Tagebuch aus Paris
Hélène Berr rettete im besetzten Frankreich Hunderten Kindern das Leben – bevor sie von den Nazis ermordet wurde. Jetzt sind ihre Erinnerungen erschienen

von Antonín Dick

06/09

trend
onlinezeitung

Eine Einundzwanzigjährige berichtet vom nazibesetzten Paris. Als Jüdin stigmatisiert und ausgegrenzt, universalisiert sie ihr Schicksal, indem sie es als Teil des Schicksals aller Naziverfolgten, jenseits von Judentum und Zionismus, begreift. Als Tochter einer großbürgerlichen Familie privilegiert, universalisiert sie ihre Stellung in der Welt, indem sie eine engagierte Brüderlichkeit zu leben versucht, wie sie »Leute aus dem Volk« vorleben. Als Frau in eine festumgrenzte Rolle hineingeboren, universalisiert sie ihre Möglichkeiten als suchender Mensch, indem sie behutsam und wach an den vielfältigen Entstehungsprozessen menschlicher Bindungen teilnimmt: »Die Freundschaften, die hier in diesem Jahr geschlossen wurden, sind geprägt von einer Aufrichtigkeit, einer Tiefe und
einer Art ernster Zärtlichkeit, die kein Mensch je begreifen kann«. Erst im Strom dieser Prüfungen entsteht für sie eine Liebe. Ein nichtjüdischer Franzose polnischer Herkunft, der später in den bewaffneten Kampf gegen Hitler zieht, wird ihr Verlobter.

500 Kinder gerettet

Hélène Berr berichtet von ihrer Entwicklung im Schatten der täglichen Ängste, Demütigungen, Verhaftungen und Deportationen. Als Sozialhelferin vor Internierung geschützt, arbeitet sie unter Einsatz ihres Lebens ab 1941 in der Entraide temporaire, einer Geheimorganisation zur Rettung jüdischer Kinder, der es im Großraum Paris gelingt, rund fünfhundert von ihnen vor den Faschisten in Sicherheit zu bringen. Sie studiert Anglistik, schließt 1942 mit einer Diplomarbeit über Shakespeare ab, beginnt mit einer Dissertation über den Dichter John Keats (1795–1821). Geleitet von ihm, keimt in ihr der Wunsch, vom Tagebuchschreiben zum literarischen Schreiben überzugehen: »Die ganze Wirklichkeit auf(zu)schreiben und die tragischen Dinge, die wir erleben, indem man ihnen ihren ganzen nackten Ernst gibt, ohne etwas durch Worte zu verzerren«

Im Räderwerk

Was heißt Faschismus? Ein die Grenzen ihrer Zeit radikal durchbrechendes Nachdenken initiiert die Widerstandskämpferin, indem sie diese Frage mit der Frage verbindet, was er eigentlich ins Werk setzt, das die Kraft hat, bis ins Heute fortzuwirken. Ihre Antwort: Die Umwandlung der Zivilgesellschaft in ein System, in welchem erinnerungsabstinente Individuen, denen der Bezug zum Geistig-Politischen abtrainiert wurde, so funktionieren, daß keine gesellschaftlichen Widersprüche mehr auftreten. »Es ist ein entsetzliches
Räderwerk«, schreibt sie, »und jetzt sehen wir nur noch die Ergebnisse … Niemand denkt mehr an die ungeheuerliche Sinnlosigkeit, niemand sieht mehr den Ausgangspunkt, die erste Schraube in einem teuflischen Räderwerk.« Die Verteidigung der sozialen Empathie wird daher von ihr an die oberste Stelle der Agenda des politischen Denkens gesetzt: »Nicht wissen, nicht verstehen, selbst wenn man Bescheid weiß, weil eine Tür in einem selbst geschlossen bleibt, jene Tür, wenn sie aufgeht, endlich den Teil begreifen läßt, den man bloß wußte. Das ist das ungeheure Drama dieser Epoche. Niemand weiß etwas von den Leuten, die leiden«.

Zusammen mit den Eltern wird sie am 23. März 1944 nach Auschwitz deportiert. Es ist ihr dreiundzwanzigster Geburtstag. Die Mutter wird am 10. April in die Gaskammer getrieben. Der Vater wird im September von einem Arzt vergiftet. Hélène kommt im November nach Bergen-Belsen. Im April 1945 kann sie, von Typhus geschwächt, nicht mehr zum Appell antreten. Als ihre Leidensgenossinnen in die Baracke zurückkommen, liegt sie am Boden,
erschlagen. Fünf Tage vor der Befreiung des Lagers durch britische Truppen.

Am 1. Mai 2008 schreibt Hélène Berrs Lebensgefährte Jean Morawiecki an Berrs Nichte Mariette Job: »Sie haben mir die Aufregung und Freude beschert, von Herz zu Herz über meine verschwundene Verlobte zu sprechen. Ich habe Ihrem Vorhaben einer Veröffentlichung rückhaltlos zugestimmt und Ihnen zu diesem Zweck das Manuskript anvertraut. Nach Jahren beharrlicher Anstrengungen haben Sie die Schwierigkeiten überwunden. Das Tagebuch ist erschienen, mit dem bekannten Erfolg.«
  

Hélène Berr
Pariser
Tagebuch
1942-1944



Hanser-Verlag, München 2009, 320 Seiten, 19,90 Euro