Materialistisches StudentInnenfutter
Der Soziologe Jens Wernicke hat einen Kassiber für die Aktivisten
der Bildungsproteste geschrieben


von Peter Nowak

06/09

trend
onlinezeitung

Mitte Juni  soll mit einem bundesweiten Bildungsstreik  deutlich gemacht werden, dass es auch auf dem Campus noch Widerstand gibt.   Da  kommt ein in der Hochschulpolitischen Reihe des AStA der Freien Universität Berlin herausgegebene Band „Hochschule im historischen Prozess“ gerade zur richtigen Zeit.  Denn der Autor Jens Wernicke, der in Weimar Kultur- und Medienwissenschaft studiert hat, schrieb eine kleine materialistische Geschichte  der Hochschulen.

Er zeigt auf, dass die auch in Teilen der Protestbewegung vielgerühmten Humboldt’sche Hochschulreform vor allem den Interessen des damals aufstrebenden Bürgertums geschuldet war. So sei Humboldts Hauptziel „die Überwindung der im Zunftwesen erstarrten Universität“ gewesen. Wernicke zeigt auf, dass sich der Begriff der  Wissenschaftsfreiheit des Hochschulreformators in der Gewerbefreiheit des Bürgertums sein Gegenstück hatte.

Auch das sozialliberale Hochschulprogramm der 60er Jahre griff  Forderungen und Warnungen  konservativer und liberaler Bildungspolitiker auf, Sie konstatierten, dass das überkommene Bildungssymptom der fordistischen Phase des Kapitalismus nicht mehr gerecht werde. Auch die Denkschrift des SDS von 1961 mit den Titel „Die Hochschule in der Demokratie“ stehe noch in „bürgerlich-demokratischen, liberalen und humanistisch-antifaschistischen Traditionen“, so Wernicke. Erst in den späten 60er Jahren habe der SDS und andere Protestgruppen im Zuge ihrer Linksentwicklung die These vertreten, dass diese Forderungen nicht mehr vom Bürgertum, sondern der Arbeiterbewegung umgesetzt werden müssen.                      

Kritisch setzt sich Wernicke mit den angeblichen Erfolgen der Bildungsreform der 60er Jahre  auseinander.  Als Resultat der Öffnung der Hochschulen bleibe festzuhalten, dass „die kulturell benachteiligten Klassen und Klassenfraktionen stets weniger als die Mittelschichten und diese wiederum weniger als die herrschende Klasse... profitiert hätten“.   Mittlerweile wird Wernickes kritische Sicht auf die sozialdemokratische Bildungsreform auch von anderer Seite bestätigt: Der Soziologe  Michael Hartmann gehört zu den Pionieren bei Entmystifizierung dieser Reformen, wenn er feststellt, dass Arbeiterkinder faktisch keine Chancen  auf Spitzenpositionen in Unternehmen  hätten.  „Während der letzten vier Jahrzehnte  hat sich dieser Unterschied nicht etwa verringert, wie man angesichts der Bildungsexpansion und der von früheren SPD-Regierungen verkündeten Formel von der Chancengleichheit hätte annehmen können, sondern vertieft. Die Aussichten auf eine Topposition sind für die Sprösslinge des gehobenen Bürgertums bis auf das Zweieinhalbfache gestiegen, für die des Großbürgertums sogar bis auf das Fünffache“ wird Hartmann in der Monatszeitung Konkret zitiert.   

Die neoliberale Bildungsreform der 90er Jahre verfestige und zementiere die Ungleichheiten im Bildungswesen weiter. Bildung werde durch die Implementierung marktwirtschaftlicher Wettbewerbsmechanismen vollständig von der ökonomisch-technischen Entwicklung abhängig.  Wernicke befasst sich nicht nur mit kritisch mit Schlagworten wie lebenslanges Lernen auf Abruf.  Er geht auch auf die neoliberalen Netzwerke ein,  die unter dem Stichwort Eigenverantwortung für Flexibilisierung und Studiengebühren werben. So heißt es auf einem Plakat  der neoliberalen Denkfabrik Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM).  „Ist es nicht ungerecht, dass ein Kfz-Mechaniker einem Rechtsanwalt das Studium bezahlt?“ Mit ähnlichen Argumenten wird selbst in Kommentaren der linksliberalen  Tageszeitung  die Einführung von Studiengebühren  verteidigt.   Am Ende des Bandes betont der Autor, dass es auch vom Widerstand der Schüler und Studenten abhängt, ob der neoliberale Umbau des Bildungssystems so reibungslos wie bisher durchgesetzt werden kann.     Wernickes Büchlein kann zur theoretischen Bildung der Aktivisten beitragen und dazu , dass der Bildungsstreik  Teil eines längeren Kampfes „um’s Ganze wird. 
  

Jens Wernicke
Hochschule im historischen Prozess

H
ochschulpolitische Reihe Band 13

Berlin 2009, 148 Seiten,  8 Euro
ISBN 978-3-926522-32-0