»Räumt euren Mist in Bonn jetzt aus, in Pankow säubern
wir das Haus!«
Eine Nachbetrachtung zum 17. Juni von Bernd Gehrke
Zahlreiche Bücher hat dieser 50. Jahrestag hervor
gebracht, mehr als zweihundert Veranstaltungen wurden
ihm gewidmet. In Politikerreden und im Feuilleton wurde
der 17. Juni als freiheitliche Tradition des jetzt
vereinigten deutschen Volkes wieder entdeckt. Die
Berliner Republik benötigt freiheitliche Traditionen,
mit denen sie selbstbewusst in die Welt sehen und
gegebenenfalls auch marschieren kann. Deutschland ist
als freiheitliche Nation endlich als Ganzes im Westen
angekommen. Doch nicht nur nach außen, auch nach innen
wird die freiheitliche Nation als ideologischer Kitt für
eine durch den Neoliberalismus sich mehr und mehr
polarisierende Gesellschaft gebraucht. Die
Inszenierungen fortschrittlicher Traditionen durch die
Herrschenden sind verlogen und abscheulich. Das ist
nicht neu und keine Besonderheit der Bundesrepublik. In
Frankreich feiert nicht nur die Linke den Sturm auf die
Bastille, vor allem inszeniert sich an diesen Jahrestag
alljährlich der Staat. Auch Le Pen und die radikale
Rechte gewanden sich feierlich mit der Trikolore. In der
DDR mussten jedes Jahr Millionen in
Huldigungsprozessionen an der Politbürokratie vorbei
defilieren, am 1. Mai etwa oder am Todestag von Karl und
Rosa. Aber soll die Besetzung historischer Ereignisse
durch die Inszenierungen der herrschenden Klassen und
Cliquen dazu führen, dass die Linke diese Ereignisse
preisgibt und ihnen keine eigenen Gedenken
entgegensetzt?
Die Antwort ist nicht ganz einfach, schließlich hängt es
nicht nur vom Charakter des historischen Ereignisses
selbst ab, sondern eben auch von der Bedeutung für den
eigenen Kampf und damit auch vom politischen Charakter
derjenigen, die sich seiner annehmen. Die
Moskau-Kommunisten und deren Sympathisanten haben den
17. Juni stets anders interpretiert als die meisten
Sozialdemokraten, Sozialisten, Titoisten, Trotzkisten
oder Anarchisten. Sie tun es auch heute noch, und
zahlreichen ehemaligen Anhängern fällt es schwer, sich
von den einmal erworbenen Bildern der Ereignisse zu
trennen. Auf der DGB-Veranstaltung in der ehemaligen
Berliner Stalinallee wurde einem Redner, der gerade die
Unterdrückung von Arbeitern durch sowjetische Panzer
anprangerte, von altkommunistischen Demonstranten aus
dem SEW/DKP-Spektrum zornig entgegen geschleudert: »Auch
bei uns gab es Berufsverbote!« Die SPD hingegen hatte
den Regierenden Bürgermeister ins Rennen geschickt, der
die Unterdrückung der Arbeiter im Osten verdammte, um
die entschlossene Durchsetzung der Agenda 2010 zu
verkünden. So standen sich bei dieser Veranstaltung wie
zu Zeiten des Kalten Krieges wieder einmal die
verlogenen Heerscharen von Stalinismus und rechter SPD
als Teile eines linken Gruselkabinetts gegenüber. Manche
Linken glauben, sie entkämen der Logik der
Kalten-Kriegs-Konstellation, wenn sie sich auf
DDR-Intellektuelle als Autoritäten stützen. So wird in
einem Leserbrief in der ver.di-Zeitung Publik ein zuvor
erschienener Artikel kritisiert, der unter Berufung auf
Wolfgang Leonhard den 17. Juni als revolutionäre
Arbeiterbewegung darstellte. Die Kritik findet ihr
stärkstes Argument in der Berufung auf Brechts Brief an
seinen Verleger von Ende Juni 1953, »den man die
präziseste Analyse dieses Tages nennt.«[1] Wer das so
»nennt« bleibt offen, die peinliche Anbiederung Brechts
beim Ulbricht-Regime hielt der Briefautor nicht für
erwähnenswert. Erfreulicherweise hat sich aber auch
gezeigt, dass wichtige Teile der deutschen
Gewerkschaftsbewegung den 17. Juni als einen Tag der
Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung verstehen: Der
Streik auf dem Bau vor zwei Jahren begann ebenso am 17.
