Die soziale Lage in Deutschland
Ein Versuch zur Bestimmung des revolutionären Subjekts

Von Achim Guduan

06/03    trend onlinezeitung

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Als Grundlage dieses Beitrags diente der erste Armuts- und Reichtumsbericht “Lebenslagen in Deutschland”, den die Bundesregierung 2001 veröffentlichte. Da dieser die Situation von 1998 behandelt, sind alle Angaben in Mark. Wenn im Beitrag einmal keine Jahresangaben genannt sind, ist immer das Jahr 1998 gemeint. Obwohl der Regierungsbericht teils widersprüchlich ist und einige statistische Methoden zu hinterfragen sind, kann er trotzdem als Datensammlung für die Darstellung der sozialen Verhältnisse verwendet werden. Grade in Hinblick auf die schon durchgesetzten Verschlechterungen sollte der Bericht immer als etwas geschönt betrachtet werden.

Vorbemerkungen

Die radikale Linke hat in den letzten 15 Jahren mehrere Debatten zur Bestimmung des revolutionären Subjekts geführt. Erinnert sei an dieser Stelle an das Papier "3 zu 1", aber auch an die anderen Kritiken an den etablierten kommunistischen Vorstellungen, die fast ausschließlich das Industrieproletariat als revolutionäres Subjekt ansahen, jedoch nicht begreifen konnten, dass in einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft auch andere Subjekte zu Akteuren revolutionärer Veränderung werden können. Es ist bekannt, dass die Frauenbefreiung als Nebenwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft begriffen und ihr deswegen kein besonderer Stellenwert beigemessen wurde. Ähnlich verhielt es sich mit den Umweltfragen, die zumindest in den Momenten sogar als proletarierfeindlich bezeichnet wurden, in denen ein vermeintlicher Widerspruch zwischen den Interessen aller zum Wohle der Umwelt und den Interessen der Belegschaft eines Betriebes gesehen wurde. Einzig der Rassismus erlangte bei traditionellen kommunistischen Organisationen ein gewisses Gewicht, da die Arbeiterbewegung schon von Marx und Engels als internationales Phänomen analysiert wurde und sie aufgrund der Repression schon früh einen internationalistischen Charakter annahm. Trotzdem wurde dem Rassismus wie der Umweltzerstörung und dem Patriarchat nur der Rang eines Nebenwiderspruchs zugewiesen, dominiert von der kapitalistischen Verwertung der Arbeitskraft.

Die Etablierung von Haupt- und Nebenwidersprüchen wurde in der kommunistischen Linken unter anderem mit einem Verweis auf das Kommunistische Manifest begründet, nach dem sämtliche Widersprüche mit der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln ebenfalls verschwinden würden. In der kommunistischen Interpretation dieser von Marx skizzierten Entwicklung schlich sich in der Folgezeit ein gewisser Automatismus ein, demzufolge nur das Industrieproletariat agitiert werden musste, um einen revolutionären Prozess auszulösen. Hier wurden schlicht die Träger der Revolution mit den Herrschenden der alten Gesellschaft verwechselt. Denn sicher ist unbestritten, dass die, die über Gedeih und Verderb entscheiden, die die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung bestimmen, Kapitalisten sind, einzig daran interessiert, den Mehrwert abzuschöpfen. Bei einer Personifizierung ist es nicht der Mann und nicht der Weiße an sich, der die Geschicke der Menschheit bestimmt, sondern der Kapitalist. Dies bedeutet aber nicht, dass das revolutionäre Subjekt deshalb einzig im Industrieproletariat zu finden ist. Im Gegenteil skizzierten schon Marx und Engels die Begrenztheiten eines rein auf das Lohnniveau fixierten Kampfes, was Lenin später zu seiner auf die Sozialdemokratie bezogenen Kritik des Ökonomismus veranlasste, wie sie unter anderem in "Was tun?" anzutreffen ist.

Wie wichtig das Verlassen des reinen Lohnkampfes ist, führte Marx in seiner Schrift "Elend der Philosophie" aus, in der er schrieb:

"Wenn der erste Zweck des Widerstandes nur die Aufrechterhaltung der Löhne war, so formieren sich die anfangs isolierten Koalitionen in dem Maß, wie die Kapitalisten ihrerseits sich behufs der Repression vereinigten zu Gruppen, und gegenüber dem stets vereinigten Kapital wird die Aufrechterhaltung der Assoziationen notwendiger als die des Lohns ... In diesem Kampf – ein veritabler Bürgerkrieg – vereinigen und entwickeln sich alle Elemente für eine kommende Schlacht. Einmal auf diesem Punkt angelangt, nimmt die Koalition einen politischen Charakter an. Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für die Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist die Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf ... findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf."

Das bedeutet, dass erst mit der Wandlung der Klasse von einem Proletariat an sich zu einem Proletariat für sich die Ebene des Kampfes für die individuellen Interessen verlassen wird und ein kollektiver, ein gegen die herrschende Gesellschaftsform gerichteter Kampf geführt wird – ein allgemein politischer Kampf, der natürlich auch andere Politikfelder besetzen kann. Ein Blick in die Geschichte genügt dabei, um zu erkennen, dass diese Wandlung nicht notwendigerweise nur im Betrieb stattfinden muss.

In seiner an der Universität gehaltenen "Kopenhagener Rede" führte Leo Trotzki 1932 aus, dass die Oktoberrevolution in Russland trotz einer immensen Unterentwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse möglich wurde, da mit dem Ersten Weltkrieg das Kapital einen Verteilungskampf um die weltweiten Märkte führte und dieser Krieg auch das unterentwickelte Russland mit in den Strudel zog, weshalb es als schwächstes Glied der Kette schließlich herausgesprengt wurde. Ähnliches wiederholte sich in China, wo mit dem Einmarsch japanischer Truppen Märkte für das japanische Kapital erobert wurden, gleichzeitig aber auch der KP China die Möglichkeit gegeben wurde, eine Entwicklung der politischen Bewusstwerdung der stark feudal geprägten Massen einzuleiten. Der reine, gegen die heimische Bourgeoisie gerichtete Betriebskampf wurde mit dem Langen Marsch eingestellt.

