Die Hetze gegen Hartz IV-BezieherInnen
Bericht vom Seminar „Überlebensformen lokal“


von Anne Seeck

6/10

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Am 4. und 5.6. 2010 führten wir ein Seminar zum Thema „Überlebensformen lokal“ durch. Hiermit gebe ich meinen Vortrag zur „ Hetze gegen Hartz IV-BezieherInnen“ wieder.

Mit dem Sparpaket im Sozialbereich (Streichung des Elterngeldes für Hartz IV-BezieherInnen, Streichung des Rentenversicherungsbeitrages für Langzeitarbeitslose, Wegfall des Übergangsgeldes vom ALG I zum ALG II, Umwandlung von Eingliederungshilfe in Ermessensleistungen, z.B. für Selbständige) bekommt das eine neue Dimension. 2011 sollen 4,3 Milliarden beim Arbeitsmarkt eingespart werden, Tendenz steigend. Die Alimentation der „Nichtproduktiven“ soll drastisch gesenkt werden. Und die Kosten der lebendigen Arbeit sollen drastisch gesenkt werden. Was auf uns jetzt zukommt, haben wir noch nicht erlebt.

Die untere Schicht in der Gesellschaft wird jetzt die Krise zu spüren bekommen.

Langfristig sind wir mit zwei Programmen konfrontiert, dem Bürgergeld der FDP, dass die Leistungen pauschaliert, auf niedrigstem Niveau. Und der „Bürgerarbeit für alle“ der CDU. Einem neuen Arbeitsdienst. Beide Programme treiben uns zur Arbeit, entweder in den Niedriglohnsektor auf dem 1. Arbeitsmarkt, der die Konkurrenz und den Druck auf die Löhne weiter verschärft. Oder wir sind beim Staat angestellt und erfüllen öffentliche Aufgaben, wobei reguläre Arbeit verdrängt wird.

Ich begann den Vortrag mit einer Zusammenfassung einer ähnlichen Veranstaltung zwei Tage zuvor. Ein Journalist, der eine Dissertation zu dem Thema schreibt, hatte über folgendes Thema referiert: Die mediale Unterfütterung von „Schmarotzerdebatten“ – Unterschicht als Unterhaltungsprogramm. Wie das Fernsehen eine neue soziale Klasse konstruiert und inszeniert.

Er hatte vor allem Nachmittagstalkshows im Fernsehen analysiert, die in den 1990er Jahren aufkamen. Inzwischen gibt es den Begriff „Unterschichtenfernsehen“ dafür. In diesen Shows gab es einen neuen Typ von Gästen: „Prolls„, „Assis„ etc., Reality Shows waren extrem billig zu produzieren und sie brachten Zuschauer, es war unglaublich erfolgreich. Die Realität wurde stark emotionalisiert und dramatisiert, der Rohstoff für die Fernsehunterhaltung wurde das Private, Intime, Reale. Damit brachen Dämme in der Gesellschaft. Die „Unterschicht“ wurde in den Sendungen vorgeführt, inszeniert, in einer bestimmten Art und Weise gezeigt.

Er kam schließlich zu dem Begriff Unterschicht, der einerseits ein sozialer Begriff (Armut) sei und andererseits eine moralische Kategorie. (Die Abgrenzung hat eine lange Tradition, siehe das „Lumpenproletariat“, dazu später.) In den 50/60er Jahren war es ein soziologischer Begriff, der eher die soziale Realität beschrieb. Heute wird er immer mehr zu einem stigmatisierenden Begriff mit Zuweisungen. Der Begriff wird mit Bedeutung gefüllt; man spricht den Unterschichtlern den Subjektstatus ab. Sie können demnach nicht handelnde Subjekte sein. Man spricht ihnen einen gesellschaftlichen Wert ab, auf der anderen Seite werden sie dafür verantwortlich gemacht. Es wird eine kulturelle Differenz hergestellt, die sind ganz anders, sie würden nicht unsere Werte und Moral teilen, so werden sie inszeniert.

In den Sendungen wird ein bestimmtes Bild von den Unterschichtlern erzeugt. Es werden größte, persönliche Katastrophen, die soziale Abweichung gezeigt. Die Unterschichtler seien laut, obzön, hemmungslos, aggressiv, asozial, Hängematte, dick, dünn, kriminell, verwahrlost, erziehungsunfähig. Die Darstellung, was Unterschicht sein soll, wird inszeniert. Die Leute werden in die Erwartung gepresst. Dabei wird nur die Stereotypisierung gezeigt, nicht die Abweichung. Der Stereotyp sind: frühe Schwangerschaften, ungeklärte Bindungen, unproduktiv, Leben vor dem Fernseher, können nicht kochen, haben keine Bildung, arbeitsscheu, kleinkriminell. Früher wurde die Unterschicht im Studio gezeigt, heute zu Hause. Der Referent zeigte uns als Beispiele „Vera am Mittag“ im Studio, und „Super Nanny“ zu Hause.

Das Bild von Leuten, die ganz unten sind, wandelt sich. Aus den Opfern werden Täter. Sie werden zu einem kollektiven Negativbild, sind unproduktiv, destruktiv, negativ. Diese Klischees werden inszeniert, in den Inszenierungen wird nicht nach dem Warum gefragt.

Wir fragten uns nach dem Warum. Schon in den 80er Jahren gab es Massenarbeitslosigkeit und die Weltmarktkonkurrenz, auch die Globalisierung begann. Mit 1989/90, dem Sieg des Kapitalismus, bestand keine Konkurrenz mehr zum Realsozialismus und die sozialen Errungenschaften können immer mehr zurückgenommen werden. Aus dem gezähmten Kapitalismus wird der Neoliberalismus, der Abschied von der Idee des Wohlfahrtsstaates nimmt.

Während es früher nur Randgruppen gab, wurde durch die Massenarbeitslosigkeit dieses Milieu immer größer, es bildete sich ein Heer der Überflüssigen. Die Produktiven/Leistungsträger sind nicht mehr bereit, die Unproduktiven/Leistungsempfänger zu finanzieren. Die Mittelschicht würde ausgeplündert, so heißt es oft.

Es ist keine Frage, es gibt diese Probleme und diese Milieus mit Schulden, Erziehungsproblemen, übermäßigem Fernsehkonsum etc., man sollte diese Realität nicht leugnen. Es gibt gute Bücher, wie „Einfach abgehängt“ oder „Leben in der Unterschicht“, die das alles schildern. Aber es gibt zwei Unterschiede in den Büchern zu den Fernsehinszenierungen, es wird nämlich nach den Ursachen gefragt und angesprochen, was geändert werden müßte. Und es ist eine andere Art der Darstellung, es werden nicht mit Häme und Arroganz Inszenierungen gezeigt.

