Am vergangenen Mittwoch früh kehrten sie in
die Hauptstadt zurück. Am Rande des französisch-afrikanischen
Gipfels am 31. Mai und 1. Juni konnten sie ihr Anliegen
vortragen, und die Weltöffentlichkeit erreichen. Später
demonstrierten sie gemeinsam mit den Kritikern des
israelischen Staatsterrorismus.
Paris am vergangenen Mittwoch (o2. Juni), am Stadtbahnhof Gare
d’Austerlitz, um circa 7.30 Uhr: Ankunft der Männer - und auch
einzelne Frauen - in den gelben Neonjacken, mit dem
stilisierten Fußsymbol und der Aufschrift „Paris/Nizza zu Fuß:
für die Sans Papiers“. Auf den Bahnsteigen wartet schon eine
Menge von UnterstützerInnen. Im Anschluss zieht ein
Demonstrationszug den Vormittag durch quer durch Paris, am
Lyoner Bahnhof, der Place de la République, am Ost- und dem
Nordbahnhof entlang. Boulevard de Magenta, Boulevard Barbès.
Die Menge nimmt zu; 500 bis 1000 Leute, Einwanderer und
Unterstützer/innen, ziehen die breiten Straßen hindurch. Am
Rande stehen Leute und schauen zu, einige winken. Auf der Höhe
der Métro-Station Barbès-Rochechouart sind einige Arbeiter -
meist selbst migrantischer Herkunft - auf dem Trottoir mit
Ausschachtungsarbeiten beschäftigt. Sie schauen herüber; einer
grüßt: „Cousins!“
Schlussendlich kommt die Menge gegen 11 Uhr im „Ministerium
für die Legalisierung aller Einwanderer“ an, dem Gebäude im
18. Pariser Bezirk (rue de Baudelique), das der
Sozialversicherungskasse gehört und seit Juli 2009 durch rund
eintausend Sans papiers oder illegalisierte Einwanderer
besetzt ist. Daran sind vorwiegend Westafrikaner (aus Senegal,
Mali, Côte d’Ivoire) beteiligt, aber auch Tunesierinnen,
einige Pakistaner, und inzwischen hat sich ein Kollektiv von
rund 100 Türken/Kurden angeschlossen.
Trommelwirbel, riesige Transparente werden ausgerollt,
Begrüßungsszenen. Anschließend Kundgebung: Delegierte der Sans
papiers, Marschteilnehmer und eine sehr energische
(tunesische) Teilnehmerin - Samia – reden. Einer verliest das
Kommuniqué, das am Vortag in Nizza verfasst worden war.
Seit dem 12. Oktober 2009 befinden sich rund 6.000
travailleurs sans papiers (oder „undokumentierte Arbeiter“)
ununterbrochen im Streik, um ihre „Legalisierung“ zu
erreichen, prallen aber vielerorts an einer eisenharten
Haltung der Regierung und der Behörden ab. Hinter den Kulissen
ist die Streikbeteiligung jedoch erheblich abgebröckelt, da
das Ausbleiben von Ergebnissen viele entmutigt und da die
Leute von etwas leben müssen. Der sehr spektakuläre Fußmarsch
hat dem Kampf der Migranten für ihre rechtliche Anerkennung -
und die daraus erwachsenden gesellschaftlichen Rechte, denn
nur wer über einen Aufenthaltstitel verfügt, hat ein Recht auf
Bezüge der Arbeitslosenversicherung oder volle Absicherung
durch die Krankenkasse - jedoch neuen Schwung verschafft.
Etwa 80 von ihnen, zusammen mit um die fünfzehn Personen aus
der Unterstützerszene, marschierten seit gut einem Monat zu
Fuß quer durch Frankreich, um von Paris aus Nizza zu
erreichen. Unter ihnen elf, die an der Besetzung im
achtzehnten Pariser Bezirk teilnehmen. Beteiligt an dem Marsch
sind vorwiegend „Schwarzafrikaner“, aber auch Tunesierinnen
und Türken.
