„Lassen wir die Linke hinter uns.“
Rezension
von Guy Fawkes

06/08

trend
onlinezeitung

Mit Adorno gesprochen: Ich reagiere zunehmend idiosynkratisch, also allergisch und überempfindlich auf Anarchy – made in usa. Die Freude, dass es mitten im Herzen des Empire eine widerständige sich selbst suchende auch antikapitalistische Bewegung gibt, wird immer wieder getrübt, wenn ich Veröffentlichungen sichte, die sich mit dem Phänomen der US-Kollektive befassen. Nun ist nicht der Überbringer der Nachricht zu verurteilen. Gabriel Kuhn unternimmt auf den ersten 50 Seiten die Aufgabe, eine Tour de Force durch die Geschichte der anarchistischen Bewegung in den Staaten zu unternehmen. Was für Meilensteine! 1850 gab es über 100 utopische Kommunen, 1886 die gehängten deutschen Anarchisten von Chicago-Haymarket (Ursprung des 1. Mai),  um 1890-1900 versammelten sich Emma Goldman, Alexander Berkman, Kropotkin, Rudolf Rocker und Errico Malatesta in den USA. Ein Zentrum anarchistischer Bewegung und kommunistischer Dissidenz. Noch nach dem ersten Weltkrieg kämpfen Wobblies und Anarchos Seite an Seite. Eine vergessene Geschichte! Aber Kuhn vergisst sie nicht zu erzählen. Das macht die Stärke dieses Buches aus. Denn danach beginnt die Leidensgeschichte des Rezipienten. Die Geschichtsvergessenheit und gar antihistorischen Reflexe der neuen Anarchisten sind und bleiben ihr eigenes Credo. Gabriel Kuhn leitet jeweils ein, die „Bewegungen“ übernehmen den Rest des Buches. Stellvertretend für ihre Richtung summieren sich 6-30 seitige Statements, die der Herausgeber zusammengestellt hat, um ein möglichst vielschichtiges Bild der Kollektive zu zeichnen.  

Der Widerstand gegen die WHO 1999 in „Seattle“ hat eine vielgestaltige Anarcho-Kultur erzeugt. Alltägliche Solidar-Kollektive finden sich in den Großstädten und auch als Zivilisationsflüchtlinge in Zonen des „Primitivismus“. Gut! Die Esoteriker, die ihr Seelenheil in einem „Zurück in die Steinzeit – vor dem Sündenfall der Elektrizität“ suchen – wird es wohl immer geben. Was braucht der Mensch außer kaltem klaren Wasser und Sex?  Lassen wir die mal außen vor. „CrimethInc.“ hatten wir schon (link) mit der Curious George Brigade in ihrem DIY rezensiert. Die „Pagan Anarchists“, die von ihrer „spiritistischen, magischen Aktivität“ faseln, überblättern wir nur knapp ohne zu erblinden. Da bin ich schon auf Seite 185 und lese nun den Kern der Sache: Der Begriff „links“ wird zum finalen Synonym für einen Dreiklang aus falscher Autorität, Langeweile und Bevormundung. Gabriel Kuhn leitet auch das Kapitel „Post-Linke Anarchie“ ein und verbindet diese wirkmächtige Strömung mit dem US-amerikanischem „Individualanarchismus“ – Hauptautor ist Jason McQuinn. Schon Murray Bookchin hatte mit „Listen, Marxist!“ 1970 noch lesenswert sich von den orthodoxen, autoritären Linkskirchen des Sozialismus/Kommunismus abgesetzt. Aber Bookchin wird hier nicht fortgesetzt. Dieses Bündnis aus redaktionellen Kernen der Zeitschrift „Anarchy“ und den Anarcho-Primitivisten bekämpft emanzipatorische Ziele und propagiert gar in jüngster Zeit die „anti-linke Anarchie“. Bei allen geteilten Vorbehalten gegenüber der Begrifflichkeit von „Lechts und Rinks“ wird hier der hegemoniale Angriff im Diskurs sichtbar. Ist dieser Angriff neu und hat vielleicht neue Argumente, die tatsächlich auch in anarchokommunistischen Kreisen Widerhall finden sollten? Nein, da wird erneut Max Stirner in Stellung gebracht und das goldene Kalb dieses verdrehten Bewußtseins beschworen: das freie autonome Individuum in absolut freier Assoziation. Gähn! Klar in den „Stars & Stripes“-Countries verfängt dieses texanische Axiom aus „12 Uhr mittags“. Diese US-amerikanischen AnarchistInnen scheinen immer noch stereotypische Amis in ihrem antiintellektuellen Impuls zu sein. Hier fightet Bart Simpson ohne Lisas Hilfe. 

Das letzte Drittel dieses Buches ist so eine Art „Ehrenrettung“. Peter Staudenmaier entgegnet mit seinem Essay „AnarchistInnen im Wunderland. Die verkehrte Welt post-linker Anarchie.“ Eine nicht nur textliche Antwort auf die Post-Linken ist die vielleicht hoffnungsvollste Gruppe NEFAC (Northeastern Federation of Anarcho-Communists). Die ebenfalls nach Seattle 99 gegründete Föderation ist sowohl klassenkämpferisch als auch revolutionär ausgerichtet. Die NEFAC, so beschreibt Gabriel Kuhn die Aufgabe, versucht die Isolation der sozialanarchistischen Richtung zu überwinden, um dem „Neuen Anarchismus der USA“ einen anderen Zungenschlag zu geben. Die NEFAC bezieht sich positiv auf europäische GenossInnen, sieht sich selbst als Kampf-Plattform und möchte den gewerkschaftlichen, syndikalistischen Ansatz ablösen.  

Das Buch stellt den zweiten Versuch aus dem Unrast-Verlag dar, sich dem Thema „anarchistischer Widerstand im Bauch der Bestie“ zu widmen. Der erste Versuch „DIY“ , eine Übersetzung „authentischer Texte“ neuanarchistischer Gruppen wie CrimethInc. erschien als Propaganda in pseudohumoriger pseudo-cooler „Warenform“. Eine Darreichungsform, die sich darin gefiel, eine Beleidigung bärtiger Altlinker einzuschließen, die das Mitläuferalter überstanden und sich dem Assimilierungsverlangen der radikalen Mitte erfolgreich widersetzt haben. Der Kardinalfehler dieser Veröffentlichung war das nichts und niemand dieses Bruch einordnete, keine Moderation die „Selbstinszenierung“ abmilderte. Als Dokumentation war natürlich auch dieses schlicht auf Deutsch übersetzte Buch wichtig.  

In Gabriel Kuhns Buch kommt der/die neugierige LeserIn dagegen auf seine Kosten. Hier wird sich die Arbeit gemacht zu ordnen, zu kommentieren und eine Art „ein Mensch-Redaktion“ gebildet, um die Vielfalt „einzufangen“. So bleibt es nicht bei den Setzungen der puren Texte, sondern eine vor allem historische/ideologische Einordnung und Verortung macht es allen einfacher den derzeitigen Stand „überm Teich“ zu erahnen. Als solches eine spannende Momentaufnahme. 

Gabriel Kuhn (HG.):
"Neuer Anarchismus" in den USA. Seattle und die Folgen.
Unrast-Verlag 2008
304 Seiten
ISBN 978-3-89771-474-8
Preis: 16,80 €