Stadtumbau & Stadtteilkämpfe

Gegen Zwangsräumung & Odachlosigkeit
Wohnungsrevolte in Berlin 1872

Ein Bericht aus: Der Neue Social-Demokrat

06-2013

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Drei Tage lang war Berlin fast ohne Unterbrechung im Zustande der Revolte, die bald hier, bald dort in den einzelnen Stadtvierteln sich geltend machte. Am Donnerstag ward ein armer Tischler in der Blumenstraße exmittiert, und es entstand ein Auflauf, der bis tief in die Nacht hinein andauerte. Nach 19 Uhr sammelten sich besonders zahlreiche Scharen vor dem betreffenden Hause 51 c. Einige Steinwürfe gegen die Fenster der Kellerwohnung sowie die Schutzleute bedrohende Rufe gaben in der neunten Stunde das Signal zu einer gewaltsamen Säuberung der Straße bis nach der Krautstraße zu, welche durch berittene und Schutzleute zu Fuß bewirkt wurde. In den angrenzenden Straßen, der Straußberger und Frankfurter Straße, wurden jetzt auf die in der Verfolgung begriffenen Schutzleute Steine geworfen. Mehrfache Verhaftungen erfolgten, doch erst gegen drei Uhr morgens hatten sich die Massen nach und nach zerstreut.

Am Freitag war es ruhig, bis der Bismarcksche Polizeiapparat in Aktion trat. Das Erscheinen zahlreicher Polizeikommandos erregte die revoltierenden Arbeiter. Die Empörung wurde durch einen weiteren Umstand aufs höchste gesteigert. An demselben Morgen (27. Juli) begann die Polizei, vor dem Frankfurter Tor die dort errichteten Baracken der Obdachlosen niederzureißen. Unter welchen Umständen die Arbeiter weiterexistieren sollten, war der herrschenden Klasse gleichgültig.


Obdachlose am Kottbusser Tor zur gleichen Zeit

Der Jammer dieser Unglücklichen brachte das ganze Stadtviertel in Aufruhr. Der Krawall dehnte sich hierbei über die Blumenstraße, Frankfurter Straße, Weberstraße und deren Querstraßen aus; sein Zentrum befand sich an der Ecke der Blumen- und Krautstraße. Die Masse warf überall die Gaslaternen ein, hob die Rinnsteinbohlen aus und bildete aus denselben Barrikaden, die noch durch Haufen von Pflastersteinen befestigt wurden, welche bei der Hand waren, da in der Nähe gerade an einigen Stellen der Straßendamm repariert wurde. Es sprengte nun die ganze berittene Abteilung der Schutzmannschaft auf den Schauplatz der Unruhen, während gleichzeitig mehrere hundert Mann zu Fuß anrückten. Der Polizei wurde heftiger Widerstand entgegengesetzt, aus vielen Häusern wurde mit Steinen, Flaschen und dergleichen auf sie geworfen. Aus den Fenstern eines Schank-lokals der Krautstraße wurde ein Steinbombardement auf die anrückenden Beamten eröffnet, die, um sich dort Eingang zu verschaffen, die verschlossene Haustür aufsprengten und mit Gewalt durch die Küchentür eindrangen. Aus einem anderen Haus der Krautstraße, wo selbst ein großer Droschkenhof befindlich, kam ein wahrer Steinregen auf die Schutzmannschaft und wurde dies Haus und Hof durch letztere gestürmt, wobei es viele Verwundungen gab.

(Aus: Neuer Social-Demokrat, 31. Juli 1872)

Mit den französischen Milliarden (aus dem gewonnenen deutsch-französischen Krieg 1870/71 - red. trend) baute die preußische Regierung ihre Staatsverschuldung teilweise ab, wodurch riesige Summen privaten Kapitals frei wurden. Zu deren bevorzugter Anlagesphäre entwickelte sich schnell die Boden-und „Baustellenspekulation". Allein zu diesem Zweck entstanden 1871-72 in Berlin über vierzig Baubanken und ähnlich viele Bauaktiengesellschaften. Diese sahen ihre vornehmste Beschäftigung nicht in der Schaffung von Wohnraum, sondern im Kauf und Verkauf von Grundstücken, Bau- oder Bauerwartungsland, wobei mit jedem Besitzerwechsel ein Hochtreiben der Bodenpreise einherging. In Charlottenburg stiegen die Bodenpreise pro Quadratmeter durchschnittlich von 0,12 Mark im Jahre 1861 (was dem Ackerwert entsprach) auf 80-200 Mark 1898. Die gewerbsmäßige Terrainspekulation in Berlin wurde in diesem Umfang erst durch baupolizeiliche und stadtplane-rische Maßnahmen ermöglicht. Das verhängnisvolle Zusarn-menspiel der Bauordnung von 1853 und des Bebauungsplans von 1862, der, nach seinem Schöpfer benannt, als „Hobrechtplan" berühmt und berüchtigt wurde, gab den „Gründern" die nötigen Tips und die rechtlichen Grundlagen für ihr verdienstvolles Wirken.

Der Bebauungsplan beschränkte sich darauf, ein weitmaschiges Netz von Straßen und Plätzen auf die Felder und Wiesen im Umfeld des damals bebauten Berlins zu proji-zieren. Die so entstandenen Straßenblöcke waren 4-10mal so groß wie die der alten Friedrichstadt. Auf eine Differenzierung der Straßen nach Breite und Funktion, etwa in Wohnstraßen oder große Ausfallstraßen, wurde weitgehend verzichtet. Die Ausgestaltung der großflächigen Baublöcke selbst sollte der privaten Spekulation überlassen bleiben, unter anderem um staatliche Gelder für die Anlage von Grünflächen oder Wohnstraßen zu sparen. Den Rest regelte die Bauordnung - dergestalt, daß künftig statt Straßen und Plätzen lieber Hinterhöfe und Treppen gebaut wurden. In perfekter Ergänzung des Hobrechtplans sah die Bauordnung kaum andere als feuerpolizeiliche Bestimmungen vor, die der spekulativen Grundstücksausnutzung hätten Grenzen setzen können.
aus: Stadtfront Berlin West Berlin, Gabi Dietz u.a. als Hrg., Westberlin 1989, S. 137f

Editorische Hinweise
Mit der Gründung der Vorläufer der Sozialdemokratischen Partei entstanden auch die ersten Parteizeitungen. Sprachrohr des 1863 von Ferdinand Lassalle gegründeten "Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins" war seit dem 15. Dezember 1864 der in Berlin erscheinende "Social-Demokrat". Er befand sich im Besitz der beiden Redakteure Johann Baptist von Hofstetten und Johann Baptist von Schweitzer. Sie verpflichteten sich gegenüber dem ADAV "die ganze politische und soziale Richtung ihres Blattes derjenigen des Vereins anzupassen". 1871 übernahm der ADAV das Organ unter dem Titel "Neuer Social-Demokrat". (Quelle: http://archiv.spd-berlin.de)