Wenn wir den derzeitigen gesellschaftlichen Zustand sowohl in Deutschland als auch in Westeuropa insgesamt betrachten, zeigt sich, dass sich die kapitalistische Gesellschaft seit Marx' Zeiten sowohl in Hinblick auf die Unterdrückten als auch in Hinblick auf die Unterdrücker extrem weiterentwickelt hat. Am einfachsten mag dies noch in Bezug auf das Kapital nachzuzeichnen sein. So ist nicht nur eine enorme Produktivitätssteigerung zu verzeichnen, die neben einem Anwachsen der produzierten Waren auch eine Ausweitung des kapitalistischen Marktes auf fast jeden Lebensbereich provozierte. Der Konsum bestimmt heute das Leben fast aller Menschen in den hochentwickelten kapitalistischen Staaten, selbst die von der Gesellschaft wenig zu erhoffen haben, finden im Konsum ihren Lebensinhalt, womit eine ideologische Festigung dieses Systems grade auch bei den Unterdrückten erreicht wird.

Die Ausweitung des kapitalistischen Marktes bewirkte aber auch eine Veränderung in der Klasse der Kapitalisten. Hier begegnet uns heute nicht mehr der dickbäuchige, golduhrtragende Kapitalist im Frack, wie er im 19. Jahrhundert auf vielen Plakaten zu finden war und ganzen Regionen seinen Namen aufdrückte. Dieser Typus eines Kapitalisten, wie es ein Flick, ein Stinnes oder ein Krupp war, existiert so nicht mehr. Diese Kapitalisten erinnerten mit ihren Attitüden noch sehr an Feudalherren, oft brachten sie noch Dynastien hervor, deren Nachkommen wie Könige mit römischen Zahlen versehen wurden. Heute dominiert ein anderer Typus, der eher anonym bleibt und weit zahlreicher vertreten ist als der alte Patron: der Aktionär. In den Aktiengesellschaften versammeln sich heute Millionen, die als Eigentümer der Produktionsmittel Anteile am Profit erwarten. In Italien werden Aktiengesellschaften mit dem Begriff "società anonima" bezeichnet, also mit "anonymer Gesellschaft". Dieser Begriff ist weit ehrlicher, sind doch die Namen der Aktionäre meist nur im Handelsregister zu finden. Einzig die Mitglieder der Vorstände und Aufsichtsräte treten hin und wieder an die Öffentlichkeit, wobei auch bei ihnen oft nur wenige Sprecher auftreten. Durch die Aktiengesellschaften hat sich der Kreis der Kapitalisten extrem ausgedehnt, als Beispiel hierfür mag die Anzahl der Millionäre in Deutschland gelten, die 1962 aufgrund fehlender Zahlen auf etwa 14 000 geschätzt wird, 1973 aber schon bei etwa 213 000 lag. Bis 1998 zog die Anzahl auf 1,5 Millionen Personen davon, die mindestens über eine Million Mark Vermögen verfügten.

In den Vorständen und Aufsichtsräten zeigt sich zudem eine weitere Neuerung, sind hier nicht nur die "eigentlichen" Kapitalisten versammelt, sondern auch Gewerkschaftsmitglieder und Politiker. So ist der Regierende Bürgermeister von Berlin qua Amt im Vorstand von Schering, der niedersächsische Ministerpräsident ist gleichzeitig Vorstandsmitglied bei VW, der IG-Metall-Vorsitzende sitzt automatisch im Vorstand von Daimler-Chrysler und, bis zum Verkauf, von Mannesmann. Mit dieser Verflechtung sind die einzelnen gesellschaftlichen Sektoren nicht mehr so stark abgegrenzt, der Staat, das Kapital und mit den Gewerkschaften sogar die Interessenvertretung der vom Kapital Abhängigen vermischen sich mit dem Ergebnis, dass die eigentlich unterschiedlichen Interessen ebenfalls verwischen. Diese Vermischung hat natürlich Konsequenzen für die Belegschaft, finden doch Streiks kaum noch statt, oder, wie im Falle der Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes Mitte der achtziger Jahre geschehen, es wird gegen den Angriff auf die gewerkschaftliche Organisierung gerade mal zu einem Warnstreik in der Mittagspause aufgerufen.

Waren zu Zeiten Karl Marx' die Überbauten kaum entwickelt und allenfalls mittels kirchlicher und weniger staatlicher Einrichtungen vorhanden, so entwickelte sich parallel zum Anwachsen der Produktivität auch dieser Bereich. Heute steht uns eine wahre Armada an Sozialwissenschaftlern, an Künstlern, an Journalisten oder an "mitgestaltenden Bürgern" gegenüber, die sofort bei Fuß stehen, wenn an irgendeinem Punkt dieser Gesellschaft ein Widerspruch sichtbar wird oder aber neue Angriffe auf den sozialen Standard den Anschein des Wissenschaftlichen – und damit des Notwendigen – erwecken sollen. Gerade die von Hartz und Rürup geführten Kommissionen dienen diesem Aspekt, und auch sie werden von den Medien mit einem wahren Dauerfeuer der Rhetorik abgefedert, nach dem – außer wenigen versteinerten Restlinken – die gesamte Bevölkerung nur so nach "Reformen" lechzt. Es war Antonio Gramsci, der diese Überbauten der Gesellschaft als "Schützengräben" bezeichnete, die der eigentlichen kapitalistischen Burg vorgelagert sind und vor ihrer Erstürmung eingenommen werden müssen. Hierzu bedarf es aber einer Linken, die sich zum einen ihrer Funktion bewusst ist, den Unterdrückten eine Perspektive zu vermitteln, zum anderen aber auch weiß, wie diese Gesellschaft geformt ist, wie sie funktioniert und wo die Unterdrückten zu finden sind.

