Das Philosophische Wörterbuch  BAND 2

hrg. von Georg Klaus & Manfred Buhr

06/10

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Werturteilsstreit

in der bürgerlichen Gesellschaftstheorie vor allem in den anfänglichen Jahr­zehnten des 20. Jahrhunderts geführte und dann bis in die Gegenwart fortgesetzte Debatte über die Rolle von Wertungen (Werturteilen) in den Sozial­wissenschaften. Es entwickelten sich verschiedene, miteinander oftmals konkurrierende Konzeptio­nen zu dieser Frage, die sich sämtlich im Rahmen bürgerlicher, gegen den Marxismus-Leninismus und gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung ge­richteter Auffassungen bewegten. Von Bedeutung wurde vor allem die Konzeption Max webers, der zentralen Figur des Werturteilsstreites. Nach ihr müssen die Sozialwissenschaften wertfrei sein, dürfen in wissenschaftlichen Begründungszusam­menhängen keine Werturteile auftreten. Diese Konzeption gewann bestimmenden Einfluß im Bereich der positivistisch orientierten bürger­lichen Gesellschaftstheorie, insbesondere in der positivistischen Soziologie und in der Wissenschaftstheorie.

Nach marxistisch-leninistischer Auffassung1 st es Aufgabe jeder wissenschaftlichen Disziplin, ein objektiv-wahres Abbild der Wirklichkeit zu geben, das vom Einfluß subjektiver Wertungen möglichst frei ist (-»• Wahrheit). Dennoch ist die These der Wertfreiheit schon in methodologischer Hinsicht abwegig. Wertungen, Zwecksetzungen usw. wir­ken in aller wissenschaftlichen Tätigkeit mit: bei der Wahl der Untersuchungsobjekte, bei der Ab­bildung empirischer Erfahrungen auf begriffliche Raster, bei der theoretischen Deutung von Zu­sammenhängen oder bei der Auswahl aus kon­kurrierenden Modellen, bei der Mobilisierung der inneren Kräfte des Wissenschaftlers, insbesondere bei der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis, die von immer größerer Bedeutung in allen Wissenschaften wird, schließlich natürlich bei der praktischen Nutzung theoretischer Erkenntnisse. Die These von der Wertfreiheit ist nur dazu an­getan, die hier auftretenden erkenntnistheoreti­schen und weltanschaulichen Probleme der wis­senschaftlichen Arbeit zu entstellen, statt sie zu lösen.

Vor allem aber ist zu betonen, daß diese erkennt­nistheoretische Problematik keineswegs den eigentlichen Inhalt der bürgerlichen Wertfreiheits­these ausmacht. Hinter ihr verbirgt sich vielmehr eine prinzipiell unwissenschaftliche, subjektivistische, gegen die Arbeiterklasse und den Sozialismus gerichtete Gesellschaftskonzeption. Erstens ist die bürgerliche Wertfreiheitsthese mit der Leug­nung der materiellen Gesellschaftsverhältnisse und der materiellen Determiniertheit der gesellschaft­lichen Erscheinungen verbunden. Daher erschei­nen alle Kategorien, welche aus der Analyse der wirklichen gesellschaftlichen Entwicklung gewon­nen sind (z.B. die Begriffe «Klassenkampf», «Fortschritt»), als unbegründbare «Werturteile». In Wahrheit bietet nur die Anerkennung der ma­teriellen Determiniertheit der gesellschaftlichen Erscheinungen und Prozesse und ihre Analyse auf der Basis des historischen Materialismus die Grundlage für ein objektives, von bürgerlichen und subjektivistischenVorurteilenfreies Studium der ge­sellschaftlichen Wirklichkeit.Zweitens behauptet die bürgerliche Wertfreiheitsthese, daß es unmöglich sei, Wertungen, Imperative, Zwecke, moralische Ideale usw., die in idealistischer Manier als Er­zeugnisse individueller und subjektiver Willkür angesehen werden, einer wissenschaftlichen Kritik oder Begründung zu unterziehen (z.B. ist es nach M. weber unmöglich, den Streit verschiedener Interpretationen des Inhalts der Gerechtigkeits­forderung durch eine wissenschaftliche Gesellschaftstheorie zu entscheiden). In Wahrheit er­möglicht es nur die historisch-materialistische Theorie, welche die reale gesellschaftliche Bedingt­heit und Wirksamkeit der ideologischen Erschei­nungen untersucht, Zwecksetzungen, Wertungen usw. sowohl einem vorurteilsfreien Studium als auch einer wissenschaftlich-historischen Kritik, als auch - im Falle einer revolutionären Ideolo­gie - einer wissenschaftlich-historischen Begrün­dung zu unterziehen. Drittens beinhaltet die bür­gerliche Wertfreiheitsthese den Versuch, die Ge­sellschaftswissenschaften auf die passive, positivi-stische und konservative Deskription festzulegen, die nicht die Funktion hat, in den geschichtlichen Verlauf und in die ideologischen Kämpfe einzugrei­fen, dem gesellschaftlichen Handeln der Menschen Wege und Zieie zu weisen. In Wahrheit ist jede Wissenschaft und insbesondere die Gesellschafts­wissenschaft in erster Linie Instrument zur Beherr­schung und Veränderung der Umwelt durch den Menschen.

Ausgangspunkt, Grundlage und Ziel der Gesell­schaftswissenschaften ist die progressive histo­rische Praxis der Menschen, d. h., sie müssen be­wußtes Organ der praktischen geschichtlichen Be­wegung, insbesondere des Kampfes für den Sozia­lismus, sein (-*- Parteilichkeit). Nur mit dieser Bestimmung ist eine umfassende und sinnvolle Er­kenntnisgewinnung in den Gesellschaftswissen­schaften möglich. Die bürgerliche These von der Wertfreiheit der Sozialwissenschaften hingegen ist ein Instrument, das die imperialistische Bour­geoisie - ergänzt durch offen reaktionäre, militant antisozialistische Zielstellungen - benutzt, um die bürgerliche Sozialtheorie in ihren Herrschafts­mechanismus zu integrieren. Viertens schließlich berührt die bürgerliche Wertfreihe;tsthese die Frage nach der Stellung und Rolle der Intelligenz in der Gesellschaft. Die Konsequenz dieser These ist die Auffassung von der «freischwebenden», außerhalb des Kampfes gegensätzlicher Klassen und Gesell­schaftsordnungen stehenden Intelligenz, eine heuchlerische und verlogene Auffassung, die die wirkliche Rolle der Intelligenz entstellt und den Versuch der imperialistischen Bourgeoisie zum Ausdruck bringt, die Intelligenz zu einem hilf­losen, verantwortungslosen Werkzeug ihrer Herr­schaft und Politik zu machen. Die bürgerliche Wertfreiheitsthese ist also kein wissenschaftsmethodisches Prinzip, sondern bringt vielmehr eine reaktionäre und idealistische Gesellschaftskonzeption zum Ausdruck.

Editorische Anmerkung

Der Text wurde entnommen aus:

Buhr, Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S. 1156f
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