Die Rede vom „gescheiterten Staat"
Legitimierung neoliberaler Weltordnung und militärischer Interventionen

von Ismail Küpeli

06/10

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Inhalt:

1.Einleitung l
2. Was ist „Staatlichkeit"?
2.1. Legitimität
2.2. Souveränität
2.3. Kritik
3. Was ist „Staatszerfall"?
3.1. Formen
3.2. Indikatoren
3.3. Ursachen
3.4. Lösungsansätze
3.5. Kritik
4. Fazit 
Literatur

l. Einleitung

Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion und dem damit ver­bundenen Ende des Kalten Krieges wurden Gewaltkonflikte und die daran beteiligten Akteure in die beiden „Fronten" des interna­tionalen Systems eingeordnet. Der Wegfall des Ost-West-Konfliktes war gleichbedeutend mit dem Wegfall derartiger Möglichkeiten der Feindbildproduktion. In der Folgezeit entstanden zahlreiche poli­tische Konzepte, die diese Lücke zu füllen versuchten. Eines der prominentesten und einflussreichsten Konzepte für die Erklärung der Konflikte im gegenwärtigen internationalen politischen System ist die Staatszerfallstheorie, die ihren Ursprung in Debatten Anfang der 1990er Jahre hat. Hier wurden Gewalt, Unterentwicklung und fehlende Demokratie auf Defizite der Staatlichkeit zurückgeführt.
Staatszerfall wurde zwar auch als „strukturelles Problem im internationalen System" (Schubert 2005: 10) verstanden, weil das internationale System auf Staaten beruht, aber die Gefahren wurden zunächst als regional beschränkt gesehen (vgl. Spanger 2005: 214). Die „primär humanitären Gründe zum Eingreifen" (Schnekker 2004: 5) hätten dazu geführt, dass externe Interventionen die Ausnahme geblieben seien (vgl. Spanger 2005: 214). Dies macht deutlich, dass Interventionen eher dann stattfinden, wenn politi­sche oder ökonomische Interessen der westlichen Staaten betroffen sind.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA wird Staatszerfall in der westlichen Welt als „unmittelbare Gefährdung der eigenen nationalen Sicherheit" (Schneckener 2004b: 5) wahrgenommen, weil angenommen wird, dass „zerfallende [...] Staaten als territoriale Basis für cransnationale Terrornetzwerke" (Schubert 2005: 11) dienen. Durch diese neue Bedrohung würden die Gefahren der ,,räumliche[n] Ausweitung von Zerfallsprozessen" durch „Spill-Over-Effekt[el" (Schneckener 2004b: 7) und durch die „Zunahme von transnationaler Kriminalität" (Schubert 2005: 10) deutlicher werden.

Auch wenn die Verknüpfung von Staatszerfall und Terrorismus zumindest fragwürdig ist und der weiteren Untersuchung bedürfte, bildete sie einen zentralen und oft nicht hinterfragten Punkt in der politischen Debatte.4 In der Einleitung zur Nationalen Sicherheits­strategie (NSS) der Vereinigten Staaten wurde erklärt: „America is now threatened less by conquering states than we are by failing ones" (NSS 2002: 1). Die Begründung hierfür war, dass „failed states [...] and ungoverned areas [...] can become safe havens for ter-rorists" (NSS 2006: 15). Hierdurch wurde ein Argumentationstep­pich ausgebreitet, der ein (militärisches) Eingreifen zur Bewältigung von Staatszerfallsprozessen nicht nur aus moralischen, sondern eben auch aus sicherheitspolitischen Gründen zwingend nahe legt. Bei der Bewältigung von Staatszerfall soll auf „building the security and law enforcement structures that are often the prerequisite for restoring order and ensuring success" (NSS 2006 44-45) gesetzt werden.

Auch in der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) der Europäischen Union wird das „Scheitern von Staaten" als eine „Haupt­bedrohung" gesehen. Staatsversagen wird dabei auf „schlechte Staatsführung, d.h. Korruption, Machtmissbrauch, schwache Institutionen und mangelnde Rechenschaftspflicht sowie zivile Konflikte" und „organisierte Kriminalität oder Terrorismus" zurückgeführt und fährt in dieser Argumentation wiederum zur Untergrabung der „globalen Politikgestaltung" und zu regionaler Instabilität (Europäischer Rat 2003: 4). Die ESS beinhaltet auch Vorschläge, wie auf Staatszerfall reagiert werden soll: „In gescheiter­ten Staaten können militärische Mittel zur Wiederherstellung der Ordnung und humanitäre Mittel zur Bewältigung der Notsituation erforderlich sein" (Europäischer Rat 2003: 7).

Durch dieses Aufgreifen der Staatszerfallsdebatte durch die politi­sche Führung der USA sowie der Europäischen Union ist auch zu erklären, dass das „Phänomen des Staatszerfalls in Forschung und Politik ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt" (Lambach 2005: l) ist. Inzwischen ist umfangreiche Literatur zum Staatszerfall vorzu­finden, die im deutschsprachigen Raum von den Konzepten starke, schwache, zerfallende und zerfallene Staaten bestimmt wird.

Ein umfassender Überblick über diese Debatte ist gerade des­halb erforderlich, weil aus dem scheinbar geschlossenen Fundus einer „Staatszerfallstheorie" seitens der westlichen Staaten sowohl das Recht als auch die sicherheitspolitische Notwendigkeit für militärische Stabilisierungseinsätze abgeleitet wird. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass hiervon keinesfalls die Rede sein kann. Denn die untersuchte Literatur zeigt, dass erhebliche metho­dische und theoretische Defizite bzw. Leerstellen vorhanden sind. Von einem einheitlichen Fundus, der „einfache" und „eindeutige" Antworten nahe legen würde, ist man somit weit entfernt. Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass - durchaus vorhandene - Analysen, die Staatszerfall wesentlich mit westlicher Interessenpolitik in Verbindung bringen, in der politischen Debatte kaum eine Rolle spielen. Hierdurch wird die Problematik einer drohenden Instru­mentalisierung der Staatszerfallsdebatte, bei der sich die politischen Akteure die Teile auswählen, die für ihre Absichten dienlich erschei­nen, zusätzlich unterstrichen.

Die vorliegende Studie soll die Kernkonzepte der Staatszerfallstheorie darstellen und hierüber hinaus einen Beitrag leisten, die Staatszerfallsdebatte gegenüber allzu offener Vereinnahmung von politischer Seite zu immunisieren. In einem ersten Schritt wird hierfür untersucht, wie der Staat definiert wird, weil die Rede vom Staatszerfall voraussetzt, dass eine Vorstellung darüber existiert, was zerfällt. Dabei werden Legitimität und Souveränität als Aspekte der Staatlichkeit dargestellt. Nach einer Kritik der gängigen Definitio­nen von Staatlichkeit werden verschiedene Kategorisierungen von Staatszerfall eingeführt. Ausgehend von den Formen des Staatszerfalls werden die in der Literatur diskutierten Indikatoren, Ursachen und Lösungsansätze näher beleuchtet und gegenübergestellt. Einige generelle kritische Anmerkungen zu der Debatte um Staatszerfall schließen an.

Den kompletten Aufsatz auf der Website von IMI lesen.

Editorische Anmerkung

Der Aufsatz ist bei der Informationsstelle Militarisierung (IMI online) am 7.5.2010, gefördert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, erschienen. Die Spiegelung der Einleitung und der Verweis auf die Erstveröffentlichung erfolgen in Absprache mit dem Autor.

Der Aufsatz kann auf der Homepage des Autors kommentiert werden.