„Die Erde an sich – sosehr sie
Hindernisse darbieten mag, um sie zu
bearbeiten, sich wirklich anzueignen – bietet
kein Hindernis dar, sich zu ihr als der unorganischen
Natur des lebendigen Individuums,
seiner Werkstätte, dem Arbeitsmittel,
Arbeitsobjekt und Lebensmittel des Subjekts
zu verhalten. Die Schwierigkeiten, die das Gemeindewesen
trifft, können nur von andren Gemeindewesen herrühren, die
entweder den Grund und Boden schon okkupiert haben,
oder die Gemeinde in ihrer Okkupation beunruhigen. Der
Krieg ist daher die große
Gesamtaufgabe, die große gemeinschaftliche
Arbeit, die erheischt ist, sei es um die
objektiven Bedingungen des lebendigen Daseins zu okkupieren,
sei es um die Okkupation derselben zu
beschützen und zu verewigen.“ Karl
Marx: Formen, die der kapitalistischen Produktion
vorhergehn, in: Grundrisse der Kritik der Politischen
Ökonomie, Berlin 1953, Seite 378
Schaut man sich die gegenwärtige
Sprache der Herrschenden in der
Bundesrepublik an, so möchte man glauben, wir würden jetzt in eine
Epoche eintreten, in der es einzig und allein
um eine Okkupation der subjektiven
Bedingungen des lebendigen Daseins gehen würde, kurz gesagt, um die
vollständige Okkupation des Individuums, der letzten Domäne
der Freiheit. Mehr noch, es scheint so, als
würde die Arbeit selbst mehr und mehr den
Charakter eines Krieges annehmen. Aus der Formel „Krieg gleich
Arbeit“, die Marx für archaische
Gesellschaften entwickelte, droht nun die Formel „Arbeit
gleich Krieg“ Wirklichkeit zu werden. Soziale Regression
mitten im Hochkapitalismus?
Auf dem Pressetreff von infoRADIO
Berlin-Brandenburg am 01. 02. 2004, auf dem
es um die Modernisierung von Wirtschaft und Arbeit im Land
Brandenburg ging, brach es aus dem Munde des
Brandenburgischen Ministerpräsidenten
Matthias Platzeck urplötzlich hervor: „Klotzen, nicht kleckern!“
Diese Redewendung stammt aus den
Vernichtungsfeldzügen der Deutschen Wehrmacht.
Erstmals im „Blitzkrieg“ Nazideutschlands gegen Holland,
Belgien und Frankreich rief der Erfinder
dieser berüchtigten Devise, der General der
deutschen Panzertruppen Heinz Guderian, den angriffsbereiten
Wehrmachtsangehörigen zu: „Klotzen, nicht kleckern!“. Im
weiteren Verlauf jenes Pressetreffs steigerte
sich Platzeck noch dadurch, daß er den Chefs
von Wirtschaft und Arbeit zurief, dass man sich an die Front werfen
müsse. Zu den jetzt ruchbar gewordenen Plänen
der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitslose zu
zwingen, detaillierte Angaben zur familiären Situation, zur
Wohnsituation, zur Mitgliedschaft in Vereinen und
Organisationen, zum Gesundheitszustand, zu
Freunden und Nachbarn zu machen, sagte eine
Sprecherin des Bundesministers für Wirtschaft und Arbeit Wolfgang
Clement (nachzulesen in „Arbeitslose sollen
über Privates Auskunft geben“ /
Tagesspiegel vom 23. 05. 2005, Seite 15): „Es handelt sich um eine
ganz normale Methode für die zielgenaue
Betreuung.“ Zielgenau? Das klingt wie ein
Bombenabwurf auf ein arbeitloses Individuum zum Zweck seiner
„Wiedereingliederung“.
Im sogenannten Fachkonzept „Beschäftigungsorientiertes
Fallmanagement im SGBII“, herausgegeben von
Rainer Göckler, Mitarbeiter des Zentralbereichs S / S
21 der Bundesagentur für Arbeit, heißt es über das arbeitslos
gewordene Individuum, das wegen drohenden
Hungers an die strengbewachten Tore der
Arbeitslosenbürokratie klopft und nach dem „Zugang“ unversehens zum
„Fall“ wird: „Der Fall wird diagnostiziert
und durchleuchtet, vergleichbar mit der
Erhebung relevanter Daten im Krankenhaus, beim Therapeuten oder beim
IT-Techniker " (ebenda, Seite 21) und in die Form einer
umfassenden „Anamnese“ (ebenda, Seite 21)
gegossen. Die „Therapie“ kann beginnen. Wer
außer Hunger noch irgendeinen Funken Gefühl der eigenen Würde im
Leibe verspürt und darauf pocht, kein
therapierbarer „Fall“ zu werden, womöglich
noch diesen ganzen permanenten Kriegszustand einer
postfaschistischen Arbeitsgesellschaft aus
Gewissensgründen ablehnt, wird in den Augen des
Fallmanagers unweigerlich zum Vertreter „fatalistischer
Lebenseinstellungen“
(ebenda, Seite 7) mit den entsprechenden „Folgen“ (ebenda, Seite
15). In der Sprache des Dritten Reiches
wurden solche Zweifler im markigen Lutherdeutsch
als „Miesmacher“ denunziert. Im blutleeren
Erkennungsdienstdeutsch des Ministeriums für
Staatssicherheit der DDR wiederum hießen Zweifler und
Andersdenkende aller Art „feindlich-negative Kräfte“.
