"Für manche hier ist er ein Held"
Gewalt ist für viele Kinder Alltag, meint Sozialarbeiterin Fatma Celik. Sie betreut den Jungen, der seine Lehrerin schlug
06/06

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taz: Frau Celik, Sie kennen den 12-Jährigen, der eine Lehrerin der Lemgo-Grundschule geschlagen hat. Ist er ein Rowdy?

Fatma Celik: Eigentlich ist er ein angepasster und lieber Junge, ein Teddybär, der vor allem von den Mädchen geschätzt wird. Andererseits ist er manchmal so aggressiv, dass wir ihn schon bitten mussten zu gehen, weil er sehr brutal wurde.

Am 30.5.2006 veröffentlichte die TAZ folgende Nachricht:

Ein 12-jähriger Grundschüler hat eine 62-jährige Gymnasiallehrerin krankenhausreif geschlagen. Der Vorfall ereignete sich gestern Mittag auf dem gemeinsamen Schulhof der Lemgo-Grundschule und des Robert-Koch-Gymnasiums an der Dieffenbachstraße in Kreuzberg, sagte ein Polizeisprecher. Auf dem Schulhof waren mehrere Grundschüler und ein Gymnasiast in eine Schlägerei verwickelt. Als die Lehrerin den Streit schlichten wollte, soll ihr der 12-Jährige mit der Faust gezielt auf ein Auge geschlagen haben.  

Was ist denn der Anlass für solche Ausraster?

Wie viele Jugendliche und Kinder hier hat er null Erfolgserlebnisse in seinen wichtigsten Lebensbereichen Schule und Familie. Daher sucht er sich Ventile. Zu uns Betreuern hat er eigentlich ein gutes, respektvolles Verhältnis. Aber wenn es um Konkurrenzkampf geht, rastet er aus.

Zurzeit darf er nicht zur Schule - wie geht er damit um?

Er ist auf der Straße und wird von den anderen Jugendlichen als Held gefeiert, weil er eine Autoritätsperson geschlagen hat.

Was finden die so toll daran?

Sie finden es gut, dass er auf Titelblättern von Zeitungen erscheint, dass er Schlagzeilen macht! Und dass er trotz seiner Körpergröße eine erwachsene Person niedergeschlagen hat. Das ist in ihren Augen eine Heldentat. Übrigens auch für manche Erwachsene.

Verkörpert denn diese Lehrerin ein Feindbild?

Nein, sie ist im Gegenteil hier bekannt und beliebt, weil sie sehr engagiert ist. Hinter der Reaktion steckt der Frust über Schule und Lehrer, den viele hier haben. Sie sind immer nur mit Beschwerden konfrontiert. Es gibt Lehrer, die nicht in der Lage und auch gar nicht bereit sind, mit den Eltern zu kommunizieren. Wir hatten hier letzte Woche einen Jungen, der ins Krankenhaus musste, weil sein Lehrer ihn angegriffen hat. So etwas erscheint in den Medien nicht. Und vor diesem Hintergrund sagen nun manche: Endlich wehrt sich mal ein Kind.

Sie kritisieren, wie Fälle wie dieser in den Medien behandelt werden. Warum?

Die Medien haben den Vorfall sehr skandalisiert. Das unterstützt die aggressive Stimmung. Die Kameras an den Schulen provozieren die Kinder und Jugendlichen: Jetzt hat sich einer profiliert, da wollen die anderen auch mal im Mittelpunkt stehen. Selbst wir Betreuer sind in den letzten Tagen von Jugendlichen bedroht worden, mit Sprüchen wie "Pass auf, du bist die Nächste" oder "Nimm deine Brille ab, wenn wir uns prügeln".

Wie gehen Sie damit um?

Wir haben Erfahrung mit Aggressivität, aber diesmal hatte ich zum ersten Mal Angst. Eine gewisse Hemmschwelle, wirklich skrupellos gewalttätig zu sein, ist verschwunden.

Wie kommt das?

Gewalttätigkeit ist für viele Jugendliche zu einer Überlebensstrategie geworden, nicht nur hier in unserem Kiez. Sie haben keinerlei Perspektiven, erleben nur Misserfolge. Dazu kommt, dass sie viel Gewalt erleben: Über neue Medien wie Handys haben schon Kinder Zugang zu Sachen, die für sie nicht altersgemäß sind. Und auch in der Familie gibt es Gewalt. Oft trauen sie sich gar nicht zu Hause von ihren Problemen zu erzählen, damit sie nicht noch mehr Schläge kriegen.

