„Was sich herausstellt, unter den äuberen
Erscheinungsformen einer ‚Wirtschaftskrise’, eines
‚Zusammenbruchs des Vertrauens’, einer ‚massiven Ablehnung der
Regierenden’, ist sehr wohl das Ende einer Zivilisation, der
Zusammenbruch eines Paradigmas: jenes der Regierung, die Alles
regelte im Westen – die Beziehung der Wesen zueinander nicht
weniger als die politische Ordnung, die Religion oder die
Organisation der Unternehmen. Es gibt auf allen Ebenen der
Jetztzeit einen gigantischen Kontroll- und Herrschaftsverlust,
dem kein polizeiliches Schamanentum wird Abhilfe verschaffen
können.“
Der Urheber dieser, gelinde ausgedrückt, sehr optimistischen
Revolutionstheorie über die derzeitigen gesellschaftlichen
Abläufe ist der 34jährige Julien Coupat. Am Dienstag, den
26.o5.o9 kam er in der liberalen Pariser Abendzeitung Le Monde,
deren schriftlich gestellte Fragen er aus der Zelle heraus
beantwortet hatte, ausführlich zu Wort.
Aus der Zelle heraus, denn zu dem Zeitpunkt sab
Coupat noch in einem Pariser Gefängnis in Untersuchungshaft, und
dies seit über sieben Monaten. Zwei Tage später kam er
unterdessen frei: Am Donnerstag Nachmittag (28.o5.o9) beschloss
ein Untersuchungsrichter, Coupat „unter strengen Aufsicht- und
Meldeauflagen“ aus der Haftanstalt zu entlassen. Zuvor war seine
Freilassung bei drei Haftprüfungsterminen seit Anfang des Jahres
abgelehnt worden. Nur scheinen die Ermittlungsbehörden ein
ernsthaftes Problem mit ihm zu haben: Aufgrund seiner
ideologischen Positionen oder auch Sprüche meinen sie, mit
Julien Coupat einen quasi „idealen Schuldigen“ gefunden zu
haben. Nur scheinen sie materiell nichts Handfestes gegen ihn in
der Hand zu haben, was die „Terrorismus“vorwürfe gegen ihn oder
sein Umfeld auch nur halbwegs bestätigen könnte.
Der 34jährige, der eine Doktorarbeit über Guy Debord
vorbereitet, war am 11. November 2008 zusammen mit acht weiteren
Personen verhaftet worden. Ihre Festnahme stand im Zusammenhang
mit einem grob
angelegten „Antiterroreinsatz“ der französischen Polizei und
Justiz, der einer von ihnen so genannten „Unsichtbaren Zelle“
auf die Spur kommen sollte. Alle anderen acht angeblichen
Mitglieder der vermeintlichen Zelle waren bis Anfang dieses
Jahres frei gekommen – zuletzt, im Januar O9, Coupats
Lebensgefährtin Yldune Lévy -, nur nicht Julien Coupat selbst.
Ihn hielten die Ermittler für den „Rädelsführer“,
„charismatischen Chef“ oder Guru einer Gruppe, deren pure
Existenz nachzuweisen sie freilich ihre liebe Not hatten.
(ANMERKUNG: Die bürgerlichen Namen der Beteiligten sind
inzwischen ohne in ganz Frankreich dem Zeitungspublikum bekannt,
insofern bestand an dieser Stelle keinerlei Risiko des
„Geheimnisverrats“.)
VORGESCHICHTE EINER KONSTRUKTION
Die „Unsichtbare Zelle“ scheint in den Gehirnen der
Untersuchungsrichter und –behörden aus dem „Unsichtbaren
Komitee“ entstanden zu sein, das im Jahr 2007 als kollektiver
Verfasser des schmalen Büchleins L’insurrection qui vient (Der
Aufstand, der kommt) firmierte. Es erschien in dem
linksradikalen Kleinverlag La Fabrique. Auch dessen Verleger,
Eric Hazan, ist am 9. April im Zusammenhang mit den
Untersuchungen unter „Terrorismus“verdacht vor den
Ermittlungsrichter vorgeladen und mehrere Stunden lang verhört
worden.
Das kleine Buch enthält eine an postmodernen
Ideologieversatzstücken orientierte Theorie über
gesellschaftliche Veränderung und den Bruch mit dem herrschenden
System, die darauf hinausläuft, dass es heute keine Zentren der
Macht mehr gebe, sondern diese in Form von Netzwerken quasi
überall – an jedem gesellschaftlichen Ort – gegenwärtig sei.