Hauptsächliche Ursache für die Debatte um die „Kultur der Armut“ ist m.E., dass die Prekarität auch in die Mittelschicht eindringt. Die Mittelschicht hat Angst vor dem Absturz und grenzt sich von der Unterschicht ab. Die ökonomische Ursachen werden nicht zur Kenntnis genommen, die soziale Ungleichheit wird kulturalistisch gewendet. Die Unterschichtendebatte heizte Paul Nolte an (Generation Reform), dann gab es eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die den Begriff „abgehängtes Prekariat“ prägte und schließlich die Debatte zwischen Kurt Beck und Henrico Frank, dazu später. Inzwischen gibt es den „frechsten Arbeitslosen“ Arno Dübel. Die Hetze wird weitergehen.

M.E. könnte man auch die Leistungsideologie, die Werte und das Wahlverhalten der Mittelschicht kritisieren. Dazu später, so hat Ulrike Herrmann über die Mittelschicht ein gutes Buch geschrieben.

Nachdem ich das alles zusammengefaßt hatte, kam ich zum eigentlichen Teil meines Vortrages. Dabei bezog ich mich zuerst auf einen Artikel in der Soz, den ich vor kurzem geschrieben hatte.

http://www.sozonline.de/2010/04/arbeitsdienst/#more-715

Ich hatte das Ende der Weimarer Republik mit der Gegenwart verglichen. Trotz Unterschieden hatte ich drei Gemeinsamkeiten festgestellt. Es gibt auch heute folgende Tendenzen, die diskutiert und gefordert werden.

  1. Sozialkürzungen

  2. Arbeitsdienst

  3. Sozialdarwinismus

Das alles dient dazu, den Druck auf die Löhne zu erhöhen, um damit auf dem Weltmarkt „konkurrenzfähig“ zu sein.

zu 1) Kürzung der Sozialleistungen:

Immer wieder fordern Politiker und andere „Experten“ die Senkung der Sozialleistungen.

Hier einige Beispiele:

„Nur wer arbeitet, soll auch essen“, sagte der Arbeitsminister Franz Müntefering 2006.

Die FDP will ein Bürgergeld. Hartz IV sollte durch ein „leistungsfreundlicheres und arbeitsplatzschaffendes Bürgergeld“ ersetzt werden, so Solms. Die Einführung eines Bürgergelds hätte nach den Plänen der FDP zur Folge, dass alle Sozialleistungen, die sich aus Steuern finanzieren, „zusammengefasst“ werden. Dazu zählt die Partei das Arbeitslosengeld II einschließlich der Leistungen für Wohnen und Heizung, das Sozialgeld, die Grundsicherung im Alter, die Sozialhilfe, den Kinderzuschlag und das Wohngeld.

Der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz will den Hartz-IV-Regelsatz um 30 Prozent kürzen, im Gegenzug will er die Hinzuverdienstmöglichkeiten verbessern. Die fünf Wirtschaftsweisen und Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut forderten die Senkung von Hartz IV um 30% mit gleichzeitiger Kopplung eines Arbeitsdienstes, so nennen sie das natürlich nicht. Die Leute sind dann gezwungen, jeden Job anzunehmen, weil der Regelsatz nicht zum Leben reicht. Keine Rede von Arbeitszwang auf Hungerniveau. Die Kommunen können dann auch an die Privatwirtschaft verleihen. Für mich logisches Fazit: Der Niedriglohnsektor soll ausgebaut werden.

Der Philosoph Peter Sloterdijk will die Sozialsysteme durch eine Kultur des Schenkens ersetzen. So wird die Entscheidung über Leben und Tod den Launen der Mäzene überlassen.

Der Professor Gunnar Heinsohn kritisierte die hohen Sozialkosten. Der Staat solle verhindern, dass die Unterschicht wächst. Die Armen sollen sich nicht vermehren. Aus dem Ausland sollten auch keine „Niedrigleister“ kommen, denn der Nachwuchs würde die „Bildungsschwäche“ weiterschleppen. Die Sozialleistungen sollten wie in den USA auf fünf Jahre begrenzt werden, dann würden „Frauen der Unterschicht Geburtenkontrolle“ betreiben.

Auch der neue Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, hält eine Senkung der Hartz IV-Sätze für möglich, das liegt an dem Bundesverfassungsurteil vom 9.2.2010. Betroffene hatten gegen die Hartz IV-Regelsätze geklagt. Das Bundesverfassungsgericht sollte entscheiden. Am 9. Februar 2010 traten die BundesverfassungsrichterInnen auf die Bühne. Den RichterInnen war natürlich nicht aufgefallen, dass die Hartz IV- Regelsätze zu niedrig sind. „Da nicht festgestellt werden kann, dass die gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeträge evident unzureichend sind, ist der Gesetzgeber nicht unmittelbar von Verfassungs wegen verpflichtet, höhere Leistungen festzusetzen”. (BVerfG Pressemitteilung)

Und der Höhepunkt: „Es kann ebenfalls nicht festgestellt werden, dass der für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres einheitlich geltende Betrag von 207 Euro zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums offensichtlich unzureichend ist” (RdNr.155BVerfG, 1 BvL,1/09 vom 9.2.2010, Absatz-Nr. 155) Von einer Anhebung der Regelsätze stand also nichts im Urteil. Sie waren nur zur Methodenkritik fähig. Sie kamen zu dem Urteil, dass der „Gesetzgeber“ ein anderes Berechnungsverfahren beschließen soll. Ihre Phraseologie aus den Leitsätzen zum Urteil des Ersten Senats vom 9. Februar 2010 lautete dann so: „Zur Ermittlung des Anspruchumfangs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen.“ Sie faselten dann noch ein wenig von Menschenwürde. Für diese „phänomenale“ Feststellung wurden die hochbezahlten Bundesverfassungs-richterInnen von den autoritätsfixierten „ExpertInnen“ im Lande bejubelt.

Mehr dazu: http://www.direkteaktion.org/198/der-sturm-der-karlsruher-richter

Für FDP-Chef Guido Westerwelle trug die Diskussion über das Karlsruher Urteil „sozialistische Züge“. „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.“, so Westerwelle.

Um den Sozialabbau und die Sozialkürzungen abzufedern, wird die Armutsindustrie ausgebaut. Die Vertafelung der Gesellschaft schreitet voran.

