird, da man ja zurückweist, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse in letzter Instanz durch die »Produktivkräfte« bestimmt werden.«

Typ 5: Die endgültige Krise einer Produktionsweise

entspricht der »organische Krisen« in der Marxorthodoxie, aber sie ist hier an genauere Definitionen geknüpft. Der Untergang des Feudalismus war sicherlich eine Krise des 5. Typs, aber wie soll man aktuell sicher sein, daß die Entwicklungsmöglichkeiten des Kapitalismus erschöpft sind, daß nicht einmal ein einstweiliger Ausweg gefunden wird? Hier reicht kein abstrakter Beweis, sondern man müßte diesen Beweis auf zeit Ebenen antreten:

  • zunächst könnte man analytisch zu zeigen versuchen, daß keinerlei Neuzusammensetzung der sozialen Verhältnisse möglich ist, die zu einer gangbaren Entwicklungsweise führen würde;
  • schließlich könnte man »zu beweisen versuchen, daß aller Wahrscheinlichkeit nach die tendenzielle Entwicklung der sozialen und politischen Konflikte eine Neuzusammensetzung der institutionellen Formen in Richtung auf ein neues Akkumulationsregime verunmöglicht

Letztlich geht es Boyer drum, der Kaffeesatzleserei zu entgehen, à la: der Kapitalismus ist in einer Krise, und da wir wissen, daß der Kapitalismus ein antagonistisches Verhältnis ist, kann er diese Krise nicht lösen - damit wird dann jede Krise zur tendenziell letzten Krise...

Soweit der Schnelldurchgang durch die Theorie der Regulation - den ich auch deswegen wichtig fand, weil viele Analytiker, deren Bücher wir lesen, Vertreter dieses Ansatzes sind. Zum Beispiel Mike Davis, dessen Buch »Phönix im Sturzflug [22] eine ganz tolle Analyse der Vereinigten Staaten zur Zeit von Reagan war - dessen politische Vorstellungen (»rainbow coalition«) am Ende dann aber keineswegs überzeugen können.

Ich denke, es wird nun etwas klarer, warum das so ist. Und es wird wohl auch klarer, warum wir eine eigene Krisenanalyse brauchen: eine, die keinen Bruch zwischen Analyse und politischem Vorschlag hat, sondern die uns praktisches Eingreifen möglich macht. Ansätze dazu im nächsten Zirkular.

Fußnoten:

[1] Nicht im Sinn von schlechter Musik, sondern im Sinn von: heute hier, morgen dort - ohne roten Faden dazwischen.

[2] Bezeichnend der Brief in der Wildcat 63: »... mußten selbst die Wildcats zugeben, daß das noch nie geklappt hat« (S. 34). So haben wir das bei der Veranstaltung zwar sicher nicht gesagt, aber so kommen wir - in der Regel - rüber.

[3] Wobei auffällt, daß man dasselbe Argument auch wie Detlef Hartmann dazu benutzen kann, zu sagen: in den Metropolen über Klassenkampf zu reden ist unmoralisch, weil sie in der Peripherie verhungern - wohingegen hier die Arbeiter in goldenen Ketten liegen. Damit gibt es keine materielle Basis mehr für die Revolution. »Alle Propaganda einer transnationalen proletarischen Homogenisierung ist eine gefährliche metropolitante Ideologie, die allenfalls einem imperialistischen Gefälle der national-sozialistischenTendenzen ihre Legitimationsbasis zuschneidern hilft. ... Das erbliche metropolitane Proletariat vor allem der Schlüsselindustrien der Kapitalgüterindustrie lernte die Regeln des kapitalistischen Spiels und die Ambivalenzen ihrer Position im globalen sozialen Krieg. ... Die proletarische Subjektkonstitution zum Vorarbeiter der Welt im Anspruch einer nationalen sozialistischen Gemeinschaft auf Weltgeltung und Judenmord waren nur zwei Seiten derselben sozialen Identitätsfindung ... Es gibt keinen Dialog. Es gibt auch keine Heilung eines falschen Bewußtseins durch Appell an die Proletarität ihrer Kampfformen, weil ihr Rassismus und Faschismus ein »richtiges« Bewußtsein proletarischer Teilhabeansprüche an der Gewalt des Umbruchs und seiner Rendite widerspiegeln können. Sie machen Geschichte und wissen, was sie tun.« (ak 362, S. 30)

