Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

TARNAC-AFFAIRE
Die Justizfarce des „Anti-Terror-Untersuchungsverfahrens“ gegen „Jene von Tarnac“ erweist sich als immer grö
bere Peinlichkeit für die Ermittler

06/09

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„Was sich herausstellt, unter den äuberen Erscheinungsformen einer ‚Wirtschaftskrise’, eines ‚Zusammenbruchs des Vertrauens’, einer ‚massiven Ablehnung der Regierenden’, ist sehr wohl das Ende einer Zivilisation, der Zusammenbruch eines Paradigmas: jenes der Regierung, die Alles regelte im Westen – die Beziehung der Wesen zueinander nicht weniger als die politische Ordnung, die Religion oder die Organisation der Unternehmen. Es gibt auf allen Ebenen der Jetztzeit einen gigantischen Kontroll- und Herrschaftsverlust, dem kein polizeiliches Schamanentum wird Abhilfe verschaffen können.“ 

Der Urheber dieser, gelinde ausgedrückt, sehr optimistischen Revolutionstheorie über die derzeitigen gesellschaftlichen Abläufe ist der 34jährige Julien Coupat. Am Dienstag, den 26.o5.o9 kam er in der liberalen Pariser Abendzeitung Le Monde, deren schriftlich gestellte Fragen er aus der Zelle heraus beantwortet hatte, ausführlich zu Wort. 

Aus der Zelle heraus, denn zu dem Zeitpunkt sab Coupat noch in einem Pariser Gefängnis in Untersuchungshaft, und dies seit über sieben Monaten. Zwei Tage später kam er unterdessen frei: Am Donnerstag Nachmittag  (28.o5.o9) beschloss ein Untersuchungsrichter, Coupat „unter strengen Aufsicht- und Meldeauflagen“ aus der Haftanstalt zu entlassen. Zuvor war seine Freilassung bei drei Haftprüfungsterminen seit Anfang des Jahres abgelehnt worden. Nur scheinen die Ermittlungsbehörden ein ernsthaftes Problem mit ihm zu haben: Aufgrund seiner ideologischen Positionen oder auch Sprüche meinen sie, mit Julien Coupat einen quasi „idealen Schuldigen“ gefunden zu haben. Nur scheinen sie materiell nichts Handfestes gegen ihn in der Hand zu haben, was die „Terrorismus“vorwürfe gegen ihn oder sein Umfeld auch nur halbwegs bestätigen könnte. 

Der 34jährige, der eine Doktorarbeit über Guy Debord vorbereitet, war am 11. November 2008 zusammen mit acht weiteren Personen verhaftet worden. Ihre Festnahme stand im Zusammenhang mit einem grob angelegten „Antiterroreinsatz“ der französischen Polizei und Justiz, der einer von ihnen so genannten „Unsichtbaren Zelle“ auf die Spur kommen sollte. Alle anderen acht angeblichen Mitglieder der vermeintlichen Zelle waren bis Anfang dieses Jahres frei gekommen – zuletzt, im Januar O9, Coupats Lebensgefährtin Yldune Lévy -, nur nicht Julien Coupat selbst. Ihn hielten die Ermittler für den „Rädelsführer“, „charismatischen Chef“ oder Guru einer Gruppe, deren pure Existenz nachzuweisen sie freilich ihre liebe Not hatten. (ANMERKUNG: Die bürgerlichen Namen der Beteiligten sind inzwischen ohne in ganz Frankreich dem Zeitungspublikum bekannt, insofern bestand an dieser Stelle keinerlei Risiko des „Geheimnisverrats“.) 

VORGESCHICHTE EINER KONSTRUKTION 

Die „Unsichtbare Zelle“ scheint in den Gehirnen der Untersuchungsrichter und –behörden aus dem „Unsichtbaren Komitee“ entstanden zu sein, das im Jahr 2007 als kollektiver Verfasser des schmalen Büchleins L’insurrection qui vient (Der Aufstand, der kommt) firmierte. Es erschien in dem linksradikalen Kleinverlag La Fabrique. Auch dessen Verleger, Eric Hazan, ist am 9. April im Zusammenhang mit den Untersuchungen unter „Terrorismus“verdacht vor den Ermittlungsrichter vorgeladen und mehrere Stunden lang verhört worden. 

