"Wir sind Papst!" behauptet die Bildzeitung seit dem 19. April 2005 allen Ernstes
Warum in der aufgeklärten Demokratie immer noch ein Bedürfnis nach dem religiösen Wahn herrscht

von Red. GegenStandpunkt
06/05

trend onlinezeitung
Da stirbt der Oberpriester einer Religionsgemeinschaft, die glaubt, ein angeblich vor 2000 Jahren hingerichteter Wanderprediger sei 1. Gott gewesen, 2. nach dem Tode wieder auferstanden und 3. sitze er jetzt im Himmel, von wo aus er 4. seine Anhänger bis auf den heutigen Tag begleitet, bewacht und stärkt. Der Tod ihres "Heiliger Vater" genannten, diktatorisch alleinregierenden, in allen Glaubensfragen als "unfehlbar" geltenden sogenannten "Stellvertreters Gottes auf Erden" wird vom Fernsehen live übertragenen. Unter ritueller Beschwörung einer "Heiliger Geist" genannten Variante ihres Gottes wählen die ranghöchsten Gurus der Sekte einen neuen geistigen Führer. Darüber wundert sich im 21. Jahrhundert die auf- und abgeklärte Menschheit mitnichten. Verwunderlich ist allerdings der Rummel, den der Rest der Welt darum macht: Wochenlang sind alle Fernsehkanäle mit der Inszenierung von Agonie und Apotheose des alten Amtsinhabers und dem Ritual der Thronfolge in Rom verstopft, alle sonstigen Hauptmeldungen fallen unter "ferner liefen". Es findet sich darüber hinaus in allen Gegenden, die der dreifaltigen Gottheit huldigen, genug katholisches und nichtkatholisches Volk, das sich religiöser Verzückung hingibt, oder jedenfalls weiß, was es den überall präsenten Fernsehkameras schuldig ist: Millionen moderner freier Bürger weinen, zeigen alle Zeichen von Verzweiflung angesichts der Todesmeldung, schreien und klagen bei der Totenmesse und applaudieren dem Holzsarg, sobald er an ihnen vorübergetragen wird. Eine gute Woche später wird den Gläubigen auf dem Petersplatz der neue Chef präsentiert, und die gleichen Menschen wissen vor Freude nicht mehr aus noch ein: Sie lachen, weinen, tanzen, schwenken Nationalflaggen. Noch länger hätten sie die Zeit ohne einen höchsten Vertreter Gottes auf Erden nicht ausgehalten - ein Leben ohne Papst, so sieht es aus, ist wirklich nicht lebenswert.

Nach all dem wollen wir nichts mehr davon hören, dass ein angeblich modernes Abendland den zurückgebliebenen Moslems die "Aufklärung" voraus hätte. Vor kurzem noch vermeldete der SPIEGEL mit viel Verständnis für den Anti-Terror-Krieg des Westens, der Islam bedrohe die ganze Menschheit mit seinem fundamentalistischen Streben nach dem Gottesstaat. "Islam: Allahs blutiges Land" hieß die Schlagzeile. Jetzt begleitet dasselbe Organ die Pilgerreise der westlichen Staatenlenker nach Rom - ganz unironisch! - mit folgendem Nachruf auf den toten Papst: "Der Papst ist die globalisierte moralische Instanz. Er rief auf, im Menschenstaat den Gottesstaat zu errichten.". Der Kernvorwurf gegen islamische Fundamentalisten lautet, dass sie sich aus religiösen Überzeugungen heraus anmaßen, Politik zu machen und Staaten zu unterminieren. Genau dasselbe wird beim verstorbenen polnischen Papst als eine seiner größten Leistungen gerühmt: Die christlich-abendländische Welt auf beiden Seiten des Atlantiks hält ihm zugute, beim Sturz der kommunistischen Staaten Osteuropas kräftig mitgeholfen zu haben. Es kommt also offensichtlich sehr darauf an, welcher weltlichen Macht der Fundamentalismus zu Diensten ist: "Unser" christlicher Fundamentalismus ist einfach unwidersprechlich und gut, der der anderen ist gefährlich!