1993 wurde die erste Tafel in Berlin gegründet. Seit der Hartz IV-Einführung 2005 ist die Zahl der Tafeln von damals 320 auf mehr als 800 (Ende 2008) gestiegen. Über 1 Mio. Menschen nutzen die Tafel mittlerweile. Allein in Berlin versorgen die Tafeln über 40 Ausgabestellen von LAIB und SEELE mit Lebensmitteln. Während es anfangs eine Hilfe für Obdachlose war, kommen heute Erwerbslose, Alleinerziehende, Rentner und Prekäre zu den Lebensmittelausgaben. Zusätzlich gibt es Sozialkaufhäuser, Sozialläden, Sozialmärkte etc. Während sich die Spender aus der Wirtschaft so als großzügige „Wohltäter“ darstellen können, sind die Nutzer jetzt „Almosenempfänger“. Dabei profitieren die „Spender“ aus der Wirtschaft von der sozialen Ungleichheit. Und die Politiker brauchen die Regelsätze nicht zu erhöhen, es gibt ja die Armutsindustrie. Früher hieß es „Geh doch nach drüben!“ heute: „Geh doch zur Tafel!“ Die Armutsindustrie stützt eine menschenunwürdige Sozialpolitik. Statt Almosen globale soziale Rechte!

Zu 2) Arbeitsdienst

Mit der Hetze soll auch erreicht werden, dass alle das „Arbeitsleid“ erfahren.

Die Gruppe Krisis schreibt in ihrem „Manifest gegen die Arbeit“, dass die Geschichte der Moderne die Durchsetzungsgeschichte der Arbeit ist, und diese ist blutig. „Denn nicht immer war die Zumutung, den größten Teil der Lebensenergie für einen fremdbestimmten Selbstzweck zu vergeuden, derart verinnerlicht wie heute. Es bedurfte mehrerer Jahrhunderte der offenen Gewalt im großen Maßstab, um die Menschen in den bedingungslosen Dienst des Arbeitsgötzen buchstäblich hineinzufoltern.“ (Krisis, S.21) Die absolutistischen Herrscher monetarisierten und erhöhten die Steuern. Die Menschen mußten jetzt „Geld verdienen“. Sie wurden vom Land in die Manufakturen und Arbeitshäuser getrieben. Gerade in Zeiten der Industrialisierung trug Arbeit zur Dummwerdung des Menschen bei, denn die Arbeit machte oft stumpfsinnig. Was machte aber die entstehende Arbeiterbewegung? Sie überhöhte die Arbeit und grenzte sich vom Lumpenproletariat ab. So wetterte Engels gegen das Lumpenproletariat, dass sich auf Kosten der Arbeiter durchfressen würde. Das Proletariat solle gefälligst jede Arbeit annehmen. Sonst erschlaffe das Proletariat und sei keine revolutionäre Klasse mehr. Die Arbeiterbewegung wurde „selber zu einem Schrittmacher der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft...Der Klassenkampf ist zu Ende, weil die Arbeitsgesellschaft am Ende ist...Wenn Sozialdemokratie, Grüne und Ex-Kommunisten sich in der Krisenverwaltung hervortun und besonders niederträchtige Repressionsprogramme entwerfen, dann erweisen sie sich damit nur als legitime Erben einer Arbeiterbewegung, die nie etwas anderes wollte als Arbeit um jeden Preis.“ (Krisis 25f.)

Nicht nur die Durchsetzungsgeschichte der Arbeit ist lang, auch die Faulheitsdebatte hat eine lange Tradition.

Hans Uske hat im Buch „Das Fest der Faulenzer“ von 1995 die Tendenzen des Massenarbeitslosigkeitsdiskures in der BRD beschrieben. Ca. 1955-1975 existierte eine Vollbeschäftigungsgesellschaft. Massenarbeitslosigkeit war ein Problem vergangener Zeiten, nur in der Krise 1966/67 ist sie ein kurzzeitiger Fremdkörper. Mitte der 1970er Jahre endet mit der Krise die Vollbeschäftigung. Von 1975 bis ca. 1985 wird die Arbeitslosigkeit zu einem innenpolitischen Thema. Sie wird als gesellschaftliches Kernproblem wahrgenommen. Die meisten Arbeitslosen seien echte Arbeitslose mit schwerem Schicksal. Aber es werden auch Drückeberger vermutet, sie wollen nicht arbeiten. So Norbert Blüm 1983: „Aber ist es nicht eine moderne Form von Ausbeutung, sich unter den Palmen Balis in der Hängematte zu sonnen, alternativ vor sich hin zu leben im Wissen, daß eine Sozialhilfe, von Arbeitergroschen finanziert, im Notfall für Lebensunterhalt zur Verfügung steht?“ Ab Mitte der 1980er Jahre gewöhnt man sich an die Arbeitslosigkeit, sie wird zum Randproblem. Man entdeckt immer mehr „unechte“ Arbeitslose. Unechte Arbeitslose sind jetzt auch Arbeitslose, die nicht können, wie unbrauchbare, alte, falsch oder nicht qualifizierte, behinderte Arbeitskräfte. Und es sind Arbeitslose, die nicht arbeiten dürfen, wie Frauen und Ausländer. Es findet eine De-Thematisierung, Entproblematisierung und Marginalisierung der Massenarbeitslosigkeit statt. Mit der „Wende“ 1982 wird der Aufschwung zum beherrschenden Thema, nach „13 Jahren sozialliberaler Mißwirtschaft“. Ausgangspunkt 1990 werden dann „40 Jahre kommunistische Mißwirtschaft“. Jetzt wird von Aufschwung Ost gesprochen...

Die Geschichte des Arbeitszwanges ist also lang und sie geht weiter.

Anfang der Jahres 2010 verschärfte sich die Debatte um die Arbeitspflicht. Der stellvertretende CDU-Vorsitzende Roland Koch forderte eine Arbeitspflicht als Gegenleistung für staatliche Unterstützung. "In Deutschland gibt es Leistungen für jeden, notfalls lebenslang. Deshalb müssen wir Instrumente einsetzen, damit niemand das Leben von Hartz IV als angenehme Variante ansieht", sagte der hessische Ministerpräsident der "Wirtschaftswoche". ""Wir müssen jedem Hartz-IV-Empfänger abverlangen, dass er als Gegenleistung für die staatliche Unterstützung einer Beschäftigung nachgeht, auch niederwertiger Arbeit, im Zweifel in einer öffentlichen Beschäftigung", so Koch. Für ihn kann es kein "funktionierendes Arbeitslosenhilfe-System geben, das nicht auch ein Element von Abschreckung enthält. Sonst ist das für die regulär Erwerbstätigen, die ihr verfügbares Einkommen mit den Unterstützungssätzen vergleichen, unerträglich."