Das von Marx postulierte „lebendige Individuum“ hat unter heutigen
gesellschaftlichen Bedingungen nur zwei Möglichkeiten der
Existenz: mf oder nicht mf: „marktfähig“
(ebenda, Seite 13) oder nicht „marktfähig“, und
letztere Möglichkeit wird mittels eines bizarren Psychoidioms
wie folgt interpretiert: „Arbeit ist
biographiediskrepant oder sogar biografiekonträr“
(ebenda, Seite 7). Der Rest ist Leben. Aber nicht mehr lange.
Wer nicht mf ist oder dies vorspiegelt zu sein
(„Inszenierungstaktiken“, ebenda, Seite 23),
ist ein zu therapierender „Kunde“ der Bundesagentur für
Arbeit, der mit hohem, „hoheitlichem“ (ebenda, Seite 4)
Druck, bis hin zum lebensbedrohlichen Entzug
von Arbeitslosengeld II, zu rechnen hat, d. h.
„der sich damit (...) der erheblichen Sanktionsmacht der
Fallmanagerin beugt“ (ebenda, Seite 21). In
den beiden Weltkriegen gab es bekanntlich
ebenfalls nur zwei Existenzmöglichkeiten für das lebendige
Individuum: kv oder nicht kv,
„kriegsverwendungsfähig“ oder nicht „kriegsverwendungsfähig“,
und nach dem Willen der kriegführenden Herrschenden durfte
der kv-Anteil an der Gesamtbevölkerung
selbstredend nicht sinken, und es wurde drakonischer
Druck ausgeübt, um die Bereitschaft zu erpressen, das Leben
herzugeben. Doch selbst der Tod schützte das
Individuum nicht mehr vor dem Krieg, wie der
Kriegsteilnehmer und Dichter Bert Brecht in seiner „Legende vom
toten Soldaten“ nachwies, indem er
berichtete, wie eine „ärztlich-militärische
Kommission“ einen toten und längst bestatteten Soldaten wieder
ausgrub, ihn diagnostizierte, dann
feststellte, „der Soldat war k.v. und er drückte sich
vor der Gefahr“ und - ihn wieder an die Front warf.
Und wie jener zur Ewigkeit verdammte Soldat werden auch wir
Arbeitslosen über den Tod hinaus bedroht,
fügen wir voller Verzweiflung und Zorn hinzu,
denn auch jetzt, mitten im angeblichen deutschen Frieden, werden
Menschen, die sterben – und kraft
Hartzgesetzgebung wird nach ersten Schätzungen der
Anteil der verarmten Arbeitslosen an der Gesamtzahl der
Frühverstorbenen rapide ansteigen! - , nach
ihrem Tod quasi wieder ausgegraben und
„marktfähig“ gemacht. „Sonderermittler der AOK Niedersachsen“,
schreibt Kurt G. Blüchel in seinem
medizinischen Aufklärungsbericht „Heilen verboten –
töten erlaubt. Die organisierte Kriminalität im
Gesundheitswesen“, „deckten im Rahmen einer
Stichprobe Anfang 2003 auf, daß Ärzte dieses Bundeslandes
bei 140 Toten Leistungen abgerechnet haben wie bei lebendigen
Patienten. Unter anderem hatte ein Mediziner
aus Wilhelmshaven ‚Hausbesuche und die
Erhebung eines Ganzkörperstatus’ bei einer 72-jährigen Frau
abgerechnet. Das Besondere dabei: Die Frau
war seit fünf Jahren tot. Doch dies sei nur die
Spitze des berühmten Eisbergs, wie Klaus Altmann von der
niedersächsischen AOK im ARD-Magazin
‚Panorama’ erklärte: ‚Hochgerechnet auf das ganze
Bundesgebiet kommt man spielend auf mehrere tausend Tote, mit
denen Ärzte noch ein Geschäft machen.’ Schon
im Oktober 2000 hatte die AOK Brandenburg –
ebenfalls bei einer Stichprobe! – 30 Ärzte entlarvt, die seelenruhig
für längst Verstorbene über Jahre Leistungen
abgerechnet haben. Dem Mitteldeutschen
Rundfunk sagte die AOK-Fahnderin Martina Wolle: ‚ Es gibt
immer wieder neue Ansatzpunkte, und daher überrascht mich
eigentlich gar nichts mehr. Nicht einmal
Massagen für Tote.’ “
Editorische
Anmerkungen
Wir erhielten
diesen Artikel vom Autor mit der Bitte um Veröffentlichung am
19.6.2005
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