[4] Die Ossis waren zu Beginn so drauf: »lieber will ich für die Straßenbahn was bezahlen und die Wagen sind sauber und fahren pünktlich, als Nulltarif und alles ist dreckig« - worin sich die Krise des fordistischen Entwicklungsmodells ja inzwischen auch ganz real ausdrückt: kommunale Verkehrsbetriebe zocken für ne Fahrt 4 Mark ab und nachher stehst du in ner völlig überfüllten U-Bahn .... natürlich ließe sich das »privat« besser organisieren. Das ganze hat ne zweite Ebene darin, daß gerade für isolierte, relativ ohnmächtige Individuen der Markt zumindest eine gewisse Rechtsgarantie, Ware/Leistung gegen Geld, zu bieten scheint.

[5] Das könnte - auch - was mit den »entgegenwirkenden Maßnahmen« zu tun haben, die Marx gegen den tendenziellen Fall der Profitrate aufzählt. Eine davon ist die Entwicklung neuer (Anlage-)Sphären: wirklich globaler Kapitalismus ist mit dem gegenwärtigen Akkumulationsregime eventuell nicht möglich. (siehe Rosa Luxemburgs Überlegungen, daß ein Kapitalismus ohne externe Märkte unmöglich ist; wobei es allerdings nicht hauptsächlich um Märkte geht, und »unmöglich« ist Blödsinn, es ist evtl. mit dem gegenwärtigen Akkumulationsregime unmöglich.

[6] Das hat dann zu großen Abhandlungen über »Realisierungskrise« und »monetary constraint« geführt.

[7] Ausdruck der damaligen Operaisten, der halt heißen soll: vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus an was dran gehen; heute würden wir sagen »revolutionäre Theorie«.

[8] Die Auseinandersetzung mit den politischen Behauptungen und dahinterstehenden theoretischen Ansätzen der undogmatischen Linken ist ganz schön schwierig. Setz dich mal mit einem Sammelsurium aus Geschichtsklitterei und Theorieversatzstücken wie dem »Winterpapier« aus Bremen auseinander! Wir stellen deshalb erstmal zwei Ansätze dar, die eine gewisse Geschlossenheit aufweisen und in deren jeweiliger Denktradition Detlef Hartmann (symptomatisch für den Materialien-Kreis) und Karl-Heinz Roth (in der operaistischen Tradition und zwischen Linksgewerkschaftern und linken Akademikern) stehen. Wobei allerdings auch hier die begriffliche Genauigkeit und politische Sorgfalt oft sehr zu wünschen übrig läßt und hinter einem Bluff mit hundert schwierigen theoretischen Worthülsen verborgen wird. Detlef schreibt in seiner Kritik an Karl-Heinz Roth etwa ganz unverblümt: »Es reicht, sich für einen Tag den Soziologen Riehe, ein paar Bände Business Ethics ... oder die letzten Argument-Bände reinzuziehen ...«. (ak 362)

[9] Das Fließband »erforderte kein tradtitionelles handwerkliches Können mehr, sondern nur noch die Bedienung automatischer Maschinen - die die Ingenieure, hinter vorgehaltener Hand, »Bauerngerät« nannten.« (S. 29) Damit wurde eine Entwicklung ermöglicht, in der das Kapital immer wieder Bauern an die Fließbänder holte: in Deutschland zunächst vom Land, dann aus Polen, dann aus den ehemaligen Ostgebieten, dann die Italiener, dann die Türken usw.. Ein Schritt in der kapitalistischen Entwicklung, den Detlef Hartmann und die Materialien auch über 100 Jahre danach noch nicht zur Kenntnis genommen haben, wenn sie einerseits noch immer von einer mythischen »moralischen Ökonomie« sprechen, andererseits Detlef in seinem ak-Artikel vom »erbliche(n) metropolitane(n) Proletariat« schreibt! Für den Massenarbeiter ist es geradezu konstitutiv, daß er zwischen Land und Fabrik steht.

