Seit Januar dieses Jahres gibt es
die USG (Unabhängige Schülergemeinschaft).
Schüler haben sich hier zusammengesetzt, um ihre eigenen
Interessen und die ihrer Mitschüler zu vertreten. Von Anfang an
erfreute sich die USG einer erheblichen Publizität, doch ist den
Berichten zu entnehmen gewesen, daß weitgehende Unklarheit über
ihre Organisation, ihre Motive und ihre Zielsetzungen besteht.
Am Anfang stand das Unbehagen über die Zustände an
den Schulen: über den Mißbrauch der Autoritätsbefugnisse
von seiten der
Lehrer, ob dieser sich nun in speziellen Maßnahmen gegen
einzelne Schüler äußert, oder allgemein in einer reaktionären,
tendenziösen oder einfach langweiligen Unterrichtsgestaltung.
Wir, d. h. ungefähr ein Dutzend Westberliner Oberschüler, nahmen
uns also vor, uns gegen diese Zustände zu wehren. Das Unbehagen
verspüren viele, zumeist äußert es sich in der weitverbreiteten
Schülerwendung „alles Scheiße" und einer tiefgreifenden
Lethargie aus der weniger tiefgreifenden Erkenntnis, man könne
ja doch nichts machen.
Wir bemühten uns, diese Interessenlosigkeit zu überwinden,
und gaben ein erstes Flugblatt heraus, auf dem einige
Fälle von Autoritätsmißbrauch erwähnt waren und die Schüler
aufgefordert wurden, mit uns zusammen die Verhältnisse an der
Schule zu analysieren und auf deren Änderung hinzuarbeiten. Dazu
luden wir zu einer ersten Veranstaltung im Club ,,ca ira" ein.
Schon vor der Veranstaltung wurde die USG in der öffentlichen
Meinung, vertreten durch „Bild", diffamiert, als ein Verein von
Gammlern und asozialen Nichtstuern, die doch lieber erst etwas
leisten sollten. Auf unser Flugblatt hin kamen etwa 80 Schüler
in den „ca ira" sowie Schulsenator Evers. Die Diskussion drehte
sich vor allem um die Möglichkeit und Unmöglichkeit einer
wirksamen Arbeit in der SMV. Wir legten dabei unsere eigene
Auffassung von dieser Institution dar: Die Schülermitverwaltung
ist nicht organisch aus der Schülerschaft gewachsen, sondern vor
nunmehr 19 Jahren durch Anordnung von
oben entstanden. Sie ist organisatorisch von der Schulbürokratie
— meist dem Direktor — abhängig, so daß in ihr jede nicht
genehme Initiative als Zeichen eigenen Lebens im Keim erstickt
wenden kann. Ferner trägt zu ihrer Unbeweglichkeit bei, daß sie
als Vertretung der gesamten Schülerschaft konzipiert ist, was
aber bedeutet, daß jede Aktion kritischer
Schüler behindert wird durch die Trägheit der inaktiven,
desinteressierten Schüler, die aber den größten Teil ausmachen.
In diesem Rahmen wird Demokratie als eine Art moralische
Verpflichtung aufgefaßt und nicht als die Möglichkeit zur
Austragung von Interessenskonflikten. Der Schulsenator zeigte
keine Bereitschaft zur Unterstützung unserer Aktivität oder auch
nur zu einer zukünftigen Diskussion mit uns, außerhalb des
Rahmens der bestehenden Organisationen. Viele der Schüler
bezeugten aber durch ihre Eintragung in eine Mitgliederkartei
ihre Bereitschaft zur Mitarbeit in der USG.