Juni wie der diesjährige Metall-Streik Ost. Trotz
fehlender oder eingeschränkter historischer Kenntnisse
und Erfahrungen bei der jüngeren Generation hat der
Juni-Aufstand gerade bei ArbeiterInnen in Ost und West
einen »guten Ruf«. So ist es besonders beschämend, wenn
gerade Teile der organisierten Linken, auch der
nichtstalinistischen, auf alten Interpretationsmustern
beharren, weil sich heutzutage nach Öffnung der
DDR-Archive auf eine Fülle von Material und neuen
Erkenntnissen gestützt werden kann.
Das Gesamtbild des Aufstands
Die Fakten der inzwischen auf der Grundlage der
DDR-Akten veröffentlichten Arbeiten der letzten Jahre
bestätigten das Gesamtbild der innerhalb der
akademischen Historikerzunft zuerst von Arnulf Baring
vorgelegten Analysen des Aufstandes.[2] Danach war
dieser vor allem von der Industriearbeiterschaft in den
Zentren der alten Arbeiterbewegung Mitteldeutschlands
geprägt. Sie verlieh ihm seine Dynamik und sein Antlitz.
Die Großbetriebe waren der Ausgangspunkt, der Motor und
das Zentrum der Ereignisse. Im Gegensatz zu den medial
vermittelten Bildern, die von den Reichweiten westlicher
Kameras beeinflusst sind, gab Berlin zwar das Initial,
doch hatte der Aufstand seine Höhepunkte und seine
radikalsten Entwicklungen im mitteldeutschen
Industriegebiet sowie in Ostsachsen. Magdeburg, Halle,
Merseburg, Bitterfeld, Wolfen, Leipzig, Dresden und
Görlitz bildeten diese Zentren. In Halle, Merseburg,
Bitterfeld und Görlitz hatten überbetriebliche
Streikräte und Volkskomitees bereits die Macht
übernommen. Hinsichtlich der Streik- und
Aufstandsbeteiligung unterschieden sich die alten
Hochburgen von KPD oder SPD nicht. Die Bewegung des 17.
Juni war nicht nur eine Streikbewegung für
wirtschaftliche und soziale Ziele, sie war ein
politischer Massenstreik, der sich zu einem regulären
Aufstand auswuchs, welcher zur Erstürmung von
Gefängnissen, MfS-Einrichtungen, Partei- und
FDJ-Gebäuden oder Rathäusern führte. Dem Aufstand
schlossen sich auch andere soziale Schichten an,
städtische Ladenbesitzer und deren Angestellte. In
einigen Dörfern kam es zu Bauernerhebungen, die
ausgedehnter waren, als früher bekannt.[3] Doch waren
diese anderen werktätigen Schichten, auf die sich
insbesondere die Interpretation des »Volksaufstandes«
stützt, eben für den Charakter des Aufstandes nicht
prägend. Die Kirche spielte, von einigen Dörfern
abgesehen, keine relevante Rolle, ebenso wenig die
Intellektuellen, die ihre Unzufriedenheit hinter den
geschlossenen Türen des Parteistaates artikulierten und
die SED gegen die Arbeiterklasse verteidigten.[4]
Sowohl zeitlich als auch räumlich war der Aufstand
breiter als vor der Öffnung der DDR-Archive in der
wissenschaftlichen Literatur bekannt war: Am 17. Juni
selbst streikten knapp 500000 Arbeiter. Trotz des noch
am selben Tag verhängten Ausnahmezustands und der
militärischen Besetzung der Städte und Großbetriebe
sowie der Verhaftung von Streikleitungen dehnte sich der
Streik am 18. Juni noch aus. Nur unter Androhung von
Erschießungen und militärisch durchgesetzter
Aussperrungen konnte die Streikbewegung in den Zentren
bis zum 19. Juni gebrochen werden, während sie in
etlichen Betrieben noch bis zum 22. Juni anhielt. In der
Zeit zwischen dem 12. und 22. Juni haben nach letztem
Forschungsstand rund eine Million Menschen in 702