Um zu zeigen, wie wichtig die Überbauten sind, mag hier als Beispiel der 1. Mai in Berlin dienen, der seit 16 Jahren der gesamten Gesellschaft aufzeigt, dass es einen Widerspruch gibt zum gern vermittelten Bild einer Zivilgesellschaft, deren eigentliche Basis immer noch die kapitalistischen Ausbeutung ist. Da der Widerspruch nicht geleugnet werden kann, stehen in verschiedenen Instituten Soziologen, Sozialpädagogen und sonstige scheinbare Wissenschaftler bereit, die diesen Konflikt mit ihren Interpretationen von "Abenteuerlust", von "Stärke erleben" oder "Gemeinsamkeit in Abgrenzung suchen" noch jeden politischen Inhalts berauben, in den Medien schließen sich die Journalisten bereitwillig an und schreiben von "Chaoten" und erzählen Märchen von Brandschatzungen, die nie stattgefunden haben. Schließlich erscheinen Künstler im Verbund mit angeblichen Bürgern, die "endlich ihren Kiez zurückhaben wollen". Im Mittelpunkt steht nun die sicherlich teilweise auch wirklich "inhaltsleere Randale", das "Ritual". Dass diese Inhaltsleere aber viel mit dem Bewusstseinsstand der Agierenden zu tun hat, der aufgrund fehlender Perspektiven eher individuelle Lösungen als aussichtsreich erscheinen lässt, wird dabei ebenso zur Seite geschoben wie die Tatsache, dass diese Jugendlichen eigentlich genau das machen, was ihnen die Gesellschaft beigebracht hat: der Stärkere, der Schnellere, der Bessere zu sein und sein Gegenüber an die Wand zu drücken. Konkurrenz statt Kollektivität. Von den eigentlichen Problemen in dieser Gesellschaft spricht am Ende schließlich niemand mehr, die Gesellschaft hat ihre Verantwortung für das Zustandekommen der teilweise unbewussten unddaher wenig politischen Handlungen der Agierenden abgestreift und überlässt die Beseitigung des Problems der polizeilichen Repression.

Die soziale Lage

Es ist bekannt, dass viele der Agierenden am 1. Mai Jugendliche aus immigrierten Familien sind. Mittlerweile wird diese Tatsache nicht mehr nur von der radikalen Linken vorgebracht, selbst die Berliner Polizeiführung und Vertreter der türkischen Gemeinde ebenso wie aus der Politik leugnen diesen Umstand nicht mehr. Die radikale Linke spricht in diesem Zusammenhang gern vom alltäglichen Rassismus, der diese Jugendlichen bewegt, am 1. Mai auf die Barrikaden zu steigen. Allerdings begrenzt die Linke ihren Rassismus-Vorwurf meist auf die sichtbaren Aspekte wie neonazistische Überfälle, Abschiebungen sowie die latent rassistische Gesetzgebung wie die Verweigerung des Wahl- und Arbeitsrechts. Die unterschiedlichen Lebenslagen, der Alltag also, ist der Linken meist nicht bekannt. Die Daten zur sozialen Lage aber sind das Material, mit dem verstanden werden kann, wie diese Gesellschaft strukturiert ist und wie sie funktioniert. So beklagt die Linke zwar eine rassistische Presse, die ständig über "kriminelle Ausländer" hetzt, sie ist aber nicht in der Lage, dieser Hetze mit den Sozialdaten zu begegnen. Im Bewusstsein der Linken ist nicht vorhanden, dass etwa jeder fünfte Immigrierte arbeitslos ist, während die Arbeitslosigkeit insgesamt "nur" jeden zehnten Erwerbsfähigen trifft. Diese Ungleichheit setzt sich auch bei der Sozialhilfe fort, die 9,1 Prozent aller Immigrierten beziehen, aber nur 3 Prozent aller Deutschen (siehe Tabelle II.3 und II.4) Jeder vierte Empfänger von Sozialhilfe hat damit keinen deutschen Pass. Am schlimmsten ist jedoch die Lage von Immigrierten im Bildungsbereich. Nicht mal jedes zehnte Kind aus einer immigrierten Familie erreicht die so genannte Hochschulreife, dafür aber finden sich über zwei Drittel dieser Kinder grade mal mit einem Hauptschulabschluss auf dem Arbeitsmarkt wieder. Auf die gesamte Bevölkerung bezogen ist das Bild genau umgekehrt: Hier finden 20 Prozent ihren Schulabschluss in der Hauptschule, 23 Prozent beenden die Realschule, 40 Prozent aber erlangen das Abitur.

Von staatlicher Seite wird gern behauptet, dass sich diese an sich schon miese Lage etwas gebessert hat im Vergleich zum Anfang der achtziger Jahre. Damals machte immerhin die Hälfte der Kinder aus immigrierten Familien gar keinen Schulabschluss, während deren Kinder heute "nur" noch zu 17 Prozent ohne Schulabschluss bleiben. Der entsprechende Anteil für die Gesamtbevölkerung liegt bei unter 3 Prozent. Obwohl das Problem der schlechteren Schulausbildung seit langem bekannt ist und sowohl die Konsequenzen, wie eine schlechtere Berufsperspektive, als auch die Gründe, wie die Alphabetisierung in einer Fremdsprache, häufig thematisiert wurden, fällt es diesem Staat immer noch nicht ein, wenigstens qualifizierte Sprachkurse für die Immigrierten anzubieten – Einrichtungen, die in einer Vielzahl anderer europäischer Länder längst zum Standard gehören.