Das kleine Buch enthält eine an postmodernen Ideologieversatzstücken orientierte Theorie über gesellschaftliche Veränderung und den Bruch mit dem herrschenden System, die darauf hinausläuft, dass es heute keine Zentren der Macht mehr gebe, sondern diese in Form von Netzwerken quasi überall – an jedem gesellschaftlichen Ort – gegenwärtig sei. Deswegen könne man das Herrschaftssystem auch treffen, indem man die Netzwerke, etwa durch Sabotage an Computern, am Stromnetz oder eben auch einem Eisenbahnnetz. Eine politisch kritikwürdige Theorie, deren Urheber sich wohl auch eifrig bei den Konzepten von <Empire> und <Multitude> bedient hatten – allerdings keine „Handlungsanleitung für den Terror“, wie übereifrige Aktiv-Staatsdiener es alsbald zu entdecken und enttarnen glaubten. 

Dieses Büchlein stach bei einem seiner regelmäbigen Streifzüge auf den Webpages des Versandbuchhandels Amazon.fr sowie des Kulturkaufhauses FNAC einem der führenden Ideologen der „Inneren Sicherheit“ in Frankreich, Alain Bauer, ins Auge. Bauer wird seit Jahren permanent vom Innenministerium und ihm untergeordneten Behörden als „Experte“ konsultiert, der apokalyptische Versionen über die Ausbreitung der „Unsicherheit“ niederschreibt – und gleichzeitig mit seiner eigenen Beraterfirma „Lösungen“, etwa in Form von Videoüberwachungssystemen und anderen technischen Einrichtungen, für teures Geld anbietet. Nur, Bauer scheint nicht nur ein Geschäftsmann mit Sinn fürs Praktische zu sein, sondern tatsächlich zunehmend an seine eigenen Visionen der kriminalpolitischen Apokalypse zu glauben.           

Kurz entschlossen kaufte Bauer, nachdem ihm das Büchlein auf diesem Wege aufgefallen war, gleich 40 Exemplare davon auf und lieb sie an hochrangige Polizei- und  Geheimdienstmitarbeiter verteilen. Aber diesem Zeitpunkt war die Devise ausgegeben worden; Hier entsteht ein neuer Feind für die Innere Sicherheit, eine neue „Ultralinke“ bereitet sich auf den bewaffneten Kampf vor, genau wie Action Directe in den frühen achtziger Jahren. Dass viele der kühnen Theorien in dem Buch des „Komitee der Unsichtbaren“ eher metaphorisch gemeint waren oder jedenfalls niemand konkret an ihrer ernsthaften Umsetzung zu arbeiten schien, fiel nicht weiter auf. Im April 2008 gelang es Alain Bauer, die französische Innenministerin Michèle Alliot-Marie von seiner angeblichen Gefahrenanalyse zu überzeugen. Daraufhin wurden auch alle führenden Köpfe des Apparats der „Inneren Sicherheit“ auf Linie gebracht. 

Zum selben Zeitpunkt war Coupat ins Visier der Ermittler gerückt: US-amerikanische Zollbehörden hatten ihn im Januar desselben Jahres an der Grenze zu Kanada kontrolliert. Coupat und seine Freundin hatten die Grenzlinie im Nordosten der USA illegal zu überqueren versucht – aber nur, weil sie es aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnten, sich einen biometrischen Reisepass zuzulegen, wie Coupat später zu Protokoll gab. Im Kofferraum fanden sie ein Foto vom Time Square in New York, für Touristen nichts Ungewöhnliches. Aber aufgrund der illegalen Einreise, und weil im März 2008 – Coupat und Lévy waren längst wieder in Europa – ein Anschlag von Antimilitaristen auf der Rekrutierungsbüro der US-Army am Time Square Sachschaden verursacht hatte, meldeten die einschlägigen US-amerikanischen Dienste Coupat bei ihren französischen Kollegen als „Verdächtigen“. 

Julien Coupat gilt den Untersuchugnsbehörden als mutmablicher Co-Autor des Büchleins vom „Unsichtbaren Komitee“. Das ist nicht völlig unwahrscheinlich. Coupat und sein Verleger bestreiten dies, aber die Polizei wirft Eric Hazan vor, dass er gleichzeitig – zur Entlastung von Coupat – in einem Radiointerview folgenden Hinweis platzierte: „Julien Coupat ist Philosoph und kein Sabotagespezialist. Er hat ein philosophisches Buch verfasst.“ Dabei ging es um den „Aufstand, der kommt“. Auch andere Intellektuelle, die sich in der Öffentlichkeit zur Entlastung Coupats äuberten, behandelten ihn als Verfasser des kleinen Manifests.  