Städten und Gemeinden an Streiks, Demonstrationen oder
der Erstürmung von Gebäuden teilgenommen.[5] 60 Haftorte
wurden gestürmt und 1400 Häftlinge befreit.[6]
Inzwischen ist auch das ganze Ausmaß der zweiten
Streikwelle im Juli 1953, an der Großbetriebe wie Leuna
oder Zeiss beteiligt waren, rekonstruiert worden. Diese
war insbesondere durch die Verhaftungen von
Streikleitungen ausgelöst worden. Neben den Forderungen
nach Freilassung der KollegInnen dominierten jetzt die
gleichen politischen und wirtschaftlich-sozialen
Losungen wie im Juni.[7]
Diese veröffentlichten und unbestrittenen Fakten
kontrastieren jedoch mit einer heute gängigen und zum 50
Jahrestag neu aufgelegten Interpretation des Aufstandes,
bei der das spezifische Gewicht der Arbeiterklasse zum
Verschwinden gebracht wird.
Zum sozialen Charakter
Unter dem Eindruck der Größe der Teilnehmerzahlen, der
Anzahl der Ortschaften und der inzwischen bekannt
gewordenen Beteiligung von nichtproletarischen Schichten
hat sich nunmehr bei Historikern und Publizisten der
Begriff »Volksaufstand« anstelle des jahrzehntelang
bevorzugten Begriffs »Arbeiteraufstand« durchgesetzt.
Selbst SozialdemokratInnen verwenden heute kaum noch den
Begriff »Arbeiteraufstand«, obgleich die prägende
Wirkung der Arbeiterschaft auf die Ereignisse und
Abläufe von niemandem tatsächlich geleugnet wird. Die
gesellschaftspolitische Implikation und politische
Absicht dieser Begriffsverschiebung ist leicht
durchschaubar und läuft darauf hinaus, die
Arbeiterklasse und ihre spezifischen Interessen
begrifflich zu tilgen und die Rolle anderer sozialer
Schichten aufzuwerten.[8] Mit dem Titel »Volksaufstand«
verbindet sich die unschwer erkennbare Absicht, auch die
Ziele und Forderungen des Aufstands in
sozialökonomischer Hinsicht interpretatorisch neu
auszurichten, d.h. im Sinne einer pro-kapitalistischen
Restauration zu interpretieren.[9] In massenmedialen
Darstellungen ist diese Praxis ohnehin üblich.
Die Diskussion über den politischen und sozialen
Charakter des 17. Juni ist eng mit der von Baring
entwickelten »Stufentheorie« verbunden, welche besagt,
dass der in den Betrieben zunächst gut organisierte
Streik der Belegschaften gegen die Normenerhöhung und
für betriebliche und soziale Ziele später, während der
Straßendemonstrationen, der Kontrolle der
Streikleitungen entglitt und in einen allgemeinen,
unkontrollierten Aufstand für freie Wahlen und
Wiedervereinigung überging. Jetzt erst habe sich der
Aufstand in einen politischen verwandelt, der sich auch
in Randale, Gewalt und Zerstörungen entlud. Die
»Stufentheorie« wird in etwas anderer Weise auch von
jenen benutzt, die aktuell wieder mit der alten These
aufwarten, die berechtigte soziale Unzufriedenheit der
Arbeiter sei erst durch die Intervention des Westens,
vor allem des RIAS, in eine gesteuerte politische
Konterrevolution umgeschlagen.[10] Beiden
Interpretationen ist gemeinsam, dass sie den allgemeinen
Aufstand gegen die SED-Diktatur als restaurativ und
pro-kapitalistisch identifizieren.
Der Versuch, den Arbeiteraufstand in einen allgemeinen
Volksaufstand aufzulösen, wird u.a. damit begründet,
dass sich den demonstrierenden Arbeitern die
Angestellten der am Rande des Zuges gelegenen Geschäfte
angeschlossen hätten, ebenso Hausfrauen und Jugendliche.