Deswegen könne man das Herrschaftssystem auch treffen, indem man
die Netzwerke, etwa durch Sabotage an Computern, am Stromnetz
oder eben auch einem Eisenbahnnetz. Eine politisch kritikwürdige
Theorie, deren Urheber sich wohl auch eifrig bei den Konzepten
von <Empire> und <Multitude> bedient hatten – allerdings keine
„Handlungsanleitung für den Terror“, wie übereifrige
Aktiv-Staatsdiener es alsbald zu entdecken und enttarnen
glaubten.
Dieses Büchlein stach bei einem seiner regelmäbigen
Streifzüge auf den Webpages des Versandbuchhandels Amazon.fr
sowie des Kulturkaufhauses FNAC einem der führenden Ideologen
der „Inneren Sicherheit“ in Frankreich, Alain Bauer, ins Auge.
Bauer wird seit Jahren permanent vom Innenministerium und ihm
untergeordneten Behörden als „Experte“ konsultiert, der
apokalyptische Versionen über die Ausbreitung der „Unsicherheit“
niederschreibt – und gleichzeitig mit seiner eigenen
Beraterfirma „Lösungen“, etwa in Form von
Videoüberwachungssystemen und anderen technischen Einrichtungen,
für teures Geld anbietet. Nur, Bauer scheint nicht nur ein
Geschäftsmann mit Sinn fürs Praktische zu sein, sondern
tatsächlich zunehmend an seine eigenen Visionen der
kriminalpolitischen Apokalypse zu glauben.
Kurz entschlossen kaufte Bauer, nachdem ihm das Büchlein auf
diesem Wege aufgefallen war, gleich 40 Exemplare davon auf und
lieb
sie an hochrangige Polizei- und Geheimdienstmitarbeiter
verteilen. Aber diesem Zeitpunkt war die Devise ausgegeben
worden; Hier entsteht ein neuer Feind für die Innere Sicherheit,
eine neue „Ultralinke“ bereitet sich auf den bewaffneten Kampf
vor, genau wie Action Directe in den frühen achtziger Jahren.
Dass viele der kühnen Theorien in dem Buch des „Komitee der
Unsichtbaren“ eher metaphorisch gemeint waren oder jedenfalls
niemand konkret an ihrer ernsthaften Umsetzung zu arbeiten
schien, fiel nicht weiter auf. Im April 2008 gelang es Alain
Bauer, die französische Innenministerin Michèle Alliot-Marie von
seiner angeblichen Gefahrenanalyse zu überzeugen. Daraufhin
wurden auch alle führenden Köpfe des Apparats der „Inneren
Sicherheit“ auf Linie gebracht.
Zum selben Zeitpunkt war Coupat ins Visier der Ermittler
gerückt: US-amerikanische Zollbehörden hatten ihn im Januar
desselben Jahres an der Grenze zu Kanada kontrolliert. Coupat
und seine Freundin hatten die Grenzlinie im Nordosten der USA
illegal zu überqueren versucht – aber nur, weil sie es aus
grundsätzlichen Erwägungen ablehnten, sich einen biometrischen
Reisepass zuzulegen, wie Coupat später zu Protokoll gab. Im
Kofferraum fanden sie ein Foto vom Time Square in New York, für
Touristen nichts Ungewöhnliches. Aber aufgrund der illegalen
Einreise, und weil im März 2008 – Coupat und Lévy waren längst
wieder in Europa – ein Anschlag von Antimilitaristen auf der
Rekrutierungsbüro der US-Army am Time Square Sachschaden
verursacht hatte, meldeten die einschlägigen US-amerikanischen
Dienste Coupat bei ihren französischen Kollegen als
„Verdächtigen“.
Julien Coupat gilt den Untersuchugnsbehörden als mutmablicher
Co-Autor des Büchleins vom „Unsichtbaren Komitee“. Das ist nicht
völlig unwahrscheinlich. Coupat und sein Verleger bestreiten
dies, aber die Polizei wirft Eric Hazan vor, dass er
gleichzeitig – zur Entlastung von Coupat – in einem
Radiointerview folgenden Hinweis platzierte: „Julien Coupat ist
Philosoph und kein Sabotagespezialist. Er hat ein
philosophisches Buch verfasst.“ Dabei ging es um den „Aufstand,
der kommt“. Auch andere Intellektuelle, die sich in der
Öffentlichkeit zur Entlastung Coupats äuberten,
behandelten ihn als Verfasser des kleinen Manifests.