Jedenfalls ist seit längerem belegt, dass ein schlechter Schulabschluss eher zu Arbeitslosigkeit führt als ein guter. So besitzen 13,3 Prozent der Sozialhilfe-Empfänger keinen Schulabschluss, einen Volks- oder Hauptschulabschluss haben 51,5 Prozent (ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt bei etwa 45 Prozent), einen Realschulabschluss 18,6 Prozent (31 Prozent der Gesamtbevölkerung), und eine Form der Hochschulreife 8,5 Prozent (22 Prozent der Bevölkerung).

Neben den Immigrierten sind auch Frauen in dieser Gesellschaft benachteiligt. Die Ungleichheit der Löhne ist dabei sicherlich der bekannteste Aspekt. Diese betrifft aber nur erwerbstätige Frauen, deren Anteil im Westen in den siebziger Jahren noch bei 46,4 Prozent lag, nun aber mit 55,4 Prozent über der Hälfte liegt. Im Osten lag ihr Anteil auch acht Jahre nach der Zerschlagung der Wirtschaftsstrukturen in der ehemaligen DDR immer noch leicht höher bei 56,6 Prozent, während zu Beginn der neunziger Jahre dieser Anteil noch 66,9 Prozent betrug (siehe Tabelle V.1). Diese Zahlen bedeuten aber auch, dass knapp die Hälfte aller Frauen materiell völlig abhängig ist von ihren Partnern. Diese Abhängigkeit drückt sich auch in den Zahlen zur so genannten geringfügigen Beschäftigung aus, die seit den neunziger Jahren einen regelrechten Boom erlebte. Waren im Westen 1987 von den 2,84 Millionen ausschließlich geringfügig Beschäftigten 60 Prozent Frauen, so erhöhte sich ihr Anteil in zehn Jahren auf 66 Prozent von nun 3,61 Millionen. Wie fatal diese Abhängigkeit wirken kann, zeigt sich jedoch, wenn die Partnerschaft zerbricht. Von allen Alleinerziehenden sind 84 Prozent Frauen. Viele von ihnen verlieren mit dem Ende der Partnerschaft auch ihre soziale Sicherheit. Grade in den ersten drei Lebensjahren des Kindes bietet die Gesellschaft Frauen kaum die Möglichkeit, Beruf und Familie in Einklang zu bringen. So sind grade mal 27 Prozent berufstätig. Ein Großteil der alleinerziehenden Frauen ist daher von der Sozialhilfe abhängig, nämlich 28,1 Prozent, die damit die mit Abstand größte Gruppe von Abhängigen bilden.

Da Deutschland aber ein Land ist, das reich ist an sozialen Kämpfen, ist erreicht worden, dass selbst die Unterprivilegierten zumindest nach offiziellen Statistiken ein relativ hohes Einkommen haben. So sollen nur zehn Prozent der alleinerziehenden Frauen von weniger als 1800 Mark monatlich leben. Dieses Einkommen macht natürlich stutzig, aber es sollte berücksichtigt werden, dass damit neben dem Lebensunterhalt wie Nahrung und Kleidung auch die Miete und sämtliche Nebenkosten für meist drei Personen bezahlt werden müssen plus die Kosten der Schulausbildung. Eine der acht offiziellen Armutsgrenzen wurde jedenfalls bei 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens festgemacht, das sind 1672 Mark monatlich (siehe Tabelle I.2 und I.3). Im Westen fielen 1998 17,2 Prozent unter diese Schwelle, im Osten waren es 29,6 Prozent, insgesamt also fast ein Fünftel der Bevölkerung. Ob diese offiziellen Zahlen eventuell etwas geschönt wurden, mag hier dahingestellt sein, für die radikale Linke wichtig ist dabei vielmehr ein Blick ins eigene Portemonnaie. Ein Großteil der Linken wird dabei jedenfalls feststellen, ebenfalls unter die Armutsgrenze zu fallen ebenso wie das persönliche Umfeld.

Ein weiterer Blick, diesmal auf das jährliche mittlere Nettoeinkommen, genügt dagegen, um die Faust zu ballen. Dieses wurde 1998 nämlich auf 42 523 Mark pro Person fixiert, das mittlere Nettoeinkommen eines Haushalts lag sogar bei 61 800 Mark. Es sind wohl wenige in der Linken, die über dieses Einkommen verfügen beziehungsweise jemanden kennen, der über dieses Einkommen verfügen kann. Fallen knapp 20 Prozent unter die offizielle Armutsgrenze, so verfügen gerade mal 6,7 Prozent der Bevölkerung über ein Nettoeinkommen, das 200 Prozent über dem Mittelwert liegt, nämlich bei 85 047 Mark. Die fünf Prozent Reichsten haben dabei ein Einkommen von mindestens 94 510 Mark, knapp 222 Prozent über dem Mittelsatz. Allein das mittlere Einkommen dieser 6,7 Prozent beträgt 156 632 Mark – fast ein Viertel der gesamten Einkommen. Diese Zahlen zeigen, wie stark sich die Klasse der Kapitalisten ausgeweitet hat, machen diese 6,7 Prozent doch fast zwei Millionen Personen aus. Von diesen zwei Millionen verfügten 1995 übrigens 12 707 über ein Nettojahreseinkommen von mindestens einer Million Mark. Bruttoeinkommensmillionäre gab es 27 230 in diesem Land (siehe Tabelle I.6).

