Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Von unbezahlter Mehr-Arbeit der Lohnabhängigen und dem geklauten Pfingstmontag

06/10

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Von wegen « Solidarität » : Diebstahl an arbeitsfreier Zeit wurde mit der Hilfe für pflegebedüftige Alte gerechtfertigt – Er kommt ihnen jedoch überhaupt nicht zugute…

Es war einmal ein Pfingstmontag in Frankreich. Und dessen traurige Geschichte ging so: Am Ende des Jahres 2003 trat ein großer böser Wolf auf. Nennen wir ihn Jean-Pierre Raffarin; das war der französische Premierminister in den Jahren 2002 bis 2004. Dieser böse Wolf wollte den armen geplagten Lohnabhängigen des Landes ihren Pfingstmontag – als arbeitsfreien Tag in jedem Jahr – rauben. Er hatte jedoch mächtig Kreide gefressen und deswegen seine Stimme verstellt. Deswegen erzählte der Wolf den braven Kinderchen im Lande etwas von „Solidarität“, und dass es den armen geplagten Alten zugute komme. (Frankreich hatte soeben eine Hitzewille im August 2003 hinter sich, die insgesamt 15.000 Tote hinterließ, aufgrund mangelhafter Sorge für die Patienten in Alten- und Pflegeheimen unter diesen Ausnahmebedingungen. Vgl. dazu näher, unseren Artikel von damals: 10.000 TOTE IN FRANKREICHS KRANKENHÄUSERN U. ALTENHEIMEN

Die braven Kinderchen glaubten das Märchen des Wolfs auch, jedenfalls manche von ihnen, obwohl nicht alle ihm zuhörten. So manche Lohabhängige fingen also fürderhin an, am Pfingstmontag – wie an jedem anderen Arbeitstag im Jahr auch – zu malochen. Andere dagegen streikten im ersten Jahr, 2005, dagegen oder ließen sich etwas anderes einfallen, beispielsweise sich vom Onkel Doktor einen „Krankfeierzettel“ ausfüllen. (Vgl. http://www.labournet.de) Ihnen Allen aber wurde die (un)frohe Botschaft verkündet: „Ihr müsste an dem Tag arbeiten!, sonst weint das arme kleine Jesuskind, und die armen Alten sterben uns weiterhin weg – und Ihr seid dann daran schuld.“

Offiziell lautete die Rechtfertigung des Ganzen also: Wir benennen den Ex-Pfingstmontag in „Solidaritätstag“ um. Alle Lohnabhängigen im Lande haben die „freie Wahl“, entweder an diesem Tag voll zu arbeiten – oder aber, im Einvernehmen mit ihrem „Arbeitgeber“, an seiner statt einen anderen bislang arbeitsfreien Tag im Kalenderjahr zu opfern. Die jährliche gesetzliche Arbeitszeit soll also, statt wie bislang (seit dem 1. Februar 2000) 1.600 Stunden, nunmehr 1.607 Stunden betragen. Alles, was an diesem Tag zusätzlich im Land erwirtschaftet wird, soll theoretisch den armen Alten zugute kommen. Die Lohnabhängigen verzichten, ohne deswegen am Monatsende mehr Geld zu bekommen, auf einen freien Tag. Ihr Lohn oder Gehalt wächst also nicht. Die Arbeitgeber bezahlen dafür Sozialabgaben, welche sieben zusätzlichen Arbeitsstunden entsprechen, in die Solidarkassen ein. Aus ihnen soll dann eine Art neuer Pflegeversicherung finanziert werden. Die ganze Nation kommt also für die armen, gefährdeten Senioren auf. So weit die schöne Theorie.