An
den Haaren herbeigezogen scheint jedoch der Zusammenhang zu
sein, den die Ermittler sofort konstruierten, als in der Nacht
vom 7. auf den 8. November 2008 Sabotageakte mittels
Hakenkrallen gegen die Oberleitung französische Schnellzüge an
vier Orten verübt worden waren.
HALBSTÜNDIGES ÜBERWACHUNGSPÄUSCHEN FÜR ANSCHLAG GENUTZT ?
Julien Coupat und sein Umfeld standen zu dem Zeitpunkt seit
mehreren Monaten, seit April, unter intensiver Überwachung. Im
Übrigen hatte das französische Innenministerium schon intensive
Ermittlungen gegen die kleine Gruppe betrieben, als sie 2005
einen alten Bauernhof im zentralfranzösischen Tarnac aufkauften.
Keiner von den jungen Leuten hatte ein regelmäbiges
Einkommen, aber mehrere der Eltern sind sehr wohlhabend und
scheinen, notierten die Behörden, für ihren Nachwuchs in die
Tasche gegriffen zu haben. Monate lang ermittelten die Behörden
jedoch wegen „Geldwäscheverdachts“ und besuchten sogar das
Anwesen in Tarnac, wie nunmehr aus den Akten des
Untersuchungsverfahrens gegen Coupat hervorgeht.
Am
fraglichen Abend waren Coupat und seine Freundin Yldune Lévy in
einem Auto im östlichen Pariser Umland unterwegs. Einen Teil der
Nacht verbrachten sie in ihrem Mercedes in der Nähe der
Kleinstadt Dhuys, wobei ihnen ständig Beschatter folgten –
Coupat erklärte später gegenüber dem Untersuchungsrichter, die
beiden hätten dies wohl beobachtet, „denn jedes Mal, wenn wir an
einer noch so abgelegenen Stelle anhielten, fuhr 30 Sekunden
später ein Auto vorbei“. Spät Abends parkten sie dennoch ihren
Mercedes und schalteten die Lichter aus – um zu vögeln, wie
später alle beide unabhängig voneinander in den Verhören
angegeben haben. Ein Schäferstündchen, das wohl zeitlich mit
einem sehr kurzen Überwachungspäuschen zusammenfiel – äuberst
verdächtigt, wie die Ermittler im Nachhinein befinden.
Denn... - War es dummer Zufall? Jedenfalls wurde in derselben
Nacht auf der nahe gelegenen Bahnlinie ein Anschlag mit
Hakenkrallen auf die elektrische Oberleitung verübt. Das
entscheidende Indiz, meinten die Ermittler zunächst. Im
Nachhinein wirkt es jedoch sehr unwahrscheinlich, dass ein
Zusammenhang zwischen dem Aufenthaltsort von Coupat und Lévy
sowie dem Sachschaden bestand; die beiden wurden quasi permanent
beschattet und wussten dies offenkundig auch.
HÖCHST MAGERE FAKTENLAGE FÜR DIE ERMITTLER;
AN
DEN HAAREN HERBEIGEZOGENE ZUSAMMENHÄNGE WERDEN KONSTRUIERT
Inzwischen haben zwei gröbere
Zeitungen, Le Monde und Libération, Ende März 2009 sowie am 16.
April 09 eine Analyse des Dossiers der Ermittler
veröffentlicht. Höchstwahrscheinlich hatten sie über die
Verteidigung Zugang zu den Akten. Seitdem hat sich erwiesen, wie
extrem mager die Faktenlage für die Anklagebehörden ist, und wie
äuberst
konstruiert der gesamte Zusammenhang wirkt. So notierten die
Ermittler für einen vorausgehenden Hakenkrallenanschlag, am 25.
Oktober o8, dieser habe „70 Kilometer vom Wohnort der beiden
Eltern von Gabrielle H.“ – Coupats früherer Lebensgefährtin –
stattgefunden. Man hat schon zwingendere Zusammenhänge
vorgefunden.