Ein Instrument, um einen Arbeitsdienst einzuführen, ist die Bürgerarbeit, die bisher nur getestet wurde. In Bad Schmiedeberg begann ab 1.12.06 für ein Jahr ein Modellprojekt. Im September 06 waren es noch 15,6% Arbeitslose; im Dezember 06 7,8%. Für Bürgerarbeit gibt es weniger Geld als bei ABM. Die Bürgerarbeiter zahlen die Sozialabgaben selbst. Das Geld fließt in zwei Beschäftigungsgesellschaften. Schwer vermittelbare Hartz-IV-Empfänger säubern städtische Grünanlagen, sie üben das Krippenspiel mit Kindern in der Kirche ein, sie lesen Altenheimbewohnern Geschichten vor, sie bringen den Fuhrpark der freiwilligen Feuerwehr in Schuss. Wenn die Rechnung aufgeht, soll das Modell Bad Schmiedeberg flächendeckend eingeführt werden. Bürgerarbeiter bekommen weniger Geld als Ein-Euro-Jobber. Bürgerarbeit ermöglicht nicht ein Leben oberhalb der Armutsgrenze. Sie werden zum totalen Arbeitseinsatz freigegen. Nutznießer ist nur der Maßnahmeträger. Reguläre Arbeitsplätze werden verdrängt. Die Bürgerarbeiter bleiben am Rande der Gesellschaft hängen und leben weiterhin in Armut.

Die in Sachsen-Anhalt erprobte Bürgerarbeit soll nun bundesweit umgesetzt werden. Ab 2011 könne die Bürgerarbeit bundesweit beginnen. Sie wird mit Bundesmitteln und Mitteln des Europäischen Sozialfonds in einem zeitlichen Umfang von 30 Wochenstunden und einem Arbeitnehmerbrutto von 900 Euro monatlich gefördert.

Ein weiteres Instrument ist ein Programm für junge Hartz IV-BezieherInnen. Sie sollen binnen sechs Wochen nach Antragstellung ein verpflichtendes Arbeits- und Fortbildungsangebot sowie umfassende Betreuung erhalten. Bei Ablehnung sollen die Leistungen gekürzt werden. Von der Leyen sprach von einer Art Coach, der sie „beim schwierigen Übergang von der Schule in die Ausbildung bis in den Beruf hinein an die Hand nimmt“. Sie sagte der „Welt am Sonntag“: „Entweder wird der Schul- oder Berufabschluss nachgeholt, oder es gibt einen Arbeitsplatz oder große Probleme wie Sucht werden konsequent angegangen.“

Der Coach „kennt sich aus im System, er macht Mut und sorgt auch dafür, dass der Jugendliche pünktlich im Betrieb oder der Schule erscheint“, so von der Leyen. Westerwelle sagte dazu: „Diesem Angebot muss der junge Hartz IV-Empfänger nachkommen, sonst werden ihm nach geltender Rechtslage die Hilfsleistungen gekürzt.“

Zu 3) Sozialdarwinismus

Hier wird oftmals in Produktive und Unproduktive gespalten. Höhepunkt dieser Debatte war der Vergleich von Hartz IV-Beziehern mit „Parasiten“ im Clement-Report „Vorrang für die Anständigen“.

Es hat eine lange Tradition, dass die Unterschichten des Müßigganges verdächtigt wurden. Es war ein „genialer“ Einfall, als die schmarotzenden Herrschaften die Unterschichten des Müßiggangs verdächtigten.

Die Mittelschicht grenzt sich von der Unterschicht ab. Sie wähnt sich an der Seite der Vermögenden, die sich auf ihre Kosten bereichern. Ulrike Hermann schreibt: „Die Mittelschicht kann also nicht nur Opfer, sondern muss auch Täter sein. Wenn sie absteigt, dann nur, weil sie an diesem Abstieg mitwirkt. Sie selbst ist es, die für eine Steuer- und Sozialpolitik stimmt, die ihren Interessen völlig entgegengesetzt ist.“ Lobbyisten zielen auf das Selbstbild der Mittelschicht. „Sie sprechen deren Träume und Hoffnungen an, bedienen deren Ängste und Vorurteile. Wenn Lobbyisten Privilegien für die Reichen durchbringen wollen, dann müssen sie der Mittelschicht das Gefühl geben, dass diese ebenfalls zur Elite gehört...Die Mittelschicht wird so lange für die Reichen zahlen, wie sie sich selbst zu den Reichen zählt.“ ( http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,687760,00.html )

Die Abgrenzung der Mittelschicht von der Unterschicht wird auch immer wieder von Politikern vollzogen. So meinte Sarrazin (SPD), dass sich „Arbeitslose schon für 3,76 Euro völlig gesund, wertstoffreich und vollständig ernähren“ können. Damit ließ sich sogar noch sparen, denn im Regelsatz seien 4,25 Euro pro Tag vorgesehen. Außerdem hätten es Hartz IV-Bezieher gerne warm, die Temperatur würden sie mit dem Fenster regulieren. Bei Hartz IV sei Luxus eben nicht angesagt. „Kalt duschen ist doch eh viel gesünder. Ein Warmduscher ist noch nie weit gekommen im Leben.“ Mißfelder (CDU) meinte, dass die Erhöhung von Hartz IV ein „Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie“ sei. Für den ehemaligen Grünen Oswald Metzger waren Sozialhilfebezieher Menschen, deren Lebenssinn daran bestehe, Kohlenhydrate und Alkohol in sich hineinstopfen. Für Buschkowsky wandert das Geld für Hartz IV-Bezieher in Zigaretten, ins Pay-TV, an die Tanke oder in Suchtmittel wie Alkohol, bei den Kindern würde nichts ankommen. Daher müssten Sachleistungen im Vordergrund stehen.

Auch die Medien beteiligen sich an der Hetze. Es sind immer zwei Tendenzen. Die Hartz IV-Bezieher hätten keinen Arbeitsanreiz, denn Niedriglöhner hätten oft weniger als Hartz IV-Bezieher. Ihnen fällt dann nicht ein, dass die Löhne erhöht werden müssen. Nein der Regelsatz muß runter. Und um das rechtfertigen zu können, werden Hartz IV- Bezieher als Faulenzer und Betrüger dargestellt. Die BILD hetzt seit vielen Jahren mit folgenden Titeln:

  • Wenn sich Putzen nicht mehr lohnt

  • Arbeitslos und stolz darauf?

  • Hartz IV sollte regional angepasst werden

  • Stütze ist oft höher als der Lohn eines Geringverdieners

  • Wenn Arbeit nicht mehr lohnt

  • Rekord-Quote bei Hartz IV-Missbrauch

  • So einfach ist es den Staat zu bescheißen

  • Hartz IV-Abzocke

  • Hartz IV-Betrüger

  • Sozialabzocker „Florida Rolf“, „Karibik-Klaus“

  • Wer arbeitet, ist der Dumme!