Und nun kommt das Ende vom Märchen: Und dann kam es alles irgendwie anders... Lustig ist, wenn man es irgendwie geahnt hat. Ja doch, wir hätten es erraten können, hätte man uns gefragt. Und hier die Auflösung: Die zusätzlich erwirtschaftete Kohle, das sind jährlich gut zwei Milliarden Euro (2008 waren es 2,29 Milliarden, 2009: 2,21 Milliarden), kommt – jedenfalls zum Teil - überhaupt nicht den armen, geplagten, hitze- oder sonst wie gefährdeten Alten zugute. Denn der französische Staat hat es bislang schlicht versäumt, auch reale zusätzliche Ausgaben im Sozialbereich, etwa für Pflegezwecke, konkret einzuplanen. Doch der Haken an der Sicht ist, dass die dafür theoretisch zur Verfügung stehenden Kredite, falls sie im abgelaufenen Jahr nicht aufgebraucht wurden, nicht im kommenden Jahr noch rückwirkend für den wohltätigen Zweck gewidmet werden können: Sie können nicht nachträglich in den Sozialhaushalt aufgenommen werden. Die Kredite für den Sozialhaushalt sind also, einmal nicht aufgebraucht, dann weg – und bleiben ungenutzt auf staatlichen Konten. Im Jahr 2009 betrug der so angesammelte „Überschuss“ bereits 1,855 Milliarden Europ.

So teilte die Vereinigung AD-PA, welche Direktoren von Alters- und Pflegeheimen organisiert, in einer Presseaussendung vom 18. November 2009 mit, im laufenden Jahr seien 200 Millionen Euro an ungenutzt gebliebenen Krediten für den Sozial-, speziell den Alten- und Pflegebereich, umgewidmet worden. „Schlimmer“, fügte die Vereinigung damals hinzu, „nun organisiert der Staat künftige Zweckentfremdungen solcher Mittel in Höhe von 307 Millionen Euro.“

Nun hat der französische Staat nämlich ferner die glorreiche Idee, dass der doch „die Löcher des (allgemeinen) Sozialversicherungssystems“ mit diesen Geldern notdürftig stopfen könnte. Das Gesamtsystem der französischen Sozialkassen ist schwer defizitär (vgl. http://www.lefigaro.fr ). Unter anderem deswegen, weil:

(1) den Arbeitgebern –zig Milliarden an Erlassen bei den Sozialabgaben aus verschiedenen Einzelgründen gewährt wurden,
(2) eine Beitragserhöhung v.a. für die Arbeitgeber nicht in Betracht gezogen wird, und
(3) die aktuelle Regierung im Prinzip ganz gern den finanziellen Kollaps des Sozialsystems sähe – um strukturelle, tiefe Einschnitte rechtfertigen zu können.

Statt etwaiger arbeitgeberfinanzierter Beiträge fließt das, durch kostenlose Mehrarbeit der Lohnabhängigen zusätzlich erwirtschaftete, zusätzliche Beitragsaufkommen durch den „Solidaritätstag“ also in das allgemeine Sozialversicherungssystem. QED (Was zu beweisen war): Arbeit finanziert Kapital... Wie, bitte, nannte man noch mal abhängige Arbeit, die ohne Bezahlung auskommen muss?

Allerdings, und nun kommt das Beste noch zum Schluss: Wirklich massiv fallen die Leute auch wieder nicht darauf hinein. Trotz Lohnabhängigkeit schaffen es offenkundig immer mehr Menschen, sich dem Arbeitszwang am Pfingstmontag zu entziehen und sich das verlängerte Wochenende zu bewahren. Obgleich wohl mitunter zu dem Preis, arbeitsfreie Zeit an anderer Stelle zu opfern (weil die Unternehmen, ob des entstandenen Chaos’, lieber gleich völlig auf den Versuch verzichten, am Pfingstmontag arbeiten zu lassen – den Tag jedoch als freigenommenen Arbeitstag anrechnen).

Laut jüngsten Erhebungen arbeiteten nur 18 Prozent der Lohnabhängigen in der französischen Privatwirtschaft, und 16 Prozent im öffentlichen Dienst, am diesjährigen Pfingstmontag. Dies stellt, im Vergleich zu 43 respektive 44 Prozent am ersten nicht-offiziell-arbeitsfreien Pfingstmontag im Jahr 2005, einen erheblichen Rückgang des „Aktivitätsgrades“ an dem Tag dar. (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr )

Aktuelle Quellen :

Editorische Anmerkung

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.