Die Höhe des Einkommens bestimmt natürlich auch den Umfang des Vermögens. Zur Ermittlung der Vermögensverteilung teilen offizielle Statistiken gern die Bevölkerung in fünf gleich große Teile auf. Dabei fällt auf, dass das ärmste Fünftel im Westen gerade mal über ein Barvermögen von 2000 Mark verfügt. Hinzu kommen eine Lebensversicherung, die grade mal 1200 Mark wert ist, und eine Immobilie, deren Wert im Durchschnitt dieses Fünftels 1600 Mark beträgt. Das gesamte Bruttovermögen dieses Fünftel beträgt pro Kopf also 4800 Mark. Auf dieses Vermögen werden nun aber noch die Schulden angerechnet, die mit dem Kauf der Immobilie anfallen beziehungsweise sich aus dem Konsumverhalten, etwa dem Kauf eines Autos, ergeben. Diese Schulden belaufen sich im Schnitt auf 8800 Mark, das heißt, jeder Mensch dieses Fünftels besitzt gar kein Vermögen, sondern ist mit 4000 Mark verschuldet. Im Osten ist dieses Fünftel mit 2000 Mark pro Kopf verschuldet. Das reichste Fünftel besitzt demgegenüber im Westen nach Abzug der Schulden ein Vermögen von offiziell 804 000 Mark pro Kopf, im Osten besitzen sie 315 300 Mark (siehe Tabelle I.10). Aufgrund des hohen Anteils an Auslandskonten und an Schwarzgeld sind sie inoffiziell sicher noch reicher. Während die Reichsten im Westen 63,4 Prozent (Ost: 71,3 %) des gesamten Vermögens besitzen, haben die Ärmsten einen Anteil von minus 0,3 Prozent (Ost: -0,5 %). Nach Aussage des schleswig-holsteinischen Landesvorsitzenden der SPD, Claus Möller, besaßen 1998 allein die 100 Reichsten in Deutschland zusammen ein Vermögen von 240 Milliarden Mark, das ist in etwa die Hälfte des Bundeshaushalts.

Neben der Höhe des Vermögens ist die Entwicklung der einzelnen Vermögenswerte hochinteressant. Leider gibt es hier nur Angaben zu Arbeitern und Angestellten zusammen, was die Statistik sicher etwas verwischt. Dennoch sind diese Zahlen sehr aufschlussreich, zeigt sich hier doch, dass das altbekannte Sparbuch bei Arbeitern und Angestellten schon 1962 recht beliebt war, denn immerhin 63 Prozent besaßen eins. Mit dem Ansteigen der Löhne zum Ende der sechziger Jahre nahm die Zahl der Sparbuchbesitzenden sprunghaft auf 92 Prozent zu. Ein Stand, der sich in den Siebzigern nur noch leicht auf 95 Prozent erhöhte und auch nach der Wiedervereinigung bis 1993 im Wesentlichen gehalten werden konnte (92 Prozent). Mit dem ab Mitte der neunziger Jahre einsetzenden Börsenboom nimmt jedoch die Zahl der Besitzer eines Sparbuchs rapide ab auf 79 Prozent im Jahr 1998. Gleichzeitig steigt die Anzahl der Besitzer von Wertpapieren von etwa 7 Prozent (1962) bis 1988 stetig auf 36 Prozent und schnellt 1993 auf 48 Prozent hoch. Was nach 1998 an den Börsen passierte, dürfte allen bekannt sein, ein Großteil der Vermögen der Arbeiter und Angestellten wechselten an den Börsen den Besitzer.

Neben Sparbuch und Wertpapieren sind aber noch die Daten zu Bausparverträgen und Immobilien interessant. Hier zeigt sich, dass 1962 erst 13 Prozent ein Bausparguthaben besaßen, sieben Jahre später hatte sich dieser Wert schon mehr als verdoppelt (27 Prozent). Schon Ende der siebziger Jahre waren mehr als die Hälfte aller Arbeiter und Angestellten (52 Prozent) Inhaber eines Bausparvertrages. Dieser Wert hat sich seitdem nur noch unwesentlich verändert, nämlich auf 56 Prozent 1998. Die Daten für den Immobilienbesitz sehen ähnlich aus. Hier weist die Statistik 31 Prozent für das Jahr 1962 aus, 1973 sind es 39, fünf Jahre später jedoch schon 47 Prozent. 1983 wird der Höhepunkt mit 50 Prozent erreicht. Aufgrund der Wiedervereinigung zeigt sich nun ein leichter Abschwung auf 48 Prozent (1993), der aber 1998 fast schon wieder ausgeglichen ist (49 Prozent). Auch wenn ein Großteil der Besitzenden eher im Angestelltenbereich als bei den Arbeitern zu finden sein wird, verdeutlichen diese Zahlen, dass mindestens die Hälfte der abhängig Beschäftigten mehr zu verlieren hat als nur die berühmten Ketten.

Die Option auf oder der Besitz von Immobilien hat sicherlich bei vielen Klassenangehörigen zu einer Identifizierung mit dem kapitalistischen System geführt. Das Gleiche kann für das allgemeine Konsumverhalten gesagt werden. Heutzutage ist es kaum noch vorstellbar, kein Handy zu besitzen, die neusten Klamotten usw. Selbst bei Kindern ist der Konsumwunsch stark ausgeprägt. Zur Identitätsfindung zählt nicht mehr die Persönlichkeit, sondern der Besitz. Um den Drang nach Konsum zu befriedigen, verfallen viele auf die Idee, Schulden aufzunehmen. So befinden sich die Überschuldungsfälle auf einem konstant hohen Niveau, 1989 bei 1,2 Millionen Fällen, 1998 bei 1,9 Millionen (West) und 0,89 Millionen (Ost). Die Schulden, bei denen noch eine Hoffnung auf Abbau besteht, sind hierbei noch gar nicht erfasst.

Der Anstieg der Verschuldung konnte auch nicht mit der Steigerung der Einkommen aufgefangen werden. Diese haben sich seit Ende der sechziger Jahre stark erhöht. So lag die Armutsgrenze noch 1973 bei 589 Mark. Nur zehn Jahre später hatte sich diese Grenze schon fast verdoppelt auf 1054 Mark und stieg danach im Westen weiter bis 1998 auf 1754 Mark monatlich. Bei Löhnen und Gehältern ist eine ähnliche Tendenz zu beobachten. Hier stiegen die Einkommen durchschnittlich von 981 Mark im Jahr 1973 auf 2924 Mark im Jahr 1998 – nominal versteht sich, denn real, also in Bezug auf den Anstieg der Preise, sind die Einkommen nur von 2039,50 Mark auf 2808,84 Mark gestiegen. (siehe Tabelle I.4).

