Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Frankreich vor der Parlamentswahl:
„Blaue Welle“ am Horizont. Tsunamiwarnung in Frankreich
06/07

trend
onlinezeitung

Wird die „blaue Welle“ noch einige Überlebende an den Strand spülen? Oder wird die parlamentarische Opposition, vorläufig, totalen Schiffbruch erleiden? Noch vor dem ersten Durchgang der französischen Parlamentswahlen vom nächsten und übernächsten Sonntag (10. und 17. Juni) sind sich nahezu alle Beobachter und Akteure in einem Punkt einig: Die konservative Regierungspartei UMP, deren Parteifarbe blau ist, wird eine überstarke Mehrheit an Sitzen in der nächsten französischen Nationalversammlung erhalten.  

Sicher, ihr Wahltriumph wird aufgrund des geltenden Mehrheitswahlrechts, das die stärkste Partei weit überdurchschnittlich belohnt, noch gröber erscheinen als er in Wirklichkeit ausfällt. Aber tatsächlich dürften auch die politischen Mehrheitsverhältnisse im Land am Abend des 17. Juni vollkommen auber Zweifel stehen. Neben dem Begriff der vague bleue wird von manchen auch der Ausdruck der „Kammer mit blauem Horizont“ benutzt, unter Erinnerung an die Chambre bleu horizon von 1919. Damals hatte die konservative und nationalische Rechte, die ein breites Spektrum von der bürgerlichen Mitte bis hin zu präfaschistischen Rändern umfasste, infolge des für Frankreich positiven Ausgangs des Ersten Weltkriegs eine erdrückende Mehrheitsstellung erobert.

Doch es sind nicht die Ergebnisse von nationaler Mobilmachung und Krieg, die die aktuelle politische Konstellation erklären. Auch wenn die Konturen der neuen, faktischen Regierung der nationalen Einheit – mit einem Kabinett unter dem neuen Premierminister François Fillon, das ein Fünftel seiner Mitglieder (Minister und Staatssekretäre zusammengenommen) den parlamentarischen Oppositionsparteien der Sozial- und Christdemokraten abgeworben hat – oberflächlich an den damaligen „Burgfrieden“ erinnern mag. Aber der Hintergrund ist in diesem Falle ein anderer, und nicht so dramatischen Ereignissen wie damals geschuldet. Es handelt sich in erster Linie um das Produkt einer überaus geschickten politischen Kommunikationsstrategie, die der Parlamentsopposition keinen Raum überlassen, sondern die ganzen Bildfläche ausfüllen möchte. Und so sitzt Hervé Morin, ein ehemaliger Weggefährte des Christdemokraten François Bayrou, neben mehreren bisherigen Sozialdemokraten mit am Kabinettstisch.  

Dass dies überhaupt möglich wurde, hat natürlich auch mit persönlichen Ambitionen der Beteiligten, die sich einspannen lieben, und sich bis dahin in ihren Herkunftsparteien notorisch zu kurz gekommen wähnten, zu tun. Aber dies reicht als Erklärungsansatz nicht aus. Darüberhinaus hängt es auch mit dem Verwischen inhaltlicher Konturen zusammen: Wo es früher klar von einander abgegrenzte politische „Lager“ mit erkennbaren gesellschaftlichen Konturen gab, dominieren heute oft Kommunikationsfragen, Werbetaktiken und eine stärker gewordene Personalisierung der Politik. Die französische Sozialdemokratie hat stark auf diese Karte gesetzt, mit ihrer Ikonie Ségolène Royal, die es im Wahlkampf mit inhaltlicher Unberechenbarkeit, dem Beschwören von „Werten“ und einem vagen Wunsch nach Versöhnung gesellschaftlicher Interessen probierte. Aber auf diesem Feld war sie Nicolas Sarkozy nicht gewachsen, der zwar ebenfalls auf einen Kommunikationswahlkampf setzte, aber mit seinen Slogans und – vermeintlichen – Rezepten tatsächlich ideologische Pflöcke einschlagen konnte. Für Ideen wie die „Aufwertung von Arbeit und Leistung“ – man müsse endlich die Ärmel hochkrempeln, dann springe für die Leistungsträger aller Klassen und Schichten am Ende auch etwas dabei heraus - vermochte er tatsächlich eine gesellschaftliche Mehrheit gewinnen. Auch, weil im politischen „Lager“ gegenüber als Alternativen vor allem heibe Luft angeboten wurde. Nun möchte die Mehrheit der Französinnen, dass der neue Präsident auch regieren kann, um unter Beweis zu stellen, was er vermag. Dazu benötigt er eine parlamentarische Mehrheit, und er wird sie bekommen. 