Unreflektiert bleibt, dass sowohl die Hausfrauen als
auch die Jugendlichen vor allem die Frauen und Kinder
der Marschierenden Arbeiter waren! Und so bleibt
letztlich unerwähnt, dass der allgemeine Volksaufstand
eben zu drei Vierteln ein Aufstand des Proletariats in
der DDR war, zu dem eben auch die Familienangehörigen
gehören. In Leipzig hatte selbst die SED die
demonstrierenden Massen wie folgt eingeschätzt: ca.
20000 Arbeiter, 10000 Hausfrauen, 10000 Kleinbürger und
2–3000 Jugendliche und Kinder.[11] Die Zahlen der am 17.
Juni Verhafteten und dann verurteilten Personen
bestätigen diesen Sachverhalt. Der Arbeiteranteil bei
den von Gerichten später verurteilten Personen wird
aktuell mit 88 Prozent angegeben.[12] Doch auch die
übrigen TeilnehmerInnen kamen aus werktätigen Schichten
bzw. Klassen. Dass etwa die Masse der Angestellten, z.B.
die Verkäuferinnen in der HO, selbst Teil des
Proletariats waren, wird ebenfalls ausgeblendet. Zu
Recht sagt deshalb der Gewerkschaftshistoriker Gerhard
Beier, dass sowohl seiner sozialen Struktur als auch
seiner typischen Abläufe nach der 17. Juni ein Aufstand
vom Typ einer proletarischen Revolution gewesen war.[13]
Die den Aufstand dominierende und bestimmende, »die
führende Rolle« hatte das Proletariat, vor allem die
qualifizierte Industriearbeiterschaft der Großbetriebe.
»Stufentheorie« widerlegt
Ein zentrales Element der auf Baring zurückgehenden und
weit verbreiteten »Stufentheorie« ist die These, dass es
einen Übergang vom sozialen Streik der Arbeiter zu einem
nationalen Volksaufstand gegeben habe. Die Darstellungen
der regionalen Abläufe, vor allem in den Zentren
Sachsen-Anhalts und Sachsens, widerlegen eine
»Stufentheorie«.[14] Selbst in Berlin hatte der
Bauarbeiterstreik bereits am Nachmittag des 16. Juni
während der Demonstration vor dem Haus der Ministerien
keinen ausschließlich sozialen Charakter. Als am Morgen
des 17. Juni die Mehrzahl der Betriebe Ostberlins die
Arbeit niederlegte, standen die Forderungen nach
Rücktritt der Regierung und freien Wahlen
gleichberechtigt neben denen nach der Aufhebung der
Normen oder der Senkung der HO-Preise. In den Betrieben
von Halle, in Leuna, BUNA, Bitterfeld, Leipzig, Dresden
waren die politischen Forderungen ebenfalls zu
Streikbeginn am Morgen des 17. Juni aufgestellt
worden.[15] Durch die Rekonstruktion der lokalen Abläufe
kann nunmehr auch ausgeschlossen werden, was der 17.
Juni nicht war: ein faschistischer Putsch oder der
berühmte, von westlichen Agenten oder dem RIAS
organisierte »Tag X.« Die Spontaneität der Abläufe, die
Ungleichzeitigkeit der Aktionen in den einzelnen
Betrieben, die dazu führte, dass zahlreiche Betriebe
erst am 18. Juni in den Streik traten, führen eine
solche Annahme ad absurdum. Die von einigen
Altstalinisten aufgewärmte Legende, der RIAS habe am 16.
