Spanien: Schluss mit dem Ende der Geschichte

von
"autonomia"

06/11

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„Echte Demokratie jetzt!“, unter diesem Motto versammeln sich in mehr als 60 Städten von Spanien die Menschen auf der Strasse, besetzen Plätze und eignen sich den öffentlichen Raum mit verschiedenen sozioökonomischen und politischen Forderungen an. Zum Symbol der jungen Demokratiebewegung 15-M ist die Puerta del Sol in Madrid geworden, auf der seit dem 15. Mai Tausende mit Zelten und Schlafsäcken ausharren. Bemerkenswert ist, dass weder Parteien noch andere etablierte Organisationen wie Gewerkschaften bei der politischen Aktivierung der Menschen eine Rolle spielen. Hier eine kommentierte Zusammenstellung aus verschiedenen Medien, wobei der Fokus weniger auf die politischen und gesellschaftlichen Umstände der spanischen Revolte als mehr auf die Bewegung der Indignad@s oder „Empörten“ selbst gelegt wird. 

“Wir sind das Fundament, wir sind die Kraft, die die Welt in Bewegung bringt, wir sind die Hand, die das Brot knetet und am Hunger stirbt, ich bin Public Enemy Nummer eins unregierbar, wir sind die freie Software der möglichen anderen Welt, wir sind die Basis, wir sind das Stadtviertel, wir sind das Volk von Seattle und wir erklären das Ende des Endes der Geschichte, wir sind anwesend und wir sind die Erinnerung.“ (Desechos, Que se vayan todos)

Die Bewegung 15-M

Am 15. Mai gingen in 50 spanischen Städten etwa 150.000 Menschen auf die Strasse. „Die Slogans der Demonstrierenden richteten sich gegen die unsozialen Reformen und gegen Regierungen, die sich »in den Händen von Bankern« befänden. Gefordert wurde das Grundrecht auf bezahlbare Wohnungen, die freie persönliche Entwicklung oder den »Zugang zu den Basisgütern, die für ein gesundes und glückliches Leben notwendig sind«.“ [1] Trotz der üblichen polizeilichen Repression – so wurden in Madrid an diesem Tag 24 Personen bei Sitzblockaden verhaftet – ließen sich die DemonstrantInnen nicht einschüchtern und errichteten das Protestcamp auf der Puerta del Sol, das zwischenzeitlich gewaltsam geräumt, dann aber wieder aufgebaut wurde. „An der Puerta del Sol, dem bekanntesten Platz Madrids, hat sich unter großen Planen ein selbstorganisiertes Zeltdorf gebildet. Am Rande des Platzes stehen Mülltonnen und Infostände, es gibt eine Essens- und Getränkeausgabe, eine Küche und Toiletten. Organisiert wird alles von Komitees, die für diesen Protest gegründet wurden.“ [2] Die Frankfurter Rundschau schreibt: „Auf der Puerta del Sol ist ein Lager aus Zelten und Ständen herangewachsen: ein Dorf, über dessen Wege sich Aktivisten und Neugierige schieben wie über einen Flohmarkt, überwölbt von blauen Plastikplanen, unter denen die Luft ein wenig stickig ist. Auf diesem Markt gibt es nichts zu kaufen, die Stände bieten Informationen und Meinungen. Es gibt ein Dokumentationszelt, wo Texte, Bilder und Filme der Bewegung archiviert werden, einen Platz für die Kinderbetreuung, eine Sessel- und Sofalandschaft zum Zeitunglesen, ein Solarmodul zum Aufladen von Mobiltelefonen, einen Stand, an dem man Ideen und Vorschläge für politische Reformen hinterlassen kann. An anderen Ständen gibt es Essen und Getränke. Eine Nachbarin brachte 400 Churros vorbei, eine Art spanischer Krapfen, eine Firma lieferte einen ganzen Lastwagen voll Wasserflaschen – eine andere sechs chemische Toiletten. Spenden für die gemeinsame Sache.“ [3] Ähnliche Entwicklungen ereignen sich in anderen spanischen Städten. So wächst die Besetzung des Plaza Catalunya in Barcelona – der vorübergehend am 27.5. durch einen brutalen Polizeieinsatz geräumt und dann wieder besetzt wurde – durch anfangs einige hundert Personen auf weit über 10.000 innerhalb weniger Tage an. [4]