Überall, wo sie durchkamen - sie legten 35 bis 40 Kilometer
pro Tag zurück, zum größeren Teil zu Fuß und zu einem Drittel
mit dem Zug -, wurden Unterstützungsveranstaltungen und
Demonstrationen unterstützt. Die französische Linke,
Solidaritätsinitiativen und zum Teil Gewerkschaften
organisierten sich dafür vor Ort. Zahlreiche Rathäuser -
sozialdemokratische, kommunistische, von kleineren
Linksparteien regierte, aber in zwei Fällen auch sogar
Kommunalregierungen der bürgerlichen französischen
Regierungspartei (UMP) - stellten ihnen Turnhallen zum
Übernachten, kostenloses Frühstück oder Abendessen zur
Verfügung. Auch wenn andere Rathäuser, viele konservativ und
einige sozialdemokratisch geführte, ihrerseits jedwede
Unterstützung verweigerten: Insgesamt „wurden wir durch die
Franzosen gehätschelt“, berichtet ein Redner von der ,Coordination
nationale des sans papiers’ am vergangenen Mittwoch auf der
Kundgebung. „Die Lokalpresse hat ihren Job verrichtet, und
überall anständig über uns und unser Anliegen berichtet“.
Zahlreiche Radioberichte ergänzen die Information der
Öffentlichkeit über den Marsch.
Nach Paris kehrten die Sans papiers im Zug zurück, dank der
Unterstützung durch Eisenbahnergewerkschaften (SUD Rail), um
Ärger mit Kontrolleuren zu vermeiden.
Nizza: Fumarschverbot und politischer Erfolg
Am vergangenen Montag, 31. Mai hatten die Marschierenden
pünktlich zum Auftakt des (dort am 31. Mai und 1. Juni
stattfindenden), „Frankreich-Afrika-Gipfels“ von über 40
Staats- und Regierungschefs Nizza erreicht. Bei ihrer Ankunft
dort durften die Sans papiers jedoch nicht zu Fuß in die
Stadt, sondern wurden in einen Bus gesetzt und mussten im
Anschluss in einem relativ entlegenen Außenquartier
demonstrieren. Doch über ihre Ankunft und ihre Demo berichtete
der einflussreiche Rundfunksender ,Radio France Inter’ live.
„Wir durften nicht zu Fuß in die Stadt, sondern wurden durch
Busse der CRS (kasernierten Bereitschaftspolizei) eskortiert,
aber politisch hatten wir gewonnen“, meint einer der Redner am
vorigen Vormittag.
Die Protestmarschierer wollten die versammelten Staatschefs
auf ihre Lage aufmerksam machen. Und sie möchten erreichen,
dass die konsularischen Vertretungen der afrikanischen Staaten
keine „diplomatischen Passierscheine“ mehr ausstellen, die es
den Behörden Frankreichs erlauben, auch Personen ohne gültige
Reisedokumente - mangels vorhandener Ausweispapiere - dennoch
abzuschieben. Die Konsulate der meisten afrikanischen Länder
verhalten sich dabei sehr gefügig gegenüber französischen
Forderungen. Im Gegensatz etwa zu jenen mehrerer Staaten
Lateinamerikas, seitdem deren Linksregierungen - allen voran
jene Ecuadors unter Rafael Correa, anlässlich eines
Abschiebeskandals um zwei seiner Staatsbürgerinnen in Belgien
– im Jahr 2008 erklärten, dass die bei Abschiebungen
unerwünschter Immigranten aus Europa grundsätzlich nicht
länger kooperieren.
Geklaute Sozialbeiträge zurück?!
Die meisten afrikanischen Potentanten reagierten zwar nicht
auf die Forderungen der Protestmarschierer. Die Regierung des
westafrikanischen Mali zeigten sich hingegen bereit, die
protestierenden Sans papiers - unter ihnen einige ihrer
Landsleute - zu empfangen. Malis Präsident „ATT“ (Amadou
Toumani Touré) hatte zwei Unterredungen mit dem malischen
Staatsbürger Boubacar Diallo, der früher als Journalist in
Bamako und Kayes tätig gewesen war.