So bildete sich bereits auf unserer 2. Versammlung ein
Aktionskomitee aus Schülern, die die weiteren Maßnahmen planen
und durchführen wollten. Unsere Kontakte zum SDS erstrecken sich
zuerst auf technische Probleme wie die Herstellung von
Flugblättern usw. Es finden aber rege Diskussionen mit den
Studenten statt, was sich aus der Tatsache erklärt, daß Schüler
und Studenten in unserer Gesellschaft der gleichen Schicht
angehören und ihre Probleme ähnlich gelagert sind. Nur sind die
Schüler noch dem Druck des Elternhauses
ausgesetzt, der bei den Studenten meistens entfällt. Deshalb
i'St es natürlich weit schwieriger, Schüler zu organisieren, als
Studenten, was aber keine grundlegenden Differenzen in der
Zielsetzung der Schüler und Studenten ausmacht. Um zu einer
Anbeitsgrundlage zu kommen, hatten wir vor, in einer besonderen
Kartei Fälle von Autori-tätsmißbrauch der Lehrer festzuhalten,
auf die wir uns dann in Publikationen oder anderen Aktionen
beziehen könnten. In dieser Kartei ist bisher kein einziger Fall
enthalten. Das bedeutet aber nicht, daß das Verhältnis zwischen
Lehrern und Schülern etwa als harmonisch zu bezeichnen wäre,
denn einige erwähnenswerte negative Vorfälle sind uns bereits
bekannt geworden. Doch war niemand der Betroffenen bereit, unter
seinem Namen Angaben zu machen oder die Eintragung in die Kartei
überhaupt zuzulassen, aus Furcht vor irgendwelchen
Nachforschungen und anschließenden Maßnahmen von selten der
Schule oder der Eltern. Für uns scheint sich hierin erst die
Repressivität der Schule und des Elternhauses zu bestätigen.
Am meisten Aufsehen haben bisher unsere jüngsten Aktionen
erregt. Wir kündigten auf Flugblättern Veranstaltungen zum Thema
Sexualität mit Vorträgen von fachlich gebildeten Studenten an
(Themen: Warum hat die Schule kein Interesse an einer wirksamen
Sexualaufklärung? / Empfängnisverhütung / Vorehelicher
Geschlechtsverkehr / Onanie / Abtreibung). Die öffentliche
Reaktion zielte vor allem darauf hin, dieses Vorhaben lächerlich
zu machen, wobei das angeschnittene Problem gar nicht als
solches akzeptiert wurde. Tatsächlich zeigt sich hierin nichts
weiter, als daß diese „Kritiker" äußerst wirklichkeitsfremd
sind. Denn Tatsache ist, daß ein großer Teil der Schülerschaft
sich sexuell betätigt. Dies hat die herrschende Moral nicht
verhindern können, wohl aber wurde bei dem einzelnen die
Sexualität aus dem Bewußtsein verdrängt. Die Folge sind
erschreckende Unwissenheit über die grundlegenden sexuellen
Fragen — man sehe sich nur die Ziffern der unehelichen Geburten
und der „Muß-Ehen" an, oder (am erschreckendsten!) die
Dunkelziffer der Abtreibungen. Ebenso sollte man
bedenken, daß Schuldgefühle entstehen, die eine erhebliche
Beeinträchtigung der Entwicklung eines lugendlichen bedeuten.
All diese ungewünschten Folgen von geschlechtlichen Beziehungen
können nur durch eine möglichst weitgehende und frühzeitige
Aufklärung verhindert werden und nicht durch die Errichtung
einer Mauer von Tabus. Diese Tabus müssen abgebaut werden durch
Einwirkung auf ihre sexualfeindlichen Träger, d. h. in erster
Linie auf die Schule.
Unsere Aufgabe stellt sich also derart, daß wir ansetzen
müssen bei der Bewußtseinsbildung der Schüler. Dies bedeutet,
daß wir uns erst einmal über unsere Probleme klarwerden
(Verhältnis zu den Eltern, zur Schule, zur
Sexualität usw.), diese Probleme aber nicht Isoliert betrachten,
sondern sie auf die autoritäre Herrschaftsstruktur unserer
Gesellschaft beziehen, also unsere Existenz gesellschaftlich
verstehen. Wir werden versuchen, unsere Ziele durch selbständige
Aktionen zu erreichen und uns durch Selbstbewußtsein von
Bevormundung zu befreien.