Die Proteste haben zwar ein starkes Element der Spontaneität, aber es gibt auch eine Vorgeschichte. Neben der Bedeutung der Facebook-Website „Democracia Real Ya“ weist Green Left Weekly auf die Proteste gegen das Sinde-Gesetz in Spanien hin, das den freien Internet-Zugang einschränkt und u.a. Filesharing kriminalisiert, sowie auf die Demonstrationen zum 1. Mai, die unabhängig von den großen Gewerkschaften und Parteien organisiert und von den Medien weitgehend ignoriert wurden. [5] In Katalonien bewirkte der Beschluss der Regierung der PP, ein tief greifendes Sparpaket im Bildungs- und Gesundheitsbereich zu schnüren, eine Welle von wilden Streiks und brachte die Gewerkschaften dazu, eine Großdemonstration in Barcelona zu veranstalten, an der sich 200.000 Menschen beteiligten. [6]

Versammlung der „Empörten“

Der Protest richtet sich gegen vielfältige Missstände wie zB die von der EU aufgedrängte und von der spanischen Regierung Zapatero bereitwillig verhängte Austeritätspolitik, die hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere bei Jugendlichen, und die Korruption. Für den 15. Mai wurde zu einer groß angelegten Demonstration aufgerufen, die sich durch ihre Offenheit für alle von der Krise Betroffenen auszeichnete. Anlässlich der Demo vom 15. Mai kam es zur Bildung eines breiten Bündnisses: „Mehr als 400 Gruppen schlossen sich dann zur Plattform »Reale Demokratie – Jetzt!« zusammen, unter anderem Attac, die große Umweltorganisation Ecologistas en Acción und der landesweite Zusammenschluss der Arbeitslosen. Über Facebook und Twitter wurden schnell Treffen in zahlreichen spanischen Städten organisiert. Es wurde ein Manifest verfasst, in dem zu einer »ethischen Revolution« aufgerufen wird. Vom Kapitalismus wird darin eher geschwiegen, dafür wird die »Korruption unter Politikern, Geschäftsleuten und Bankern« kritisiert.“ [7]

Die von den meisten Medien vorgenommene Einschätzung der Bewegung 15-M als Protestbewegung gegen die wirtschaftliche Lage greift viel zu kurz, auch wenn dies einen Faktor unter anderen darstellen mag: „Vielmehr handelt es sich bei den teilnehmenden Menschen um eine Schnittmenge der Unzufriedenen - und das sind in Spanien (und Katalonien) nicht Wenige. Für Einige spielt die „Abwälzung der Krise auf die Menschen” und die damit verbundene chronische Verschlechterung der Lebensumstände eine Rolle. Für Andere der Mangel an Möglichkeiten zur politischen Partizipation, Perspektivlosigkeit oder auch einfach nur „anticapitalismo”. In der Dynamik der letzten Tage kommt zudem bei vielen sonst eher „unpolitischen” Menschen das Gefühl auf, dabei sein zu müssen wenn „Geschichte gemacht” wird. Für die radikale Linke Spaniens haben sich die Camps als Ort der Selbstorganisierung und des Zusammentreffens sozialer Bewegungen entwickelt.“ [8] Es gibt sowohl „Forderungen an den Staat .., die bis in die Veraenderung der Wahlgesetze gehen, als auch Aufrufe an die uebrige Bevoelkerung. (Z.B.: die Bildung von Versammlungen, Schaffung von Freiraeumen, Unterstuetzung und Bildung von (Arbeits-) Kooperativen).“ [9] Die kontroverse Frage innerhalb der Bewegung 15-M, ob Forderungen an den Staat zu stellen seien oder ob die Institutionen als Teil des Problems wahrgenommen werden, bleibt offen. Die Diskussionen und Entscheidungsfindungsprozesse auf den besetzten Plätzen funktionieren basisdemokratisch, die Vollversammlung oder asamblea general ist der Ort, an dem Entscheidungen getroffen werden. In einigen Städten bilden sich auch bereits asambleas de barrios, also Stadtteilversammlungen, um dem Protest Kontinuität zu geben und ihn gesellschaftlich zu verallgemeinern. [10]