An den Haaren herbeigezogen scheint jedoch der Zusammenhang zu sein, den die Ermittler sofort konstruierten, als in der Nacht vom 7. auf den 8. November 2008 Sabotageakte mittels Hakenkrallen gegen die Oberleitung französische Schnellzüge an vier Orten verübt worden waren.  

HALBSTÜNDIGES ÜBERWACHUNGSPÄUSCHEN FÜR ANSCHLAG GENUTZT ? 

Julien Coupat und sein Umfeld standen zu dem Zeitpunkt seit mehreren Monaten, seit April, unter intensiver Überwachung. Im Übrigen hatte das französische Innenministerium schon intensive Ermittlungen gegen die kleine Gruppe betrieben, als sie 2005 einen alten Bauernhof im zentralfranzösischen Tarnac aufkauften. Keiner von den jungen Leuten hatte ein regelmäbiges Einkommen, aber mehrere der Eltern sind sehr wohlhabend und scheinen, notierten die Behörden, für ihren Nachwuchs in die Tasche gegriffen zu haben. Monate lang ermittelten die Behörden jedoch wegen „Geldwäscheverdachts“ und besuchten sogar das Anwesen in Tarnac, wie nunmehr aus den Akten des Untersuchungsverfahrens gegen Coupat hervorgeht. 

Am fraglichen Abend waren Coupat und seine Freundin Yldune Lévy in einem Auto im östlichen Pariser Umland unterwegs. Einen Teil der Nacht verbrachten sie in ihrem Mercedes in der Nähe der Kleinstadt Dhuys, wobei ihnen ständig Beschatter folgten – Coupat erklärte später gegenüber dem Untersuchungsrichter, die beiden hätten dies wohl beobachtet, „denn jedes Mal, wenn wir an einer noch so abgelegenen Stelle anhielten, fuhr 30 Sekunden später ein Auto vorbei“. Spät Abends parkten sie dennoch ihren Mercedes und schalteten die Lichter aus – um zu vögeln, wie später alle beide unabhängig voneinander in den Verhören angegeben haben. Ein Schäferstündchen, das wohl zeitlich mit einem sehr kurzen Überwachungspäuschen zusammenfiel – äuberst verdächtigt, wie die Ermittler im Nachhinein befinden. 

Denn... - War es dummer Zufall? Jedenfalls wurde in derselben Nacht auf der nahe gelegenen Bahnlinie ein Anschlag mit Hakenkrallen auf die elektrische Oberleitung verübt. Das entscheidende Indiz, meinten die Ermittler zunächst. Im Nachhinein wirkt es jedoch sehr unwahrscheinlich, dass ein Zusammenhang zwischen dem Aufenthaltsort von Coupat und Lévy sowie dem Sachschaden bestand; die beiden wurden quasi permanent beschattet und wussten dies offenkundig auch.  

HÖCHST MAGERE FAKTENLAGE FÜR DIE ERMITTLER; AN DEN HAAREN HERBEIGEZOGENE ZUSAMMENHÄNGE WERDEN KONSTRUIERT 

Inzwischen haben zwei gröbere Zeitungen, Le Monde und Libération, Ende März 2009 sowie am 16. April 09 eine Analyse  des Dossiers der Ermittler veröffentlicht. Höchstwahrscheinlich hatten sie über die Verteidigung Zugang zu den Akten. Seitdem hat sich erwiesen, wie extrem mager die Faktenlage für die Anklagebehörden ist, und wie äuberst konstruiert der gesamte Zusammenhang wirkt. So notierten die Ermittler für einen vorausgehenden Hakenkrallenanschlag, am 25. Oktober o8, dieser habe „70 Kilometer vom Wohnort der beiden Eltern von Gabrielle H.“ – Coupats früherer Lebensgefährtin – stattgefunden. Man hat schon zwingendere Zusammenhänge vorgefunden. 