Wer gläubig ist, sich als Diener eines himmlischen Herrn bekennt, der führt deswegen kein sehr viel anderes bürgerliches Leben als seine gottlosen Zeitgenossen. Der hat genau wie die genug damit zu tun, dass er das Notwendige erledigt kriegt: Der Gelderwerb vollzieht sich nach den harten Regeln der "freien Marktwirtschaft" und wird belebt durch die Konkurrenz um den beruflichen Auf- und gegen den sozialen Abstieg. Beim Bemühen um die privaten Genüsse, für die der ganze Aufwand sich lohnen soll, ist viel sachgerechtes Sich-Einteilen gefragt. Christen wie Nicht-Christen tun, was ihnen durch Recht und Gesetz und die dadurch in Kraft gesetzten ökonomischen Sachzwänge und durch die Vorschriften ihres Sozialstaats, durch Markt und öffentliche Meinung als fix und fertige "Lebenswelt" vorgegeben ist. Die Erfolge, nach denen sie streben und zu denen sie es immer nicht recht bringen, sind dieselben. Und auch die Deutungen dessen, was sie sich in ihrem täglichen Leben einhandeln, sind dieselben: Glück haben meistens die andern; die Verdienste, die man sich erwirbt, werden einem selber nie angemessen vergütet, und überhaupt wird einem ständig die Gerechtigkeit vorenthalten. Auf diese Weise begleiten die Leute, Jesus-Fans ebenso wie praktizierende Heiden, ihr ganzes bescheidenes Leben mit ihrer moralischen Unzufriedenheit. Darin also unterscheiden sich weder die Christen von Moslems so übermäßig noch die Frommen von ihren ungläubigen Mitbürgern.

Wer aber gläubig ist, der denkt sich zu alledem noch seinen Teil, nämlich eine allgegenwärtige Autorität oberhalb und jenseits aller wirklichen Chefs und Machthaber. Diese jenseitige Autorität fordert bedingungslosen Gehorsam gegenüber den von ihr erlassenen Regeln für eine anständige Lebensführung - und diese Regeln sind im Endeffekt keine anderen als die sowieso allgemein geltenden. Diese "Gott" genannte Autorität führt zugleich im Hintergrund die Regie über alles Leben, fällt an dessen Ende ein gnadenlos gerechtes Urteil und stellt dem Erdenwurm eine unendlich gnädige Quittung aus. Fromme Menschen pflegen also eine äußerst grundsätzliche Knechtsgesinnung, aber dafür winkt ihnen als wunderbare Belohnung ein ebenso grundsätzliches Freiheits- und Überlegenheitsbewusstsein: Im seinem tiefsten Innern ist der Gläubige keiner anderen Instanz verpflichtet und rechenschaftspflichtig als seinem jenseitigen Herrn. Davor verblassen alle irdischen Obrigkeiten; Bevormundung, Unterdrückung, ungerechte Beurteilungen in seinem Leben vor dem Tod kann die fromme Seele an sich abtropfen lassen - und alle materiellen Drangsale und Entbehrungen sowieso -, weil sie in letzter Instanz nur Gottes Urteil fürchten muss. Vom Standpunkt des Allerhöchsten aus ergeht über alles und alle ein absoluter, unanfechtbarer Schuldspruch - und an den Gläubigen das Versprechen einer jenseitig wirksamen Begnadigung nach dem Tod, sofern er sich im Diesseits nur gottgefällig aufführt.