Während etwa in Barcelona die Asamblea als einzige Stimme der Bewegung 15-M nach außen gilt und somit verhindert werden soll, dass die Bewegung durch „Führungspersönlichkeiten“ vereinnahmt wird, wird dies in Madrid nicht ganz so eng gesehen und es gibt durchaus auch Personen, die als SprecherInnen auftreten. [11] Laut Green Left Weekly gibt es in der Bewegung 15-M keine “automatische Ablehnung des Politischen. .. Die DemonstrantInnen haben die institutionelle Politik nicht aufgegeben – während der Slogan in Argentinien 2001 „que se vayan todos“ (sie sollen alle abhauen) war, gibt die Bewegung 15-M den Parteien außerhalb des Mainstreams eine Chance, und während sie Unabhängigkeit und Autonomie beansprucht, scheint sie interessiert zu sein, Brücken zu manchen Parteien zu bauen.“ [12] Die anarchosyndikalistische Gewerkschaft CNT beteiligt sich an den Aktionen der Indignad@s und bezeichnet den Ungehorsam als grundlegendes Element des Protestes. Jedoch fordert die CNT dazu auf, die bislang mangelhafte Kritik im Bereich der Arbeitswelt zu verstärken. In ihrem Kommunique stellt die CNT fest: „Die Vielfalt der Demonstrationen und Camps, die sich auf den Plätzen der Städte und Dörfer überall im Land seit dem 15. Mai ausweiten, sind ein deutlicher Beleg für die organisatorischen Fähigkeiten der Bevölkerung wenn diese erst einmal beschließt, sich zum Protagonisten ihres eigenen Lebens zu machen, die Apathie und die Resignation zu überwinden und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass Alternativen für die vielfältigen Probleme erkämpft und entwickelt werden müssen, unter denen wir als Gesamtheit der Bevölkerung leiden – als ArbeiterInnen, Arbeitslose, StudentInnen, MigrantInnen, RentnerInnen, Prekäre... Die organisatorischen Formen, die sich in diesen Mobilisierungen entwickelt haben, belegen die Effektivität der direkten Beteiligung aller mittels der Vollversammlungen, mit dem Ziel Entscheidungen zu fällen, die unseren Wünschen und Forderungen eine Richtung geben und dabei helfen, die Vereinzelung zu überwinden. Sie verwandeln uns in die Hauptfiguren anstelle weiter ZuschauerInnen eines System zu sein, das auf Delegation und Stellvertretung basiert und in dem unsere Individualität ausgelöscht wird.“ [13]

Ausbreitung der Empörung in Europa

Die Protestbewegung hat mittlerweile die Grenzen von Spanien überschritten und ist in anderen Ländern angekommen. In Griechenland demonstrierten am 25. Mai etwa 100.000 Menschen auf dem Syntagma Platz beim Parlament in Athen und hielten eine große Versammlung ab. Die Medien spielten die Zahl der TeilnehmerInnen massiv herunter, sofern sie überhaupt über die Massendemonstration berichteten. Die Volksversammlung vom Syntagma Platz stellt in einer Erklärung vom 28. Mai fest: „Wir werden die Plätze nicht verlassen, bis diejenigen zuerst gehen, die uns hierher gebracht haben“, womit alle gemeint sind, „die uns ausbeuten“. [14] Ein paar Stimmen von DemoteilnemerInnen am Syntagma Platz: "Wenn die Menschen, jede/r von uns, ohne Angst diskutieren, befällt und kriecht die Furcht in sie hinein, dort oben, im Parlamentsgebäude."; "Das System begünstigt wenige und unterdrückt viele. Wir müssen Diskussionen in Versammlungen in jeder Nachbarschaft abhalten."; "Heute nacht, auf dem Syntagma Platz, fühle ich mich glücklich. Lasst uns damit beginnen, dass wir unsere Fernseher abschalten. Und lasst uns damit beginnen, uns zu koordinieren." [15]