[10] Wir haben die ersten beiden Texte von Sergio zur Entwicklung der »selbständigen Arbeit« für unsere Zwecke übersetzt und als Kopie rumgegeben. Es sind allerdings viele Seite. Am 14. Februar hat Sergio den inhaltlichen Kern seiner Untersuchungen in einem FR-Artikel verööfentlicht. Ihr könnt Euch also erst mal den besorgen.

[11] Leben als Sabotage; Sowjetunion-Heft; Rassismus-Heft; ak-Artikel.

[12] Und völlig seltsam: auch er lobt plötzlich in seinem ak-Text die neuen Technologien (»dabei wird wie in früheren Kampfzyklen der Zirkulation revolutionärer Erfahrungen über Migration aber auch die völlig neuen Möglichkeiten der Kommunikation große Bedeutung zukommen«) - bei Piore/Sabel liest sich das so: »Die Heraufkunft des Computers hat die menschliche Kontrolle über den Produktionsprozeß wiederhergstellt; die Maschine ist wieder dem, der sie bedient, untergeordnet.« (S. 289)

[13] Über die kapital. Anwendung der Maschinerie im Spätkapitalismus; TheKla 7.

[14] MEW 23 S. 460 - s. auch WC-Plakat »Leben heißt Kampf gegen die Arbeit«.

[15] Siehe z.B. Industrieroboter: Automatisierung von Montagearbeit in: TheKla 8.

[16] Als aktuelles Beispiel siehe im Reader II zum Internationalen Workshop in Wandlitz: »Interview zum Flexiblen Fertigungssystem«.

[17] 1970 gestorben.

[18] Es wäre zu überlegen, inwiefern nicht der ganze Operaismus als Theorie »keynesianistisch« ist.

[19] Wissen und Können sind komplexe Zusammenhänge von Vorstellungen, Ideen, Gewohnheiten sowie körperlichem und geistigem Geschick. Marx: »Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut.« (MEW 23, S.193)

[20] Zur konkreten Analyse der Krise dürften die Regulationisten also wenig taugen - aber ist das beim operaistischen Ansatz so viel anders: auch Alquati gelingt es nur, die in ihrer Widersprüchlichkeit funktionierende Fabrik zu beschreiben, und wo er Thesen über die »neuen Kräfte« wagt, sind sie eigentlich ziemlich daneben: »die jungen Techniker« usw. Daß Alquatis Betriebsuntersuchungen, Negris »Krise des Planstaats«-Überlegungen und Trontis Fruchtbarmachung Marx'schen Denkens insgesamt »ein Stück«, »eine Theorie«, »einen Organisationsansatz« ergaben, hat doch wohl eher was damit zu tun, daß der Untersuchungsgegenstand damals noch kohärent war: Fließband/Kreisförderer - keynesianische Wirtschaftstheorie - zyklische Konjunktur innerhalb bzw. nach einem »Wirtschaftswunder« ...

[21] Robert Boyer: La théorie de la régulation: une analyse critique, Paris 1986

[22] 1986 als Rotbuch erschienen.

 

Editorische Anmerkungen:

Dies sind die ersten beiden Teile über Krisentheorien, wie sie im Wildcat-Zirkular Nr. 1 - Februar 1994  und Nr. 2 - März 1994 als Printversion erschienen sind, online gespiegelt von http://www.wildcat-www.de/zirkular/01/z01kris2.htm  und
http://www.wildcat-www.de/zirkular/02/z02krise.htm