Am 9.6. meldete die TAZ unter dem Titel "Bild" und Böger foulen Sozialarbeiterin

Ein taz-Interview schlägt hohe Wellen. Darin hatte eine Kreuzberger Sozialarbeiterin die Sichtweise eines schlagenden Schülers erklärt. Das wird ihr nun von der Boulevardpresse und dem Schulsenator als angebliche Rechtfertigung der Gewalt ausgelegt

Die Kreuzberger Sozialpädagogin Fatma Celik, die sich in der Samstagsausgabe der taz zu dem Fall eines Grundschülers, der eine Lehrerin schwer verletzte, geäußert hatte, ist unter starken Druck geraten. Die Lehrerin, der der Zwölfjährige mit einem Fausthieb schwere Gesichtsverletzungen zufügte, hat gegen die Sozialarbeiterin eine "Dienstaufsichtsbeschwerde" eingereicht. Die 62-Jährige fühle sich von der Sozialpädagogin "verhöhnt", schrieb die Bild am Mittwoch. In dem Bericht äußert auch Schulsenator Klaus Böger (SPD) "hohes Verständnis" für die Beschwerde: Die "verqueren Äußerungen" der Sozialpädagogin seien "nicht akzeptabel", so Böger laut Bild.

Fatma Celik leitet den Jugendtreff an der Kreuzberger Urbanstraße, in dem der Täter regelmäßig verkehrt. In der taz hatte sie unter anderem berichtet, dass er nun von manchen anderen Kindern und Jugendlichen "wie ein Held" gefeiert werde. Viele Kinder hätten dort "null Erfolgserlebnisse", so Celik im Interview, und weiter: "Es gibt Lehrer, die nicht in der Lage und auch gar nicht bereit sind, mit den Eltern zu kommunizieren." Zudem hatte Celik in diesem Zusammenhang auf den Fall eines Jungen verwiesen, der von seinem Lehrer geschlagen worden sei. "Und vor diesem Hintergrund sagen nun manche: Endlich wehrt sich mal ein Kind", beschrieb die Sozialarbeiterin im taz-Interview die Reaktionen auf die Tat des Zwölfjährigen.

Vor allem diese Äußerungen haben offenbar den Unmut der Lehrerin erregt. Sie hat beim Presserat auch eine Beschwerde gegen die taz angestrengt. Die "Dienstaufsichtsbeschwerde" gegen Celik ging deren Arbeitgeber gestern zu.

Ob sie für die 33-jährige Folgen haben kann, dazu wollte sich ihr Vorgesetzter Matthias Winter nicht äußern. Der Geschäftsführer des Nachbarschaftshauses kann die Vorwürfe, die in der Bild und unterdessen auch vom Tagesspiegel erhoben werden, nicht nachvollziehen: "Frau Celik wird dort verkürzt und dadurch sinnentstellt zitiert", sagte Winter. Im taz-Interview habe sie auf "Meinungen, Haltungen und Stimmen Dritter" verwiesen: "In der aktuellen Berichterstattung werden diese wiedergegeben, als seien sie persönliche Wertungen von Frau Celik und Verharmlosung und Entschuldigung des Angriffs auf die Lehrerin. Das trifft aber nicht zu."

"Ich bin erschüttert über die Darstellungen in Bild und Tagesspiegel", sagt Celik. "Die Zitate sind so zusammengestellt, dass ihr Inhalt völlig falsch dargestellt wird." Sie will juristisch gegen die Berichterstattung vorgehen.

Seit sechs Jahren arbeitet Celik in der Kinder- und Jugendeinrichtung "Drehpunkt" am Rande der Werner-Düttmann-Siedlung zwischen Urbanstraße und Hasenheide. Dort werden vor allem arabisch- und kurdischstämmige Mädchen und Jungen betreut. Die Sozialarbeiterin hat dort hoch gelobte Projekte realisiert: Beispielsweise die Zusammenarbeit mit einem russischen Straßenkinderzirkus, in deren Rahmen sie mit Berliner Jugendlichen nach St. Petersburg reiste.

"Wir schätzen Frau Celik als professionelle und engagierte Mitarbeiterin", sagt ihr Vorgesetzter Matthias Winter. Die Friedrichshain-Kreuzberger Jugendstadträtin Sigrid Klebba (SPD) verweist auf die "wichtige gewaltpräventive Funktion", die der Jugendtreff Drehpunkt habe.

Schulsenator Böger mochte den Ball gestern nicht flach halten. Er erneuerte gegenüber der taz seine Kritik an Celik. Im günstigen Fall seien ihre Aussagen "missverständlich - im ungünstigen Fall rechtfertigt sie die Gewalttat des 12-jährigen Mohammed mit Frust über Schule und Lehrer. Das kann ich als Bildungssenator nicht akzeptieren", teilte Böger mit. Der Jugendtreff konnte unterdessen gestern seine Türen wieder öffnen. Am Mittwoch hatten Journalisten die SozialarbeiterInnen bei der Arbeit behindert.

Editorische Anmerkungen

taz Berlin lokal vom 3.6.2006, S. 25, 101 Z. (Interview), ALKE WIERTH
Wir spiegelten von http://www.taz.de/pt/2006/06/03/a0205.1/text