Interessant an der Entwicklung der Einkommen ist die zeitlich etwas versetzte Entwicklung der Arbeitslosigkeit, die ansonsten aber recht parallel verläuft. So waren 1973 grade mal 1,2 Prozent der Erwerbspersonen oder wenige Hunderttausend ohne Arbeit, aber schon 1975 wird die Eine-Million-Marke überschritten. Nach einem leichten Abschwung 1980 mit 3,8 Prozent auf ca. 900 000 schnellt bis 1983 die Arbeitslosenzahl auf 9,1 Prozent hoch und überschreitet 1985 die Zwei-Millionen-Marke. Mit der Wiedervereinigung erlebt der Westen noch einmal einen Boom, aber schon 1997 sind im Jahresdurchschnitt drei Millionen arbeitslos, aktuell sind es 4,5 Millionen. Die offizielle Statistik geht dabei vor allem von den beiden Ölkrisen der siebziger Jahre als Verursacher der Arbeitslosigkeit aus. Nicht berücksichtigt werden hierbei aber der zunehmende Grad der Technologisierung der Produktion, der ganze Belegschaften überflüssig macht, und vor allem aber, dass ab Mitte der siebziger Jahre eine starke Auslagerung von Produktionsstätten vor allem nach Spanien und Portugal stattfand. In Italien wurde diese Auslagerung sogar von Kapitalistenseite mit der hohen Kampfbereitschaft des Proletariats begründet. Für die BRD kann deshalb davon ausgegangen werden, dass die Steigerung der Löhne oberflächig zwar akzeptiert wurde, gleichzeitig jedoch mit der Verlagerung der Produktionsstätten versucht wurde, die Lohnentwicklung aufzuhalten und einen Teil der Beschäftigten einfach zu entlassen. Wie weit sich der Produktionssektor mittlerweile europäisiert hat, zeigt sich jedenfalls an den Fernfahrerstreiks in Frankreich, bei denen regelmäßig die Endfertigung in Deutschland zusammenbricht.

Mit der zunehmenden Arbeitslosigkeit hat auch die Langzeitarbeitslosigkeit stark zugenommen. Diese war 1973 praktisch kaum vorhanden und lag gerade mal bei 0,1 Prozent aller Erwerbspersonen. Aber schon 1980 hat sich ihre Anzahl mehr als versechsfacht auf nun 106 000. Nach der Wiedervereinigung sind es 1992 im Westen 474 000, im Osten 271 000. Zum Ende der neunziger Jahre wird schließlich die Millionengrenze locker überschritten, allein im Westen leben nun schon 1,032 Millionen Langzeitarbeitslose, im Osten kommen noch mal 424 000 hinzu. Über ein Drittel aller Arbeitslosen ist nun schon längere Zeit ohne Job und bezieht höchstens eine Arbeitslosenhilfe. Seltsamerweise wird die Höhe der Arbeitslosenhilfe statistisch nicht erfasst, allerdings liegen für das Jahr 1997 Angaben zum Einkommen der Haushalte vor, in denen zumindest ein Mensch lebt, der Arbeitslosenhilfe bekommt. Hier zeigt sich, dass knappe 18 Prozent dieser Haushalte von weniger als 1000 Mark leben mussten, mehr als ein Drittel verfügte über ein Einkommen bis 1999 Mark. Weitere 30 Prozent dieser Haushalte hatten sogar ein Nettoeinkommen bis zu 2999 Mark. Da die Arbeitslosenhilfe im Zuge der so genannten Hartz-Pläne abgeschafft werden soll, wird die soziale Lage dieser Haushalte sich rapide verschlechtern.

Im Durchschnitt ist jeder Arbeitslose 9,3 Monate ohne Job (siehe Tabelle V.3). Da die Arbeitslosenzahlen aber seit geraumer Zeit auf einem hohen Niveau von über vier Millionen liegen, bedeutet das, das die Zahl der von Arbeitslosigkeit Betroffenen weit höher liegen muss. Wahrscheinlich sind es zwölf Millionen, die sich im Lauf von vier Jahren auf den Arbeitsämtern abwechseln. Da die wenigsten Arbeitslosen nach dem Stempeln einen Job finden, bei dem sie dasselbe Einkommen erhalten wie vor der Arbeitslosigkeit, zeigt sich, dass die Entlassungen auch zum Lohndrücken eingesetzt werden. Hinzu kommt die Vielzahl an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die als zweiter und dritter Arbeitsmarkt gehandelt werden und wo von vornherein weniger Lohn gezahlt wird. Neben dem Lohndrücken dient die Arbeitslosigkeit aber auch dazu, ungarantierte, allerhöchstens auf zwei Jahre befristete Arbeitsverhältnisse einzuführen. Diese Entwicklung hat in den neunziger Jahren Ausmaße angenommen, so dass heute in Berlin beispielsweise weniger als die Hälfte aller abhängig Beschäftigten über einen normalen tariflich abgesicherten und garantierten Arbeitsplatz verfügt.

Neben der Arbeitslosenhilfe ist die Sozialhilfe zu einer wichtigen Erwerbsquelle für viele Abhängige geworden. Waren es 1973 etwa 600 000, die Sozialhilfe bekamen, sind es heute 2,5 Millionen, das sind 3,5 Prozent der Bevölkerung (siehe Grafik II.1). Allein 1,1 Millionen Kinder erhalten in diesem Land Sozialhilfe oder 6,8 Prozent aller Unter-18-Jährigen. Während 3,2 Prozent aller Männer Sozialhilfe bekommen, sind es bei den Frauen 3,8 Prozent. Deutsche erhalten zu 3,0 Prozent diese Hilfe, Immigrierte zu 9,1 Prozent, von denen ein Großteil wiederum wegen der Asylgesetzgebung nicht mal den vollständigen Satz eines Deutschen bekommt (siehe Grafiken II.3 und II.4).