Solidaritätskundgebungen fanden in zahlreichen Städten auf der Welt statt, so etwa in London, Prag, Brüssel, Berlin, Amsterdam, Buenos Aires, Bogotá, Rabat und Budapest. [16]
Und selbst in Österreich hat die Bewegung der Indignad@s erste Lebenszeichen von sich gegeben. Kundgebungen in Solidarität mit der spanischen Protestbewegung, die von AuslandsspanierInnen organisiert wurden und an denen über 100 Menschen teilnahmen, fanden am 21. Mai bei der spanischen Botschaft in Wien und am 22. Mai am Stephansplatz statt. Im Zuge der Kundgebung bei der Botschaft fand auch eine Versammlung auf der Strasse statt, bei der die DemoteilnehmerInnen eine Diskussion begannen. Am 22. Mai versammelten sich etwa 100 Personen auf dem Hauptplatz in Graz, um auf die Situation in Spanien hinzuweisen. Die DemonstrantInnen entschieden sich, auf dem Platz zu übernachten, wurden jedoch am nächsten Morgen von der Polizei vertrieben. [17]

Ein neues 1968?

Während bürgerliche Medien zunächst zu den Protesten in Spanien gänzlich geschwiegen haben, versuchten sie schließlich die Ereignisse als rein spanisches Phänomen klein zu reden. Man könnte nun mit dem Hinweis auf verschiedene Entwicklungen kontern, die die „Spanische Revolution“ der Indignad@s oder der „Empörten“ begünstigt und vielleicht auch vorweggenommen haben und die dagegen sprechen, die Vorfälle als isolierte spanische Angelegenheit zu vereinfachen. Als Eckpunkte wären an dieser Stelle die Rebellion der Zapatistas in Chiapas, die Antiglobalisierungsbewegung und der Aufstand in Argentinien vom Dezember 2001 zu erwähnen. Diesen Prozessen gemeinsam ist nicht nur das Hinterfragen des Status-quo und die Perspektive einer „anderen Welt“, sondern auch die theoretische Diskussion und praktische Erprobung alternativer gesellschaftlicher und basisdemokratischer Modelle. Dazu gehören die zapatistischen autonomen Kommunen in Mexiko genauso wie die Zusammenkünfte auf dem World Social Forum und die Stadtteilversammlungen, die im Verlauf der argentinischen Revolte entstanden sind, genauso zählen dazu die vielen auf der Welt verstreuten lokalen Initiativen von Menschen und sozialen Basisbewegungen, die sich für Autonomie, soziale Gerechtigkeit und direkte Demokratie engagieren – und jetzt reihen sich auch die Versammlungen auf den Plätzen der spanischen und griechischen Städte unter dem Stichwort „Democracia Real Ya!“ in diese aufmüpfige Welle ein. Ein duftendes Mailüftlein liegt in der Luft – wird der Madrider Mai 2011 Geschichte schreiben wie der Pariser Mai 1968?


Manifest von Democracia Real Ya
http://www.echte-demokratie-jetzt.de/manifest



Quellennachweis:
[1] http://jungle-world.com/artikel/2011/21/43265.html
[2] http://jungle-world.com/artikel/2011/21/43265.html
[3] http://www.fr-online.de/politik/stolzer-protest-in-spanien/-/1472596/8477540/-/index.html
[4] http://de.indymedia.org/2011/05/308210.shtml
[5] http://www.greenleft.org.au/node/47632
[6] http://www.derfunke.at/html/index.php?name=News&file=article&sid=1846
[7] http://jungle-world.com/artikel/2011/21/43265.html
[8] http://de.indymedia.org/2011/05/308210.shtml
[9] http://de.indymedia.org/2011/05/308197.shtml
[10] http://de.indymedia.org/2011/05/308210.shtml
[11] http://de.indymedia.org/2011/05/308197.shtml
[12] http://www.greenleft.org.au/node/47632
[13] http://www.fau.org/artikel/art_110521-002937
[14] http://www.occupiedlondon.org/blog/2011/05/
[15] http://www.occupiedlondon.org/blog/2011/05/27/
[16] http://www.sueddeutsche.de
[17] http://takethesquare.net/node/76

Editorische Anmerkungen

Der Text erschien am 29.5. 2011 bei Indymedia.