Werturteilsstreit
|
in der bürgerlichen
Gesellschaftstheorie vor allem in den anfänglichen
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geführte und dann bis in
die Gegenwart fortgesetzte Debatte über die Rolle von
Wertungen (Werturteilen) in den Sozialwissenschaften. Es
entwickelten sich verschiedene, miteinander oftmals
konkurrierende Konzeptionen zu dieser Frage, die sich
sämtlich im Rahmen bürgerlicher, gegen den
Marxismus-Leninismus und gegen die revolutionäre
Arbeiterbewegung gerichteter Auffassungen bewegten. Von
Bedeutung wurde vor allem die Konzeption Max webers, der
zentralen Figur des Werturteilsstreites. Nach ihr müssen die
Sozialwissenschaften wertfrei sein, dürfen in
wissenschaftlichen Begründungszusammenhängen keine
Werturteile auftreten. Diese
Konzeption gewann bestimmenden Einfluß im Bereich der
positivistisch orientierten bürgerlichen
Gesellschaftstheorie, insbesondere in der positivistischen
Soziologie und in der Wissenschaftstheorie. |
|
Nach marxistisch-leninistischer Auffassung1 st es
Aufgabe jeder wissenschaftlichen Disziplin, ein objektiv-wahres
Abbild der Wirklichkeit zu geben, das vom Einfluß subjektiver
Wertungen möglichst frei ist (-»• Wahrheit). Dennoch ist die
These der Wertfreiheit schon in methodologischer Hinsicht
abwegig. Wertungen, Zwecksetzungen usw. wirken in aller
wissenschaftlichen Tätigkeit mit: bei der Wahl der
Untersuchungsobjekte, bei der Abbildung empirischer Erfahrungen
auf begriffliche Raster, bei der theoretischen Deutung von
Zusammenhängen oder bei der Auswahl aus konkurrierenden
Modellen, bei der Mobilisierung der inneren Kräfte des
Wissenschaftlers, insbesondere bei der Zusammenarbeit von
Wissenschaft und Praxis, die von immer größerer Bedeutung in
allen Wissenschaften wird, schließlich natürlich bei der
praktischen Nutzung theoretischer Erkenntnisse. Die These von
der Wertfreiheit ist nur dazu angetan, die hier auftretenden
erkenntnistheoretischen und weltanschaulichen Probleme der
wissenschaftlichen Arbeit zu entstellen, statt sie zu lösen.
Vor allem aber ist zu betonen,
daß diese erkenntnistheoretische Problematik keineswegs den
eigentlichen Inhalt der bürgerlichen Wertfreiheitsthese
ausmacht. Hinter ihr verbirgt sich vielmehr eine prinzipiell
unwissenschaftliche, subjektivistische, gegen die Arbeiterklasse
und den Sozialismus gerichtete Gesellschaftskonzeption.
Erstens ist die
bürgerliche Wertfreiheitsthese mit der Leugnung der materiellen
Gesellschaftsverhältnisse und der materiellen Determiniertheit
der gesellschaftlichen Erscheinungen verbunden. Daher
erscheinen alle Kategorien, welche aus der Analyse der
wirklichen gesellschaftlichen Entwicklung gewonnen sind (z.B.
die Begriffe «Klassenkampf», «Fortschritt»), als unbegründbare
«Werturteile». In Wahrheit bietet nur die Anerkennung der
materiellen Determiniertheit der gesellschaftlichen
Erscheinungen und Prozesse und ihre Analyse auf der Basis des
historischen Materialismus die Grundlage für ein objektives, von
bürgerlichen und subjektivistischenVorurteilenfreies Studium der
gesellschaftlichen Wirklichkeit.Zweitens
behauptet die bürgerliche
Wertfreiheitsthese, daß es unmöglich sei, Wertungen, Imperative,
Zwecke, moralische Ideale usw., die in idealistischer Manier als
Erzeugnisse individueller und subjektiver Willkür angesehen
werden, einer wissenschaftlichen Kritik oder Begründung zu
unterziehen (z.B. ist es nach M. weber unmöglich, den Streit
verschiedener Interpretationen des Inhalts der
Gerechtigkeitsforderung durch eine wissenschaftliche Gesellschaftstheorie
zu entscheiden). In Wahrheit ermöglicht es nur die
historisch-materialistische Theorie, welche die reale
gesellschaftliche Bedingtheit und Wirksamkeit der ideologischen
Erscheinungen untersucht, Zwecksetzungen, Wertungen usw. sowohl
einem vorurteilsfreien Studium als auch einer
wissenschaftlich-historischen Kritik, als auch - im Falle einer
revolutionären Ideologie - einer wissenschaftlich-historischen
Begründung zu unterziehen. Drittens
beinhaltet die bürgerliche
Wertfreiheitsthese den Versuch, die Gesellschaftswissenschaften
auf die passive, positivi-stische und konservative Deskription
festzulegen, die nicht die Funktion hat, in den geschichtlichen
Verlauf und in die ideologischen Kämpfe einzugreifen, dem
gesellschaftlichen Handeln der Menschen Wege und Zieie zu
weisen. In Wahrheit ist jede Wissenschaft und insbesondere die
Gesellschaftswissenschaft in erster Linie Instrument zur
Beherrschung und Veränderung der Umwelt durch den Menschen.
Ausgangspunkt, Grundlage und Ziel der
Gesellschaftswissenschaften ist die progressive historische
Praxis der Menschen, d. h., sie müssen bewußtes Organ der
praktischen geschichtlichen Bewegung, insbesondere des Kampfes
für den Sozialismus, sein (-*- Parteilichkeit). Nur mit dieser
Bestimmung ist eine umfassende und sinnvolle
Erkenntnisgewinnung in den Gesellschaftswissenschaften
möglich. Die bürgerliche These von der Wertfreiheit der
Sozialwissenschaften hingegen ist ein Instrument, das die
imperialistische Bourgeoisie - ergänzt durch offen reaktionäre,
militant antisozialistische Zielstellungen - benutzt, um die
bürgerliche Sozialtheorie in ihren Herrschaftsmechanismus zu
integrieren.
Viertens
schließlich berührt die bürgerliche Wertfreihe;tsthese die Frage
nach der Stellung und Rolle der Intelligenz in der Gesellschaft.
Die Konsequenz dieser These ist die Auffassung von der
«freischwebenden», außerhalb des Kampfes gegensätzlicher Klassen
und Gesellschaftsordnungen stehenden Intelligenz, eine
heuchlerische und verlogene Auffassung, die die wirkliche Rolle
der Intelligenz entstellt und den Versuch der imperialistischen
Bourgeoisie zum Ausdruck bringt, die Intelligenz zu einem
hilflosen, verantwortungslosen Werkzeug ihrer Herrschaft und
Politik zu machen. Die bürgerliche Wertfreiheitsthese ist also
kein wissenschaftsmethodisches Prinzip, sondern bringt vielmehr
eine reaktionäre und idealistische Gesellschaftskonzeption zum
Ausdruck.
Editorische Anmerkung
Der Text wurde entnommen aus:
Buhr,
Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S.
1156f
OCR-Scan red. trend
|