Die Einkommensverhältnisse haben natürlich Konsequenzen für das Bildungsniveau der Kinder. Eine Untersuchung 14-jähriger Schülerinnen und Schüler im Zeitraum von 1986 bis 1996 brachte zu Tage, dass die Kinder von Arbeiterinnen und Arbeitern ähnliche Schultypen besuchten wie die Kinder von Erwerbslosen. Mehr als die Hälfte ging zur Hauptschule, nicht einmal 30 Prozent machten ihren Abschluss an einer Realschule, aber gerade mal etwas mehr als jeder Sechste versuchte den Abschluss an einem Gymnasium.

Demgegenüber waren Angestelltenkinder fast zur Hälfte auf einem Gymnasium, über ein Drittel besuchte eine Realschule, und nur jeder Sechste ging zur Hauptschule. Auch die Kinder von Selbstständigen wiesen eine ähnliche Verteilung auf, wenngleich hier noch jedes vierte Kind die Hauptschule besuchte, die Realschule aber im gleichen Umfang wie bei Arbeiterkindern frequentiert wurde. Die Kinder von Beamten aber sprengen jeden möglichen Vergleich: Hier ist nicht einmal jedes zehnte Kind auf der Hauptschule zu finden, etwas mehr als jedes sechste Kind geht in die Realschule, aber drei von vier Beamtenkindern gehen wie selbstverständlich aufs Gymnasium (siehe Grafik IV.1). Bei dieser ungleichen Schulausbildung zeigt sich natürlich, dass die Studierenden nur zu etwa 13 Prozent Arbeiterkinder sind. Dieser Prozentsatz ist im Westen seit Anfang der siebziger Jahre im Wesentlichen unverändert geblieben. Allerdings zeigt sich, dass mit der sozialliberalen Bildungsreform in den Siebzigern nun überwiegend Angestelltenkinder an die Hochschulen drängen, deren Anteil sich von zunächst 34,6 Prozent (1973) auf fast 45 Prozent erhöht hat. (siehe Grafik IV.3) Dieser Anstieg ist der einzige Grund, warum der Anteil der Kinder von Selbstständigen und Beamten an den Hochschulen gegenüber den siebziger Jahren leicht abnahm. Mit der seit den achtziger Jahren registrierten Abnahme der Bafög-Förderung wird sich die Ungleichheit der Ausbildung und damit der Berufsperspektiven sicherlich nicht bekämpfen lassen. Im Gegenteil wird sie von Generation zu Generation weitergegeben.

Kommen wir zum Abschluss noch zu einem letzten Aspekt: der Gesundheitsversorgung. Sowohl die von Rot-Grün eingesetzte Rürup-Kommission als auch die Herzog-Kommission der Union wollen das bisherige Gesundheitssystem derart beschränken, dass in Zukunft nur noch Reiche von einer wirklichen Gesundheitsversorgung sprechen werden können. Die aufgezwungene Selbstbeteiligung wird in einem Ausmaß ausgeweitet, dass viele sich keine umfassende Versorgung mehr leisten können. Dies wird – analog zu einigen EU-Ländern – dazu führen, dass Reichtum und Armut schon am Gebiss zu unterscheiden sein werden. Die Kostenexplosion wird dabei nicht durch eine Begrenzung der Gewinne der Pharmafirmen erreicht, die wie eine regelrechte Mafia durch Bestechung seit Jahrzehnten schon die teuersten Medikamente Ärzten und Kliniken verkaufen, sondern mithilfe der Ausgrenzung weiter Teile der Bevölkerung von der Versorgung. Bei Ärzten und Pharmafirmen scheint dabei die Berechnung zu bestehen, dass der Anteil an Reichen derart hoch bleiben wird, dass Gewinne noch zur Genüge eingefahren werden können.

Was ist zu tun?

Mit den postulierten Streichungen à la Hartz und Rürup wird die soziale Schere noch weiter auseinander gehen. Die Herrschenden sind anscheinend der Meinung, dass eine Armutsgrenze bei 1672 Mark auf einem derart hohen Stand ist, dass hier locker mal gekürzt werden kann (siehe Tabelle I.2 und I.3). Selbstverständlich gilt das auch für die hohen Löhne in garantierten Arbeitsverhältnissen. Wenn VW zum Beispiel nun beginnt, die Belegschaft in befristeten und oft auch ausgeliehenen Arbeitsverhältnissen zu organisieren, zeigt dies, dass die Konsumfähigkeit großer Teile der Bevölkerung eingeschränkt werden soll. Dass diese Einschränkung nicht ohne Protest durchgesetzt werden kann, ist auch schon im Hartz-Konzept dargestellt. Natürlich wird jeder Überbau mobilisiert, um einen möglichen Protest einzugrenzen oder, wie zu Beginn der neunziger Jahre in der ehemaligen DDR schon geschehen, auf Minderheiten umzulenken. Bereits heute trägt die Hetze gegen vermeintliche Sozialamtsbetrüger rassistische Züge. Ein Bild, das mit der Berichterstattung über "kriminelle Ausländer" noch verstärkt wird. Wenn die radikale Linke ähnlich lethargisch agiert wie bei der Zerschlagung der Wirtschaftsstrukturen der DDR, wird sich wie in den neunziger Jahren eine Welle des rechtsradikalen Mobs über das Land ergießen.