  • Wer arbeitet, ist ein Idiot

  • Die üblen Tricks der Hartz IV-Schmarotzer !...und wir müssen zahlen

  • Villa mit Hartz IV

  • Die Wahrheit über Hartz IV: In München gibt`s am meisten Geld! Jeder fünfte Bezieher ist Ausländer. Manche kriegen über 2000 Euro.

  • "Seriöse" Blätter wie Spiegel oder Focus titeln: Kaum Arbeitsanreiz. Üblicherweise wird immer das Arbeitslosengeld II den Löhnen von Niedriglöhnern gegenübergestellt. "Logisches" Fazit: Die Hartz IV- Ansprüche müssen gesenkt werden.

In einem Artikel des Focus "Generation Überflüssig" schildert z.B. eine Alleinerziehende "gestenreich", warum sie seit 10 Jahren keinen Job hat. Der Schluß des Berichtes über sie „`Ich kann gar nicht mehr arbeiten, und ich konnte es auch nie.` Das Ende aller Hoffnungen- mit 31." Der Bericht über eine Familienmutter mit 5 Kindern endet: "Arbeiten wolle sie schon, beteuert die übergewichtige Mutter. `Allerdings nur in Marzahn, Hellersdorf oder Hohenschönhausen, vielleicht zwei bis drei Stunden am Tag.` Berlin verkommt..." Ein 26Jähriger Vater eines Babys wird so beschrieben: "Gearbeitet hat er noch nie. `Hat sich nicht so ergeben, ist aber normal.` Die meisten seiner Verwandten beziehen Hartz IV. Auf die Bewerbungen, die er geschrieben hat, bekam er nie Antwort, das Arbeitsamt hat ihn längst abgeschrieben. Jetzt will er nicht mehr." Der letzte Fall in dem Bericht ist ein arbeitsloser Schreiner, „`der gelassen wirkt`. Das Geld reicht sogar für `ein 300 Liter- Zierfischbecken und für die Hunde Hupe und Lady`. Mit 48 strebe er einen Führerschein an. `Führerschein nebst Autokauf von bis zu 2500 Euro zahlt der Staat.`" Der Bericht über den Schreiner und der ganze Artikel endet mit dem Satz: "Eigentlich fehlt es uns an nichts". Paradies Hartz IV für Arbeitsscheue, könnte man meinen. Wo wird diese Meinungsmache enden?

Nach Florida Rolf und Schröders "Es gibt kein Recht auf Faulheit" kam Hartz IV.

Noch paar Medieninszenierungen a la "Kurt Beck und Henrico Frank- "Deutschlands frechster Arbeitsloser" - dann ist es soweit. Hartz V. Henrico Frank hatte Kurt Beck auf einem Weihnachtsmarkt angesprochen und ihn wegen Hartz IV kritisiert. Daraufhin bot ihm Kurt Beck Jobs an, die Henrico Frank ablehnte. Er bekam schließlich unabhängig von Beck einen Job bei einem Musiksender und arbeitet dort seit Jahren. Henrico Frank, der dem Medienrummel nicht gewachsen war und sich nicht zum Büttel eines Kurt Beck - als integrierter Bauhelfer, Tellerwäscher, Müllsammler, Straßenbauer oder sonstiges- machen ließ, nach der Devise "Wer sich wäscht und rasiert, findet einen Job". Die Frau des Chefs einer Firma, die den Punk einstellen wollte, sagte: "Er (Kurt Beck) hat ausgesprochen, was alle denken. Wer wirklich arbeiten will und ordentlich auftritt, der findet auch Arbeit."

Bei der Süddeutschen Zeitung Online findet sich dann auch, was so gedacht wird: "Es gibt Leute, die arbeiten 40 Stunden die Woche, um am Ende des Monats mit 1200 Euro ihre 4köpfige Familie zu versorgen. Jeder andere hat alles dafür zu tun wieder in Arbeit zu gelangen und ist an seiner Situation selbst Schuld." Bravo, haben das die Herrschenden nicht prima gemacht, Niedriglöhner gegen Erwerbslose gehetzt. Kein Hinterfragen der Lohnhöhe und Vergleich mit den Verdiensten vieler Herrschaften. Oder "Den Bärendienst erweisen den Arbeitslosen andere...die Journalisten zum Beispiel, die sich auf die Seite eines Menschen stellen, dem seine Asozialität geradezu aus dem Gesicht trieft und dafür sogar einen Menschen als Volltrottel hinstellen, der trotz seines Politikerseins einmal ungeschminkt die Wahrheit sagt..." Da kocht Volkes Stimme. Man achte auf die Wortwahl "Asozialität". "Eine absolute Frechheit und unfassbar sollte dort "keine" 30% Sperre erfolgen." Oder "Das Ärgerliche an derlei Geschichten ist ja nicht nur, dass derartige Sozialschmarotzer sich auch noch groß+breit mit Bild in den Medien genüsslich sonnen dürfen, sondern dass deren vollkommen inakzeptables Verhalten den ehrlichen und arbeitenden Menschen sowie Unternehmern dieser Republik richtig Geld kostet. Wann endlich begreift dieser schläfrige, Milliarden Euro verschlingende und offensichtlich maßlos inkompetente Moloch namens "Arbeitsagentur", dass es höchste Zeit ist, zu handeln, und allen Henricos dieser Republik den Geldhahn komplett zu sperren." Da haben wir die Straflust. Kein Geld und wie geht's weiter im Kampf gegen "Parasiten" (Begriff aus dem Report "Vorrang für die Anständigen" des Arbeitsministeriums unter Clement) und "Sozialschmarotzer".

Das Problem der sozialen Ungleichheit wird kulturalistisch gewendet. „Kultur der Armut“ heißt dann: Nicht das fehlende Geld sei das Problem, sondern die kulturelle Spaltung der Gesellschaft. Armut sei auch nur die Folge der Unterschichtenkultur. Die Schichtung der Gesellschaft habe weniger wirtschaftliche, denn kulturelle Ursachen. Mangelnde berufliche Qualifikation sei die wichtigste Ursache für Langzeitarbeitslosigkeit. Das Krankheitsrisiko bei Unterschichtlern sei doppelt so hoch. So hätten fast ein Drittel der Unterschichtsfrauen starkes Übergewicht. Die Unterschicht sei bildungsfern und hätte einen mangelnden Arbeits- und Aufstiegswillen. Die soziale Situation der Unterschicht sei eine Folge der Lebensführung. Die Unterschichtler seien Konsumenten des Privatfernsehens, ernähren sich falsch und seien bildungsfremd. Benachteiligung äußere sich weniger als Mangel an Geldressourcen, denn als Mangel an kulturellen Ressourcen. Fehlende Bildung, Passivität und Disziplinlosigkeit seien Kennzeichen der Unterschicht. Unterschichtler würden ihre viele Freizeit vor der Glotze verbringen. ‘Mediale Verwahrlosung’ nennt Christian Pfeifer das.