Mali, das zudem eines der wenigen positiven Beispiele im
französisch kontrollierten (d.h. neo-kolonisierten) Teil des
Kontinents für eine gelungene Demokratisierung „von unten“
ist, seitdem die Bevölkerung im Frühjahr 1991 den Diktator
Moussa Traoré verjagte, hat in den letzten Jahren immer wieder
französischem Druck zur „Rücknahme“ unerwünschter Einwanderer
widerstanden. Ein halbes Dutzend mal wurde in den letzten
Jahren die Unterzeichnung eines „Rücknahmeabkommens“ von
französischer Seite angesetzt - und durch Mali verweigert. Vor
Ort bestehen mehrere zivilgesellschaftliche Initiativen, die
zum Thema arbeiten, wie beispielsweise die AME („Assoziation
abgeschobener Malier“), die sich um zwangsrückgeführte
Migranten kümmern und die Behörden erheblich unter Druck
setzen. (Siehe dazu auch das durch Birgit v. Criegern geführte
Interview mit zwei Vertretern der AME: http://www.trend.infopartisan.net/trd0610/t140610.html
)
Die Behörden Malis haben sich ferner einem Anliegen
angeschlossen, für das seit nunmehr anderthalb Jahren in
Frankreich eine Kampagne von NGOs und
Solidaritätsvereinigungen läuft: Jene Sozialbeiträge von
Landsleuten, die als (zum Teil auch „illegalisierte“)
Einwanderer in Frankreich arbeiteten, dort aber nicht blieben
sondern das Land - freiwillig oder unfreiwillig - wieder
verließen, zurückzuholen. Bisher „klaut“ Frankreich die
Sozial-, Krankenkassen -und Rentenbeiträgen jener
Abgeschobenen oder Ausgereisten, die nicht auf seinem Boden
bleiben und für die solcherlei Beiträge definitiv - ohne
Gegenleistung - „verloren“ sind. Was Mali nun in Verhandlungen
mit den französischen Regierungsstellen erreichen konnten,
war, dass die Behörden des westafrikanischen Landes jedenfalls
im Falle einer freiwilligen Ausreise (also nicht per
Abschiebung erzwungenen Ausreise) zumindest die „umsonst“
geleisteten Beiträge der Betreffenden einsammeln können:
Am Nachmittag des 31. Mai erklärte auch einer der
neokolonialen Vassallen Frankreichs, der Präsident der
Erdölrepublik Congo-Brazzaville: Denis Sassou-Ngessou, er habe
„ein offenes Ohr“ für die Anliegen der Sans papiers. Aus dem
Munde des ultrakorrupten kongolesischen Potentanten, der das
Geld seines Landes stiehlt und auf insgesamt 113 Bankkonten in
Frankreich parkt, ist dies zwar reine Demagogie. Es belegt
aber, dass die Aktion der „Illegalisierten“ breite
Aufmerksamkeit erwecken konnte.
Anlässlich der Pressekonferenz zum Abschluss des neokolonial
geprägten „Frankreich-Afrika-Gipfels“, am Dienstag den 1.
Juni, konnte einer der Vertreter der ,Coordination nationale
des Sans papiers’- der einen Button hatte erhalten können -
ebenfalls teilnehmen. „In vier Metern Entfernung von Nicolas
Sarkozy“, wie er heute Vormittag in der rue Baudelique
präzisierte. Neben dem französischen Präsidenten nahmen der
südafrikanische Staatschef Jacob Zuma, der Präsident des
französischsprachigen Kamerun – Paul Biya - sowie der soeben
bei einer umstrittenen Wahl wiedergewählte Premierminister des
Wachstumslands Äthiopien (10 % Wirtschaftswachstum jährlich),
Meles Zenawi und das Staatsoberhaupt von Malawi – Bingu wa
Mutharika, derzeit auch Vorsitzender der Afrikanischen Union -
an der Pressekonferenz teil. Rund 200 Journalisten waren
gekommen. Drei von ihnen stellten auch kritische Fragen,
darunter nach den Sans papiers und ihrem Marsch, auf die
Sarkozy ausweichend antwortete („Wir haben das Thema Migration
unter einem anderen Aspekt angesprochen“, bezüglich der
qualifizierten bzw. ein Unternehmen gründenden Migranten,
„nicht alle in Frankreich lebenden Afrikaner sind Sans papiers“).
Aber das Thema war unter den Augen der Weltpresse
angeschnitten worden.
Am vorigen Samstag (o5. Juni) veranstalteten die Sans papiers
am Nachmittag einen Protestzug durch Paris, an dem zunächst
rund 1.000 Personen teilnahmen. Um circa 15 Uhr vereinigte
ihre Demonstration sich mit dem Protestmarsch (mit rund 6.000
bis 8.000 Teilnehmer/innen), der an diesem Nachmittag gegen
den israelischen Staatsterrorismus und gewisse Piraterie-Akte
im Mittelmeer stattfand. Die Sans papiers hatten aus diesem
Anlass eine Solidaritätsadresse an die palästinensische
Bevölkerung – „wir ohne Papiere hier, Ihr wie Sans papiers im
eigenen Land“ – und ein Transparent zum selben Thema verfasst.
Editorische Anmerkung
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese
Ausgabe.
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