Wenn die radikale Linke auf diesem Feld aktiv wird, begibt sie sich allerdings auf eine Gratwanderung, da die aus der Einschränkung der Konsumfähigkeit sich entwickelnde Wut natürlich auch egoistische Züge trägt. Allerdings erzeugt diese Wut auch eine Sensibilisierung, die die Linke nutzen kann, um die Wut auf die richtige Adresse umzulenken. Dabei kann die Linke auf den hohen Entwicklungsgrad dieser Gesellschaft zurückgreifen, denn die dereinst wahrscheinlich als goldene Jahrzehnte in die Geschichte eingehenden 30 Jahre seit 1970 haben bei vielen ein hohes Bildungsniveau und – damit verbunden – auch einen hohen Bewusstseinsgrad erzeugt. Viele, die jetzt ausgegrenzt werden sollen, besitzen ein Potenzial, das sie befähigt, die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu erkennen. Solange aber die Studierenden beispielsweise nur streiken, um Studiengebühren abzuwenden, nicht aber beginnen, ihr erlangtes Wissen den Unterprivilegierten zu vermitteln, wird sich an den herrschenden Zuständen wenig ändern.

Darüber hinaus muss die Linke aber auch fähig sein, sich von alten Dogmen zu trennen. Dazu gehört sicherlich auch die Fixierung auf das Industrieproletariat. In dieser entwickelten Gesellschaft finden sich heute gewerkschaftlich organisierte Arbeiter, die tariflich abgesichert sind und über ein derart hohes Einkommen verfügen, dass ihr Interesse an einer Systemveränderung nur minimal ist. Gleichzeitig aber finden sich Selbstständige, die in einer Art Selbstausbeutung ständig in der Gefahr leben, ihre Existenz nicht mehr genügend absichern zu können. Es ist daher mehr denn je notwendig, nicht nur die Stellung im Produktionsprozess zu berücksichtigen, sondern auch die Privilegierung, in der ein Mensch lebt. Und dies betrifft sowohl das Proletariat als auch um ihre Emanzipation kämpfende Frauen. Wir werden jedenfalls weder den abgesicherten Betriebsrat von Siemens noch eine Angela Merkel von unseren Positionen überzeugen, denn beide bieten allenfalls egoistische Lösungen an. Auf die unterschiedlichen Unterdrückungsverhältnisse einzugehen bedeutet freilich aber nicht, auf eine antikapitalistische Kritik zu verzichten. Denn schließlich sind es – wie oben schon erwähnt – kapitalistische Verhältnisse, die die Geschicke jedes Menschen hier bestimmen und nicht rassistische oder patriarchale. Diese sind Ideologien, die der Kapitalismus heutzutage benutzt, um seine Herrschaft abzusichern. Die radikale Linke muss lernen, zwischen der Funktionsweise dieses Systems und seiner Vielzahl an Unterdrückungsverhältnissen zu unterscheiden. Die einzelnen Unterdrückungsverhältnisse brauchen dabei nicht in Konkurrenz zueinander gestellt werden.

Wie falsch die Fixierung auf das Industrieproletariat darüber hinaus ist, zeigt sich schon allein an den Ereignissen zum Ende der DDR. Das Proletariat in der DDR war der ständigen Verlautbarungen vermeintlicher Verbesserungen müde und entschied sich, wenn es schon ausgebeutet wird, dann doch für das Original, das bis zur Wende einen höheren Lebensstandard versprach. Dass dieser Lebensstandard viel mit der Existenz des Systemkonkurrenten zu tun hatte, erkannte das Proletariat nicht. Umso verwunderter ist es heute, wenn dieser Standard gesenkt wird. Bei dieser Sicht wird allerdings vergessen, dass dieser Standard nie für alle Arbeitenden gegolten hat, das Elend in den Minen, den Schuhfabriken und auf den Plantagen der Dritten Welt macht dies überdeutlich. Um egoistischen Lösungen wie dem Nationalismus vorzubeugen, muss die Linke daher immer auch die internationalen Verhältnisse berücksichtigen. Die Geschichte hat zudem gezeigt, dass es einer kommunistischen Linken kaum gelingt, in den Betrieben ihre Agitation entfalten zu können. Sofort steht das Kapital bereit, die Entlassung einer Kommunistin oder eines Kommunisten durchzuführen, sobald die Agitation nicht nur auf die Lohnentwicklung beschränkt wird. Die meisten sozialdemokratischen Betriebsräte haben diese Entlassungen bis jetzt immer noch unterstützt. Zudem sind aus den Siebzigern noch die Berufsverbote bekannt, die zumindest in Form von Schwarzen Listen immer noch weitergeführt werden. Da mit den ungarantierten Arbeitsverhältnissen aber sowieso der Organisationsgrad der Arbeitenden weiter abnehmen wird, sollte sich die Linke vor allem auf die Stadtteile konzentrieren, denn hier sind alle Unterdrückten, ob zurzeit arbeitslos oder nicht, ob mit oder ohne deutschen Pass, Frau und Mann, anzutreffen. Hier ist es möglich, in einer Art proletarischen Selbsthilfe beispielsweise die Bildungsmisere zu bekämpfen, wobei gleichzeitig auch erklärt werden kann, warum sie existiert. Ähnlich agierte die Black Panther Party in den USA, die in den Ghettos neben der Müllabfuhr auch eine Frühstücksspeisung anbot und damit das Vertrauen der Unterdrückten gewann. Diese Stadtteilstrukturen ermöglichen es auch, mit der Zeit eigene Überbauten aufzubauen, um den Alltag solidarisch zu gestalten. Die radikale Linke hat hierzu einen wahrhaft reichhaltigen Schatz an Erfahrungen anzubieten, der nur gehoben werden braucht. Erinnert sei an dieser Stelle nur an die Roten Märkte im neapolitanischen Montesanto oder aber die verschiedenen Kulturgruppen, die bei einer Bündelung, auch auf die gesamte Gesellschaft ausstrahlen können. Mit "Rock gegen rechts" hat das früher zumindest schon mal ganz gut geklappt. Schließlich erlauben diese Stadtteilstrukturen auch, eigene “Schützengräben” aufzubauen, mit denen die kapitalistische Burg belagert werden kann.

Editorische Anmerkungen:

Der Text wurde der Zeitschrift INITIAL 6-03 entnommen. Der Autor stellt ihn dort zur Debatte. Er ist eine Spiegelung von
http://www.geocities.com/initialnet/debatte06.html