Während früher der Arbeiter Subjekt der Geschichte war (Arbeiterbewegung), sei der Arme heute nur noch Opfer, ein Klassenbewußtsein hat er nicht mehr. Unterschichtler hätten dagegen einen Hang zu autoritären Verhältnissen.

Das Ziel ist immer das Gleiche: Der Zorn der Verlierer soll auf jene gerichtet werden, denen es noch schlechter geht. Es soll Hass gegen Minderheiten, die sich nicht wehren können, geschürt werden. Damit soll eine gesellschaftliche Stimmung erreicht werden, die den weiteren Sozialabbau ermöglicht.

Die Stimmungsmache gegen faule Arbeitslose bereitet Leistungskürzungen bei Erwerbslosen vor. Wenn Arbeitslose Ansprüche an Lohn, Qualifikation und Arbeitsbedingungen haben, dann verteidigen die Lohnabhängigen ihre Interessen. Mit der Verleumdung als Faulenzer soll der berechtigte Widerstand gebrochen werden.

Die Ursache der Erwerbslosigkeit sind nicht zu hohe Sozialleistungen oder Faulheit. Die steigende Produktivität läßt die Nachfrage nach Arbeitskraft sinken.

Es geht um die totale Flexibilisierung der Menschen. Die Opfer dieser Deformation identifizieren sich mit der Deformation. „Wir gehören nicht zu den Millionen Arbeitslosen.“ Es gibt ein „Klassenbewußtsein“ unter jenen, die sich für nützlich und tüchtig halten, die sich von denen unten abgrenzen.

Rainer Roth hat Argumente gegen die Faulheitsvorwürfe veröffentlicht. Politik, Wirtschaft und Medien versuchen arbeitslose und beschäftigte Lohnabhängige zu spalten. Die Beschäftigten sollen sie dabei unterstützen, die Sozialleistungen für Erwerbslose zu kürzen und den Druck zu jeglicher Arbeit zu erhöhen. Damit schaden die Beschäftigten sich aber selbst. Denn die Kürzungen richten sich gegen alle Lohnabhängigen. Arbeitslose werden zu Lohndrückern. Und darum geht es auch, der Druck auf die Löhne soll zunehmen. Die Lohnabhängigen sollen bereit sein, zu möglichst niedrigen Löhnen zu arbeiten. Die Demütigung der Arbeitslosen ist ein Erziehungsprogramm zur Disziplinierung der Beschäftigten. Die Schaffenden sollen glauben, dass Arbeitslosigkeit blöde macht und nicht ihre Arbeit. Man erträgt nicht, dass jemand „Lohn“ bezieht, ohne zu arbeiten, weil alle davon träumen, das zu erreichen.

2002 begann eine Forschungsgruppe um Wilhelm Heitmeyer die Langzeitstudie „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“. Dabei waren zwei Indikatoren besonders auffällig: die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen und die zunehmende Spaltung der Gesellschaft. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit werden Langzeitarbeitslose und Hartz IV-Bezieher zur „Zielscheibe öffentlicher Debatten, die von Vertretern aus Politik und Wirtschaft, aber auch aus Showbusiness und Kabarett angeheizt werden.“ (Heitmeyer 2008, S. 16) Seit 2007 bezog die Forschungsgruppe um Heitmeyer auch Langzeitarbeitslose in die Studie ein. „Sie werden unter dem Gesichtspunkt mangelnder Nützlichkeit sozial abgewertet...So stießen wir unter anderem auf folgende Ergebnisse: Fast 50 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, daß die meisten Langzeitarbeitslosen nicht wirklich daran interessiert sind, einen Job zu finden. Empörend finden es insgesamt fast 61 Prozent, wenn sich Langzeitarbeitslose auf Kosten der Allgemeinheit ein bequemes Leben machen.“ (Heitmyer 2008, S.20ff. ) Langzeitarbeitslose sind von massiven Abwertungen betroffen. Die Gruppe wird sichtbar, wenn sie sich zum Beispiel an Lebensmittelausgaben anstellt. In den Medien wird sie verhöhnt, so bezeichnete Thomas Gottschalk in „Wetten daß...?!“ Bierdosen als „Hartz IV-Stelzen“.

Das ökonomistische Denken nimmt immer mehr zu, alles wird dem Nutzenkalkül untergeordnet. Personen werden nach ihrer Nützlichkeit und Funktionsfähigkeit bewertet

„Die Befragungsdaten zeigen, daß über ein Drittel der Deutschen den Aussagen tendenziell zustimmen, die Gesellschaft könne sich wenig nützliche Menschen (33,3 Prozent) und menschliche Fehler nicht (mehr) leisten (34,8 Prozent). Etwa 40 Prozent der Befragten sind der Ansicht, in unserer Gesellschaft würde zuviel Rücksicht auf Versager genommen, zuviel Nachsicht mit solchen Personen gilt 43,9 Prozent als unangebracht, und etwa ein Viertel stimmt der Aussage zu, daß „moralisches Verhalten [...]ein Luxus [ist], den wir uns nicht mehr leisten können“ (25,8 Prozent)....Es sind nicht allein politische Entscheidungen, die diese Gruppen in materieller Hinsicht `produzieren`, die Abwertung durch andere Bevölkerungsgruppen dichten diese Kategorien zusätzlich `moralisch`ab.“ (Heitmeyer 2008; S. 31ff.) Soziale Ungleichheit ist gesellschaftlich bedingt, wird aber heute „in einer Form als `Normalität`akzeptiert, daß Kritik immer mehr zu verstummen droht...der Wert oder die Wertigkeit von Menschen wird an soziale Lagen gekoppelt. Die Rede von Arbeitslosen als `Wohlstandsmüll`ist wie die Metapher eines Showmasters, der Bierdosen als `Hartz IV-Stelzen`bezeichnet, ein Indiz für die abwertende Verdinglichung dieser Gruppe durch gesellschaftliche Eliten. Hartz IV-Bezieher sind in diesem Klima immer häufiger Verhöhnungen ausgesetzt. „...neben die soziale Erniedrigung tritt das Urteil der moralischen Ùnterlegenheit`“. (Heitmeyer 2008; S. 40f.) Auch sozial abgehängte Gruppen können sich des Mechanismus der Ungleichwertigkeit bedienen. Die Umwandlung der eigenen Ungleichheit in die Abwertung anderer ist ein Instrument der Ohnmächtigen. Die eigene Unterlegenheit wird in Überlegenheit verwandelt. „Die Transformation von Ungleichwertigkeit in extreme Formen ùnwerten`Lebens, und damit der Schritt zur Gewalt, ist dann nicht mehr groß.“ (Heitmeyer 2008, S.41)