Die Welt religiöser Einbildungen, der dazugehörige Zauber und das Außer-Sich-Sein ist hierzulande also weder ausgestorben, noch bloße Privatsache. Wenn die Staatschefs aller imperialistischen Großmächte die "Lebensleistung" und das "Charisma" des toten Woytila in den höchsten Tönen loben und die Zeit finden, ihm die letzte Ehre zu erweisen, dann dokumentieren sie damit ihr großes Interesse an den irdischen Leistungen der leitenden Gottesmänner. Sie sind interessiert an der weltlichen Funktionalität der Gläubigkeit ihrer freien und mündigen Bürger. Die sollen sich nämlich in dieser Welt auf alle rechtsgültigen Vorschriften und herrschenden Sachzwänge konstruktiv einstellen und nur in den vorgesehenen Bahnen ihren materiellen Erfolg suchen. Dass für die übergroße Mehrheit der Leute dieser Erfolg nie zustande kommt, weil sie als Kostenfaktor der herrschenden Interessen ihrer Arbeitgeber kalkuliert sind, führt bei gläubigen Menschen nicht zum Willen zur Abschaffung der Verhältnisse, die sie immer zu nichts kommen lassen, sondern zum Bedürfnis nach Kompensation: Einem höheren Lebenszweck jenseits des irdischen Jammertals verpflichtet zu sein, spendet dem Gläubigen den Trost für den weltlichen Misserfolg. Mehr noch: Im Jenseits liegt für den Gottesfürchtigen die eigentliche Bestimmung des Erdenmenschen. Durch diese Aussicht wird der gläubige Mensch reif dafür, alle Beschwernisse geduldig zu ertragen, die ihm das tägliche Leben im Kapitalismus reinsemmelt - genau so machen sich Leute auf Dauer und widerspruchslos zu den nützlichen Idioten, als die sie von ihren Herren vorgesehen und eingeplant sind.

Das geistige Bedürfnis nach einer gläubigen Sinnstiftung pflegen und bedienen im christlichen Abendland die Kirchen. Äußerst konstruktiv vermitteln sie ihren Anhängern, die sich in Anlehnung an ein Bild des Religionsstifters auch noch freiwillig Schafe nennen, eine positive Grundeinstellung zu den Opfern, die ihnen der alltägliche Kapitalismus und dessen nationale Standortverwaltung auferlegen. Dabei funktioniert die römisch-katholische Kirche derzeit ganz offenbar zur vollsten Zufriedenheit der demokratischen Weltmächte mit ihrem globalisierten Kapitalismus. Das bezeugt auf denkbar nachdrückliche Weise deren heftige Anteilnahme am Wachwechsel auf dem "Stuhl Petri".

Eine letzte Klarstellung zur Trennung von Kirche und Staat und zum rein privaten Charakter religiöser Überzeugungen liefert anlässlich der gelungenen Papstwahl die freiheitlich-demokratische Berliner Republik. Sie gerät kurzzeitig außer Rand und Band, beflaggt ihre Amtsgebäude und Polizeireviere. Die erste Garde der Politik begibt sich an der Spitze einer Heerschar von Pilgern erneut in die "heilige Stadt". Ganz Deutschland begeistert sich mit der BILD-Zeitung:"Wir sind Papst!". Dieses "Wir" ist definitiv nicht das der katholischen Sonntagsmessebesucher, sondern das aller anständigen deutschen Verfassungspatrioten. Weil Josef Ratzinger gerade noch diesseits des Inn in Bayern geboren ist, sieht die deutsche Nation in Gottes neuem Stellvertreter nicht bloß den neuen, zuverlässig-antikritischen Kirchenführer, sondern erkennt vor allem den Deutschen in ihm und empfindet sich moralisch und weltweit als ganz ungeheuer aufgewertet. Nicht dass die Herren in Berlin sich ab jetzt dem weisen Ratspruch der katholischen Kirche unterwerfen würden. Es ist eher umgekehrt so, als hätte sich der römische Katholizismus zum deutschen Wesen und seiner Leitkultur bekehrt, als hätte der katholische Gott sich zu Bayern als seiner wahren Heimat bekannt.

Und das, wie bestellt, zum 60. Jahrestag des Kriegsendes: dem Datum, mit dem das demokratisierte Deutschland einen ganzen leidvollen Geschichtsabschnitt, die für Patrioten stets problematisch gebliebene Ära der "Vergangenheitsbewältigung", endgültig in Pension schickt. Was der Ratzinger Sepp da geschafft hat, vom Pimpf des Führers und Judenmörders zu Gottes oberstem Brückenbauer, das ist nicht bloß eine exemplarische deutsche Karriere, das ist ein Sinnbild der Karriere Deutschlands. Hut ab: Das hat der Heilige Geist wirklich gut gemacht!

Editorische Anmerkungen

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Ausgabe 18-05 vom 29. Mai 2005
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