Von Grün in die „neue Mitte“ 

Für viele Oppositionskräfte sieht es vorläufig zappenduster aus. Das neue christdemokratisch-liberale Zentrum unter François Bayrou, von UDF umbenannt in Modem – das wirkt hipp und modern, und ist die Abkürzung für Mouvement démocrate – kämpft um sein politisches Überleben. Denn erst muss es ihm unter den Bedingungen des Mehrheitswahlrechts noch gelingen, Abgeordnetensitze zu erlangen, um das relativ gute Abschneiden Bayrous bei der Präsidentschaftswahl als Vorlage für den Aufbau einer neuen Partei nutzen zu können. Darüber hinaus hat sich die bisherige UDF gespalten, da eine Mehrheit ihrer Parlamentsabgeordneten das  Risiko nicht eingehen mochten, bei dieser Wahl zur Nationalversammlung auf die Schnauze zu fallen: Sie schlossen sich der konservativen Regierungspartei UMP an bzw. gingen ein Wahlbündnis mit ihr ein. Diese Überläufer, die  den vom mächtigen  Tanker UMP abgeworfenen Rettungsring ergriffen haben, treten unter dem Namen „Neues Zentrum (für die Präsidentenmehrheit)“ an.    

Zu Hilfe kommen der Bayrou-Partei, UDF—MoDem, aber viele Überläufer, die vor allem aus den Reihen der französischen Grünen kommen. Viele Ehemalige der französischen Ökopartei, die durch die Sozialdemokratie an den Rand gedrängt und beinahe zerquetscht worden ist, zieht es nunmehr in die neue Mitte. Darunter sind drei der neuen Modem-Kandidaten in Pariser Wahlkreisen. Ebenso ist ihr früherer Generalsekretär, Jean-Luc Bennahmias, inzwischen von der  Ökologiepartei zur umbenannten UDF übergelaufen (aber nicht  Kandidat zur Parlamentswahl am Sonntag - während er laut ‚Le Monde’ anstrebt, die örtliche Parteispitze des MoDem in Marseille zu übernehmen). In den letzten Wochen haben sowohl der neoliberale Grüne Daniel Cohn-Bendit als auch der langjährige Parteilinke Alain Lipietz vorgeschlagen, ihr Wahlverein möge sich als Bindeglied für ein künftiges Bündnis zwischen Sozialdemokratie und Modem positionieren. Also irgendwo zwischen Mitte-Links und Mitte-Rechts.  

Dorthin zieht es auch führende Sozialdemokraten, denn seit der Wahlniederlage Royals sind die beiden Flügel der Parteirechten – unter Ségolène Royal selbst und unter dem früheren Wirtschaftsminister Dominique Strass-Kahn – in der Offensive. In ihren Augen hat die Sozialistische Partei die Wahl nicht auf ihrer Linken, sondern zu ihrer Rechten verloren und muss also weiter dorthin rücken. Nicht sicher, ob dieses Kalkül aufgehen wird, denn verloren hat die Sozialdemokratie vor allem aufgrund ihrer Unfähigkeit, irgendwelche klaren Alternativen zum dynamisch wirkenden Programm Nicolas Sarkozys anzubieten. Es belegt jedoch den anhaltenden Trend der etablierten Linken hin in die politische Mitte, möglichst modern und inhaltsfrei.  

Triste Situation links 

Links von der Sozialdemokratie erhofft man sich von der anstehenden Parlamentswahl ohnehin nicht viel, denn die Logik des „kleineren Übels“ – im Angesicht der bedrohlich wirkenden Aussicht auf eine starke rechte Übermacht - wird weiterhin die Sozialdemokratie begünstigen. Die französische KP hofft jedoch, dass sie wenigstens ihren Fraktionsstatus in der Nationalversammlung behält. Dafür benötigt sie mindestens 20 Abgeordnete, derzeit verfügt sie noch über 24 (davon drei parteilose Fraktionsmitglieder). Wahrscheinlich wird sie dabei aber einen Fehlschlag erfahren. Danach bleibt ihr nur noch, bei den Kommunalwahlen zu Anfang 2008 einige Rathäuser zu „behalten“, sonst steht es verdammt schlecht um ihre politische Zukunft. (Zur französischen KP und den beiden trotzkistischen Parteien LCR und LO vgl. auch nebenstehenden Artikel über die französische Linke in marxistischer Tradition.) 

Rechtsauben ebenfalls in Schwierigkeiten 

Rechts trifft man ebenfalls auf Schwierigkeiten. Der Front National (FN) dürfte sich nicht so schnell von der relativen Niederlage seines Chefs Jean-Marie Le Pen bei der Präsidentschaftswahl berappeln. Ferner äubern sich (laut der Ausgabe des rechten Wochenmagazins Valeurs actuelles, das selbst von konservativ bis rechtsextrem schillert, vom 1. Juni) derzeit 88 Prozent der Anhänger Le Pens positiv über den Beginn der Amtszeit Nicolas Sarkozys. Mit voraussichtlich nur 4 bis höchstens 8 Prozent der Stimmen dürfte der FN auf einem vorläufigen Tiefststand landen. Auch er wartet auf bessere Zeiten, die er sich dann erhofft, wenn er in Zukunft den „Verrat“ des Präsidenten Sarkozy an den Erwartungen und Hoffnungen rechter Wähler anprangern kann.

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir von Autor am 9.6.07 zur Veröffentlichung.
 

Das Frankreich der Reaktion. Neofaschismus und modernisierter Konservatismus von Bernhard Schmid wird bei Pahl-Rugenstein demnächst als Taschenbuch erscheinen und in jeden gut sortierten linken Buchhandlung zu haben sein.

BERNHARD SCHMID, 35, hauptberuflich Jurist, arbeitet im Nebenberuf als freier Journalist, lebt und arbeitet seit 12 Jahren in Paris