Heitmeyer stellt fest, dass bei sinkender Soziallage, die Ressentiments gegen Langzeitarbeitslose kontinuierlich zunehmen. Das Bedürfnis wachse, sich vom unteren Rand der Sozialhierarchie abzugrenzen. (Allerdings habe ich da meine Zweifel, die „gebildetere“ Mittelschicht weiß, wie man sich „politisch korrekt“ ausdrückt. Die Ressentiments werden in der Mitte genauso groß sein.) Man schreibt den Langzeitarbeitslosen eine negativere Arbeitshaltung zu. „Die hohe Verbreitung von Vorurteilen gegenüber Langzeitarbeitslosen in der Bevölkerung zeigt, daß diesen in öffentlichen Debatten ein Image zugeschrieben wird, nach dem ihre mangelnde Arbeitsmoral der entscheidende Grund für ihre Arbeitslosigkeit ist. In der Öffentlichkeit werden sie auf diese Weise stigmatisiert und etikettiert. Vor diesem Hintergrund kann gegenüber diesem Personenkreis eine restriktive Sozialpolitik, etwa die Einführung von Hartz IV, legitimiert werden...Mit der Diskriminierung wird den Betroffenen signalisiert, sie sollten ihre Ansprüche an die Erwerbsarbeit zurücknehmen.“ Aber auch bei den Erwerbstätigen wird durch die Stigmatisierung der Erwerbslosen etwas bewirkt. Sie haben Angst vor dem sozialen Abstieg, es erhöht sich die Flexibilität, die Loyalität gegenüber dem Betrieb, die Disziplin, die Produktivität und Effizienz.

Die Forschungsgruppe um Heitmeyer befürchtet, dass sich die öffentliche Abwertung von Hartz IV-Beziehern an Diskurse über den Status der Migranten koppeln. Dann ist der Grund der Abwertung vermeintliche „Nutzlosigkeit“.

Zwei Beispiele sind Äußerungen von Thilo Sarrazin (ehemaliger Finanzsenator in Berlin) und Heinz Buschkowsky (Bürgermeister in Berlin-Neukölln), die ich zum Schluß nur nochmal einwirken lassen möchte...

Sarrazin in Lettre International Heft 86, S197-201:

„Die Stadt (Anm. Berlin) hat einen produktiven Kreislauf von Menschen, die Arbeit haben und gebraucht werden, ob es Verwaltungsbeamte sind oder Ministerialbeamte. Daneben

hat sie einen Teil von Menschen, etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden, zwanzig Prozent leben von Hartz IV und Transfereinkommen; bundesweit sind es nur acht bis zehn Prozent. Dieser Teil muß sich auswachsen. Eine großes Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt, deren Anzahl durch falsche

Politik zugenommen hat, hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich vermutlich auch keine Perspektive entwickeln. Das gilt auch für einen Teil der deutschen Unterschicht, die einmal in den subventionierten Betrieben Spulen gedreht oder Zigarettenmaschinen bedient hat. Diese Jobs gibt es nicht mehr.

Berlin hat wirtschaftlich ein Problem mit der Größe der vorhandenen Bevölkerung... Es gibt auch das Problem, daß vierzig Prozent aller Geburten in der Unterschicht stattfinden. Hier werden Trends verstärkt sichtbar, die ganz Deutschland belasten. So daß das Niveau an den Schulen kontinuierlich sinkt, anstatt zu steigen. In Berlin gibt es stärker als anderswo das Problem einer am normalen Wirtschaftskreislauf nicht teilnehmenden Unterschicht.... Man muß aufhören, von "den" Migranten zu reden. Wir müssen uns einmal die unterschiedlichen

Migrantengruppen anschauen. Die Vietnamesen: Die Eltern können kaum Deutsch, verkaufen Zigaretten oder haben einen Kiosk. Die Vietnamesen der zweiten Generation haben dann durchweg bessere Schulnoten und höhere Abiturientenquoten als die Deutschen. Die Osteuropäer, Ukrainer, Weißrussen, Polen, Russen weisen tendenziell dasselbe Ergebnis auf. Sie sind integrationswillig, passen sich schnell an und haben überdurchschnittliche akademische Erfolge. Die Deutschrussen haben große Probleme in der ersten, teilweise auch der zweiten Generation, danach läuft es wie am Schnürchen, weil sie noch eine altdeutsche Arbeitsauffassung haben. Sobald die Sprachhindernisse weg sind, haben sie höhere Abiturienten- und Studentenanteile usw. als andere. Bei den Ostasiaten, Chinesen und Indern ist es dasselbe. Bei den Kerngruppen der Jugoslawen sieht man dann schon eher "türkische" Probleme; absolut abfallend sind die türkische Gruppe und die Araber. Auch in der dritten Generation haben sehr viele keine vernünftigen Deutschkenntnisse, viele gar keinen Schulabschluß, und nur ein kleiner Teil schafft es bis zum Abitur. Jeder, der integriert werden soll, muß aber durch unser System hindurch. Er muß zunächst Deutsch lernen. Die Kinder müssen Abitur machen. Dann findet die Integration von alleine statt. Hinzu kommt das Problem: Je niedriger die Schicht, um so höher die Geburtenrate. Die Araber und Türken haben einen zwei- bis dreimal höheren Anteil an Geburten, als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Große Teile sind weder integrationswillig noch integrationsfähig. Die Lösung dieses Problems kann nur heißen: Kein Zuzug mehr, und wer heiraten will, sollte dies im Ausland tun. Ständig werden Bräute nachgeliefert: Das türkische Mädchen hier wird mit einem Anatolen verheiratet, der türkische Junge hier bekommt eine Braut aus einem anatolischen Dorf. Bei den Arabern ist es noch schlimmer. Meine Vorstellung wäre: generell kein Zuzug mehr außer für Hochqualifizierte und perspektivisch keine Transferleistungen mehr für Einwanderer. In den USA müssen Einwanderer arbeiten, weil sie kein Geld bekommen, und werden deshalb viel besser integriert. Man hat Studien zu arabischen Ausländergruppen aus demselben Clan gemacht; ein Teil geht nach Schweden mit unserem Sozialsystem, ein anderer Teil geht nach Chicago. Dieselbe Sippe ist nach zwanzig Jahren in Schweden immer noch frustriert und arbeitslos, in Chicago hingegen integriert. Der Druck des Arbeitsmarktes, der Zwang des Broterwerbs sorgen dafür. Das sind Dinge, die man nur durch Bundesrecht ändern kann. Für Berlin ist meine Prognose düster, was diese Themen betrifft.... Jemanden, der nichts tut, muß ich auch nicht anerkennen. Ich muß niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. Das gilt für siebzig Prozent der türkischen und für neunzig Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin. Viele von ihnen wollen keine Integration, sondern ihren Stiefel leben. Zudem pflegen sie eine Mentalität, die als gesamtstaatliche Mentalität aggressiv und atavistisch ist... Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate. Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung. Ich habe dazu keine Lust bei Bevölkerungsgruppen, die ihre Bringschuld zur Integration nicht akzeptieren, und auch, weil es extrem viel Geld kostet und wir in den nächsten Jahrzehnten genügend andere große Herausforderungen zu bewältigen haben.... Wir haben in Berlin vierzig Prozent Unterschichtgeburten, und die füllen die Schulen und die Klassen, darunter viele Kinder von Alleinerziehenden. Wir müssen in der Familienpolitik völlig umstellen: weg von Geldleistungen, vor allem bei der Unterschicht.“