Dass die Gruppe um Coupat, die zumindest einen Teil des Jahres
über in einer Landkommune in Tarnac lebte, mit den
Hakenkrallenanschlägen zu tun gehabt habe, wirkt auch sonst an
den Haaren herbeigezogen. So notieren die Ermittlungsbehörden,
in der Landkommune habe man das Exemplar eines deutschsprachigen
Buchs unter dem Titel Autonome in Bewegung gefunden. Auf Seite
336 dieses Buchs sei ein Presseausschnitt dokumentiert, und in
dem abgebildeten Zeitungsartikel wiederum finde sich ein Foto,
das eine Hakenkralle zeige - es ging auf der Seite um
Castor-Transporte. Also, schlussfolgerte man, habe die Gruppe
sich für Hakenkrallen interessiert. Nicht weniger an den Haaren
herbeigezogen wirkt eine protokollierte Mutmabung
des Untersuchungsrichter: In dem Büchlein des „Unsichtbaren
Komitees“ wird in einer Passage die russische Oktoberrevolution
als einer der historischen Bruchpunkte, die als Illustrationen
für die Möglichkeit radikaler Veränderungen angeführt werden,
zitiert. Der Sturm auf das Winterpalais aber, schlussfolgerte
der Untersuchungsrichter messerscharf, habe – nach dem
westlichen respektive dem damaligen russischen Kalender – am 25.
Oktober respektive am 7. November 1917 stattgefunden. Deswegen
stünden die Anschläge mit diesem Datum in Verbindung. Am Tag, an
dem der Winterpalast gestürmt wurde, aber habe Trotzki in
Petrograd Eisenbahnbrücken und Bahnhofe stürmen lassen.
Deswegen, so kalkulierte der Untersuchungsrichter weiter (und
wirklich „messerscharf“, hihi), habe Coupat möglicherweise
Anschläge auf Bahnstrecken vorbereitet. Harharhar...
„DIE DEUTSCHE SPUR“ FÜHRT ZU AKW-GEGNER/iNNE/N. UND DIE HÄTTEN
EIN PLAUSIBLES MOTIV GEHABT...
Ein Problem für die Ermittler, das sie bislang noch zur Seite
schieben, besteht darin, dass es eine relativ einfache und
plausible Erklärung für die Hakenkrallenanschläge zu geben
scheint. Denn schon am 10. November, also noch vor den
Festnahmen in Tarnac, traf ein in Hannover aufgegebenes
Bekennerschreiben bei der Berliner Zeitung ein. Dessen Verfasser
übernehmen die Verantwortung für eine Reihe von Anschlägen auf
den Bahnverkehr – bei denen Personenschäden nach einhelliger
Auffassung ausgeschlossen waren -, die in der Nacht vom 7. auf
den 8. November sowohl in Deutschland als auch im nordöstlichen
Frankreich stattfanden. In jener Nacht rollte nämlich ein
Atommüllzug mit Castor-Behältern aus der französischen WAA in La
Hague ins niedersächsische Gorleben, wo er – nach massiven
Protesten und Aktionen gegen das Bahnnetz vor allem im
norddeutschen Raum – an jenem 10. November eintraf. Der erste
Tag des Transports fiel zudem auf den Todestag von Sébastien
Briat, eines jungen Franzosen, der am 7. November 2004 (im Alter
von 24) bei einem Unfall mit einem Castor-Transportzug getötet
worden war.
Die linksliberale Presse attackiert inzwischen die Regierung und
die Ermittlungsbehörden massiv wegen des Untersuchungsverfahrens
gegen die Coupat-Gruppe - das in relativ breiten Kreisen
inzwischen als eine Hexenjagd aufgefasst wird, der nur die
politische Auffassung des Hauptverdächtigten, aber keinerlei
materielle Anhaltspunkte zugrunde lägen. Die sozialliberale
Tageszeitung Libération insistiert inzwischen massiv darauf,
dass die Ermittler sich weigerten, „die deutsche Spur“ auch nur
zur Kenntnis zu nehmen. Im April veröffentlichte die Zeitung
eine Reportage mit Gesprächen, die über die Beweggründe
militanter Atomkraftgegner Aufschluss geben.
Unterdessen fanden in der vergangenen Woche, kurz vor der
Haftentlassung Julien Coupats, neue Hausdurchsuchungen in Rouen
sowie im provençalischen Fortcalquier statt. Im ersteren Falle
ging es um „Julien Coupat nahe stehende“ Personen. In der
Provence wurde den Betroffenen vorgeworfen, einen führenden
Inlandsgeheimdienstler ausgekundchaftet zu haben. In beiden
Fällen scheinen die Behörden aber wiederum nichts Verwertbares
gefunden zu haben.
Editorische
Anmerkungen
Den Text erhielten wir vom Autor.
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