Dass die Gruppe um Coupat, die zumindest einen Teil des Jahres über in einer Landkommune in Tarnac lebte, mit den Hakenkrallenanschlägen zu tun gehabt habe, wirkt auch sonst an den Haaren herbeigezogen. So notieren die Ermittlungsbehörden, in der Landkommune habe man das Exemplar eines deutschsprachigen Buchs unter dem Titel Autonome in Bewegung gefunden. Auf Seite 336 dieses Buchs sei ein Presseausschnitt dokumentiert, und in dem abgebildeten Zeitungsartikel wiederum finde sich ein Foto, das eine Hakenkralle zeige - es ging auf der Seite um Castor-Transporte. Also, schlussfolgerte man, habe die Gruppe sich für Hakenkrallen interessiert. Nicht weniger an den Haaren herbeigezogen wirkt eine protokollierte Mutmabung des Untersuchungsrichter: In dem Büchlein des „Unsichtbaren Komitees“ wird in einer Passage die russische Oktoberrevolution als einer der historischen Bruchpunkte, die als Illustrationen für die Möglichkeit radikaler Veränderungen angeführt werden, zitiert. Der Sturm auf das Winterpalais aber, schlussfolgerte der Untersuchungsrichter messerscharf, habe – nach dem westlichen respektive dem damaligen russischen Kalender – am 25. Oktober respektive am 7. November 1917 stattgefunden. Deswegen stünden die Anschläge mit diesem Datum in Verbindung. Am Tag, an dem der Winterpalast gestürmt wurde, aber habe Trotzki in Petrograd Eisenbahnbrücken und Bahnhofe stürmen lassen. Deswegen, so kalkulierte der Untersuchungsrichter weiter (und wirklich „messerscharf“, hihi), habe Coupat möglicherweise Anschläge auf Bahnstrecken vorbereitet. Harharhar... 

„DIE DEUTSCHE SPUR“ FÜHRT ZU AKW-GEGNER/iNNE/N. UND DIE HÄTTEN EIN PLAUSIBLES MOTIV GEHABT... 

Ein Problem für die Ermittler, das sie bislang noch zur Seite schieben, besteht darin, dass es eine relativ einfache und plausible Erklärung für die Hakenkrallenanschläge zu geben scheint. Denn schon am 10. November, also noch vor den Festnahmen in Tarnac, traf ein in Hannover aufgegebenes Bekennerschreiben bei der Berliner Zeitung ein. Dessen Verfasser übernehmen die Verantwortung für eine Reihe von Anschlägen auf den Bahnverkehr – bei denen Personenschäden nach einhelliger Auffassung ausgeschlossen waren -, die in der Nacht vom 7. auf den 8. November sowohl in Deutschland als auch im nordöstlichen Frankreich stattfanden. In jener Nacht rollte nämlich ein Atommüllzug mit Castor-Behältern aus der französischen WAA in La Hague ins niedersächsische Gorleben, wo er – nach massiven Protesten und Aktionen gegen das Bahnnetz vor allem im norddeutschen Raum – an jenem 10. November eintraf. Der erste Tag des Transports fiel zudem auf den Todestag von Sébastien Briat, eines jungen Franzosen, der am 7. November 2004 (im Alter von 24) bei einem Unfall mit einem Castor-Transportzug getötet worden war. 

Die linksliberale Presse attackiert inzwischen die Regierung und die Ermittlungsbehörden massiv wegen des Untersuchungsverfahrens gegen die Coupat-Gruppe - das in relativ breiten Kreisen inzwischen als eine Hexenjagd aufgefasst wird, der nur die politische Auffassung des Hauptverdächtigten, aber keinerlei materielle Anhaltspunkte zugrunde lägen.  Die sozialliberale Tageszeitung Libération insistiert inzwischen massiv darauf, dass die Ermittler sich weigerten, „die deutsche Spur“ auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Im April veröffentlichte die Zeitung eine Reportage mit Gesprächen, die über die Beweggründe militanter Atomkraftgegner Aufschluss geben. 

Unterdessen fanden in der vergangenen Woche, kurz vor der Haftentlassung Julien Coupats, neue Hausdurchsuchungen in Rouen sowie im provençalischen Fortcalquier statt. Im ersteren Falle ging es um „Julien Coupat nahe stehende“ Personen. In der Provence wurde den Betroffenen vorgeworfen, einen führenden Inlandsgeheimdienstler ausgekundchaftet zu haben. In beiden Fällen scheinen die Behörden aber wiederum nichts Verwertbares gefunden zu haben.

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor.