Material zum Thema "Schülerknast"
Schüler rennen gegen eine Mauer von Tabus
"BILD" diffamierte sie als Gammler und asoziale Nichtstuer

von Maria Jänicke & Wolfgang Zeller (USG)

06/09

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onlinezeitung

Seit Januar dieses Jahres gibt es die USG (Unabhängige Schülergemeinschaft). Schüler haben sich hier zusammengesetzt, um ihre eigenen Interessen und die ihrer Mitschüler zu vertreten. Von Anfang an erfreute sich die USG einer erheblichen Publizität, doch ist den Berichten zu entnehmen gewesen, daß weitgehende Unklarheit über ihre Organisation, ihre Motive und ihre Zielsetzungen besteht.

Am Anfang stand das Unbehagen über die Zustände an den Schulen: über den Mißbrauch der Autoritätsbefugnisse von seiten der Lehrer, ob dieser sich nun in speziellen Maßnahmen gegen einzelne Schüler äußert, oder allgemein in einer reaktionären, tendenziösen oder einfach langweiligen Unterrichtsgestaltung. Wir, d. h. ungefähr ein Dutzend Westberliner Oberschüler, nahmen uns also vor, uns gegen diese Zustände zu wehren. Das Unbehagen verspüren viele, zumeist äußert es sich in der weitverbreiteten Schülerwendung „alles Scheiße" und einer tiefgreifenden Lethargie aus der weniger tiefgreifenden Erkenntnis, man könne ja doch nichts machen.

Wir bemühten uns, diese Interessenlosigkeit zu überwinden, und gaben ein erstes Flugblatt heraus, auf dem einige Fälle von Autoritätsmißbrauch erwähnt waren und die Schüler aufgefordert wurden, mit uns zusammen die Verhältnisse an der Schule zu analysieren und auf deren Änderung hinzuarbeiten. Dazu luden wir zu einer ersten Veranstaltung im Club ,,ca ira" ein.

Schon vor der Veranstaltung wurde die USG in der öffentlichen Meinung, vertreten durch „Bild", diffamiert, als ein Verein von Gammlern und asozialen Nichtstuern, die doch lieber erst etwas leisten sollten. Auf unser Flugblatt hin kamen etwa 80 Schüler in den „ca ira" sowie Schulsenator Evers. Die Diskussion drehte sich vor allem um die Möglichkeit und Unmöglichkeit einer wirksamen Arbeit in der SMV. Wir legten dabei unsere eigene Auffassung von dieser Institution dar: Die Schülermitverwaltung ist nicht organisch aus der Schülerschaft gewachsen, sondern vor nunmehr 19 Jahren durch Anordnung von oben entstanden. Sie ist organisatorisch von der Schulbürokratie — meist dem Direktor — abhängig, so daß in ihr jede nicht genehme Initiative als Zeichen eigenen Lebens im Keim erstickt wenden kann. Ferner trägt zu ihrer Unbeweglichkeit bei, daß sie als Vertretung der gesamten Schülerschaft konzipiert ist, was aber bedeutet, daß jede Aktion kritischer Schüler behindert wird durch die Trägheit der inaktiven, desinteressierten Schüler, die aber den größten Teil ausmachen. In diesem Rahmen wird Demokratie als eine Art moralische Verpflichtung aufgefaßt und nicht als die Möglichkeit zur Austragung von Interessenskonflikten. Der Schulsenator zeigte keine Bereitschaft zur Unterstützung unserer Aktivität oder auch nur zu einer zukünftigen Diskussion mit uns, außerhalb des Rahmens der bestehenden Organisationen. Viele der Schüler bezeugten aber durch ihre Eintragung in eine Mitgliederkartei ihre Bereitschaft zur Mitarbeit in der USG.

So bildete sich bereits auf unserer 2. Versammlung ein Aktionskomitee aus Schülern, die die weiteren Maßnahmen planen und durchführen wollten. Unsere Kontakte zum SDS erstrecken sich zuerst auf technische Probleme wie die Herstellung von Flugblättern usw. Es finden aber rege Diskussionen mit den Studenten statt, was sich aus der Tatsache erklärt, daß Schüler und Studenten in unserer Gesellschaft der gleichen Schicht angehören und ihre Probleme ähnlich gelagert sind. Nur sind die Schüler noch dem Druck des Elternhauses ausgesetzt, der bei den Studenten meistens entfällt. Deshalb i'St es natürlich weit schwieriger, Schüler zu organisieren, als Studenten, was aber keine grundlegenden Differenzen in der Zielsetzung der Schüler und Studenten ausmacht. Um zu einer Anbeitsgrundlage zu kommen, hatten wir vor, in einer besonderen Kartei Fälle von Autori-tätsmißbrauch der Lehrer festzuhalten, auf die wir uns dann in Publikationen oder anderen Aktionen beziehen könnten. In dieser Kartei ist bisher kein einziger Fall enthalten. Das bedeutet aber nicht, daß das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern etwa als harmonisch zu bezeichnen wäre, denn einige erwähnenswerte negative Vorfälle sind uns bereits bekannt geworden. Doch war niemand der Betroffenen bereit, unter seinem Namen Angaben zu machen oder die Eintragung in die Kartei überhaupt zuzulassen, aus Furcht vor irgendwelchen Nachforschungen und anschließenden Maßnahmen von selten der Schule oder der Eltern. Für uns scheint sich hierin erst die Repressivität der Schule und des Elternhauses zu bestätigen.

Am meisten Aufsehen haben bisher unsere jüngsten Aktionen erregt. Wir kündigten auf Flugblättern Veranstaltungen zum Thema Sexualität mit Vorträgen von fachlich gebildeten Studenten an (Themen: Warum hat die Schule kein Interesse an einer wirksamen Sexualaufklärung? / Empfängnisverhütung / Vorehelicher Geschlechtsverkehr / Onanie / Abtreibung). Die öffentliche Reaktion zielte vor allem darauf hin, dieses Vorhaben lächerlich zu machen, wobei das angeschnittene Problem gar nicht als solches akzeptiert wurde. Tatsächlich zeigt sich hierin nichts weiter, als daß diese „Kritiker" äußerst wirklichkeitsfremd sind. Denn Tatsache ist, daß ein großer Teil der Schülerschaft sich sexuell betätigt. Dies hat die herrschende Moral nicht verhindern können, wohl aber wurde bei dem einzelnen die Sexualität aus dem Bewußtsein verdrängt. Die Folge sind erschreckende Unwissenheit über die grundlegenden sexuellen Fragen — man sehe sich nur die Ziffern der unehelichen Geburten und der „Muß-Ehen" an, oder (am erschreckendsten!) die Dunkelziffer der Abtreibungen. Ebenso sollte man bedenken, daß Schuldgefühle entstehen, die eine erhebliche Beeinträchtigung der Entwicklung eines lugendlichen bedeuten. All diese ungewünschten Folgen von geschlechtlichen Beziehungen können nur durch eine möglichst weitgehende und frühzeitige Aufklärung verhindert werden und nicht durch die Errichtung einer Mauer von Tabus. Diese Tabus müssen abgebaut werden durch Einwirkung auf ihre sexualfeindlichen Träger, d. h. in erster Linie auf die Schule.

Unsere Aufgabe stellt sich also derart, daß wir ansetzen müssen bei der Bewußtseinsbildung der Schüler. Dies bedeutet, daß wir uns erst einmal über unsere Probleme klarwerden (Verhältnis zu den Eltern, zur Schule, zur Sexualität usw.), diese Probleme aber nicht Isoliert betrachten, sondern sie auf die autoritäre Herrschaftsstruktur unserer Gesellschaft beziehen, also unsere Existenz gesellschaftlich verstehen. Wir werden versuchen, unsere Ziele durch selbständige Aktionen zu erreichen und uns durch Selbstbewußtsein von Bevormundung zu befreien.

Editorische Anmerkungen

Den Text  ist ein Scan aus BLICKPUNKT, Zeitschrift des Berliner Landesjugendrings, Nr. 159 aus dem April 1967, S. 5