Ein Artikel zu einem Auftritt Sarrazins: http://www.neues-deutschland.de/artikel/166824.rassist-in-nadelstreifen.html  

Buschkowsky in der Jungen Freiheit (rechtsextreme Zeitung) vom 11.3.2005:

„Der sogenannten "multikulturellen Gesellschaft" haben wir es vor allem zu verdanken, daß in unseren Städten Gebiete der sozialen und ethnischen Segregation entstanden sind. Über das Konzept der multikulturellen Gesellschaft wurde bei uns nie mit den Betroffenen diskutiert oder demokratisch abgestimmt - also haben die Leute mit dem Möbelwagen abgestimmt...Schönreden und Wegschauen ist die gescheiterte Integrationspolitik der letzten 25 Jahre. Bedauerlicherweise neigte man in den achtziger Jahren, als die Stellen der Ausländerbeauftragten - so hießen die damals - geschaffen wurden, dazu, sie bevorzugt mit Gutmenschen und sozialromantischen Multikulti-Träumern zu besetzen. Und das hat sich bis in die jüngste Zeit fortgesetzt...In einem Gespräch mit der taz habe ich einmal gesagt: "Ich hätte nicht mehr Presse haben können, wenn ich meine Mutter ermordet hätte, als mit dem Satz 'Multikulti ist gescheitert'". Für die Dinge, die ich heute ausspreche, wäre ich vor Jahren noch politisch "gekreuzigt" worden...Das war die Glückseligkeit derer, die glaubten, die einzigen zu sein, die aus der Geschichte gelernt hätten. Es war der Hochmut der moralisch Selbstgerechten. Das war die "Mafia der Gutmenschen, die über Parteigrenzen hinweg bestens funktioniert", wie es der türkische Schriftsteller Senocak formuliert... Ich glaube, daß wir heute darüber entscheiden, ob Gebiete wie Wedding, Moabit, Marzahn oder Neukölln-Nord in zehn Jahren unregierbare Elendsgebiete sein werden oder weiterhin gesellschaftlich im Wertekanon einer demokratischen pluralistischen Gesellschaft stehen. Und das gilt nicht nur für Berlin. Die Probleme, die ich anspreche, bestehen inzwischen in jeder Mittel- und Großstadt in Deutschland, ja in ganz Europa und darüber hinaus überall da, wo ein Bildungs- und Wohlstandsgefälle herrscht..... Eine Parallelgesellschaft in abgekapselter, von außen unzugänglicher Form mit eigenen Verhaltensnormen und Regeln, die nicht denen der Mehrheitsgesellschaft entsprechen, birgt die Gefahr des rechtsfreien Raums und des Entstehens von Lebenswelten jenseits unserer Verfassungsnorm..“

Hierzu ein kritischer Artikel bei Indymedia: http://de.indymedia.org/2005/04/112704.shtml  

Das Schlimmste, was man Politikern antun kann, ist - sie zu zitieren.

Quellen

Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände Folge 6, Suhrkamp Frankfurt am Main 2008
Gruppe Krisis, Manifest gegen die Arbeit, Eigenverlag Erlangen 1999
Hans Uske, Das Fest der Faulenzer, DISS Diusburg 1995
Klartext e.V. (Hrsg.), Sind Arbeitslose faul?, Fachhochschulverlag Frankfurt am Main 2004

Wochenendseminare „Armut- global, lokal, Widerstand“

3. Seminar: Widerstandsformen
11./13.6.2010 im Mehringhof, Gneisenaustr.2a


In diesem Seminar werden VertreterInnen aus Erwerbsloseninitiativen und dem Sozialprotestspektrum eingeladen, um ihre Erfahrungen einzubringen, wie Selbstorganisation und Widerstand von Erwerbslosen aussieht bzw. aussehen könnte. Wie erreichen wir eine Vernetzung der Initiativen und bessere Mobilisierung der Betroffenen?

Freitag, d. 11.6. um 19 Uhr
"Erwerbslosenprotest- Rückblick und Ausblick"
Podiumsdiskussion mit Guido Grüner (Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg), Peter Nowak (Autor des Buches "Zahltag"), Anne Allex (AK Marginalisierte), Paul Decruppe (AK Arbeitslosigkeit der IG Metall), Vertretern von FelS und der AG Soziales des Berliner Sozialforums u.a.

Sonntag, d. 13.6. !!!! (Am 12.6. ist die Krisendemo um 12 Uhr am Alexanderplatz)
11.30- 13 Uhr
"Mieterhöhungen, Zwangsumzüge und Verdrängung von Erwerbslosen"
Input von der "Kampagne gegen Zwangsumzüge"
14-15.30 Uhr
"Hilfe beim Ämterstress- Solidarisches Begleiten zum Jobcenter"
Input von der Initiative "Keiner muss allein zum Amt"
16 –17.30 Uhr
Weitere Aktivitäten in Berlin
Input Angelika Wernick „Berliner Kampagne gegen Hartz IV“
Input von der Initiative für ein selbstorganisiertes Erwerbslosenzentrum in Berlin
17.45- 19 Uhr
Die Abschlussdiskussion: Der Ausblick

Unterstützt von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt
 

Editorische Anmerkung

Wir erhielten den Artikel von der Autorin  für diese Ausgabe.