Juni durch die Formulierung politischer Forderungen und
der Forderung nach einem Generalstreik in den sozialen
Protest der Bauarbeiter konterrevolutionäre politische
Forderungen hineingetragen, die zum Aufstand führten,
wird allein schon dadurch widerlegt, dass dieser
Aufstand in einigen Großbetrieben parallel an getrennten
Orten begonnen hatte. So war bereits in der Nacht vom
15. zum 16. Juni die Forderung nach einem Generalstreik
in Eisleben aufgetaucht, und der Streik im dortigen
Mansfeld-Kombinat begann bereits am 16. Juni nachmittags
zeitgleich mit dem der Berliner Bauarbeiter. Im
Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld hingegen
entwickelte sich der Streik bereits am 15. Juni und
eskalierte am 17. zunächst ohne Kenntnis der Berliner
Vorgänge. Den Anlass lieferte hier, wie übrigens bei
vielen anderen Streiks auch, nicht die Normenfrage,
sondern die Forderung nach Freilassung eines wegen
»feindlicher Propaganda« verhafteten Lehrlings.[16]
Bereits seit dem 12. Juni war es in verschiedenen
Städten zu Aufläufen vor Haftanstalten und Gerichten
gekommen, bei denen Familienangehörige oder
Arbeitskollegen die Freilassung von Verwandten und
Bekannten vorantreiben wollten, die durch den »Neuen
Kurs« der SED in Aussicht gestellt worden war.[17]
Die Losungen der aufständischen Arbeiterklasse bildeten
von Anfang an eine untrennbare Einheit
wirtschaftlich-sozialer und politischer Forderungen. Der
Ausgangspunkt des sozialen Konfliktes war die
Normenfrage. Durch die Einführung der gesetzlichen
Erhöhung der Normen um zehn Prozent hätte ein großer
Teil der Akkordlöhner bis zu dreißig Prozent des Lohnes
verloren. Bei steigenden HO-Preisen und bei Abschaffung
umfangreicher sozialer Leistungen (u.a.
Fahrgeldzuschüsse) war der Normenkampf vor allem ein
Kampf um die Verteidigung eines Lebensstandards, der
immer noch weit unter dem Vorkriegsniveau lag. Zugleich
besaßen die Forderungen des 17. Juni auch einen
dezidiert egalitären Charakter. Bereits auf der
Kundgebung der Ostberliner Bauarbeiter vor dem Haus der
Ministerien schleuderte ein Bauarbeiter Minister
Selbmann entgegen, dass man nicht nur die Rücknahme der
zehnprozentigen Normenerhöhung, sondern die Abschaffung
aller Normen in ganz Deutschland wolle.[18]
Das war ein erster Hinweis darauf, dass die
Auf-ständischen sich die Einheit Deutschlands etwas
anders vorstellten als der Verband der Metallarbeitgeber
Berlins und Brandenburgs heute. Die Losung »Akkord ist
Mord!« war bei den Streiks und betrieblichen
Diskussionen außerordentlich populär und in ihrem Bezug
auf die Auseinandersetzungen der Weimarer Republik
gegenwärtig. Die Kritik am tayloristischen Normensystem
zeigte sich auch im Hass auf die Arbeitsdirektoren und
die bei ihnen angesiedelten »Arbeitsnormer«, deren
Ablösung vielerorts gefordert wurde. Sie galten als
Personifizierung der Wiederkehr alter Hierarchien in den
DDR-Betrieb.[19] Neben der Kritik
am Normen-system zeigte sich der egalitäre Charakter der
Bewegung des 17. Juni auch in der massenhaften Kritik an
den privilegierten Gehältern der betrieblichen
Intelligenz, die mit Einzelverträgen zur Mitarbeit am
»Aufbau des Sozialismus« gewonnen werden sollten, sowie
an den im Verhältnis zu ArbeiterInnen hohen Gehältern
von Partei- und Staatsfunktionären sowie der
Volkspolizei. Die Belegschaft der Elektroschmelze
Zschornewitz forderte sogar die Abschaffung aller
Gehälter, die über 1000 DM lagen.[20]
In einigen Forderungskatalogen, wie dem des Kaliwerk
»Deutschland«, wird auch der Versuch der Belegschaften
erkennbar, Einfluss auf die Planung der Betriebe zu
bekommen.[21] Trotz des fehlenden
Diskussionsvorlaufes und des Fehlens einer breiten
gesellschaftlichen Debatte ist eine Tendenz erkennbar,
die in Richtung einer Arbeiterselbstverwaltung weist,
zumindest in Richtung des Versuchs einer erhöhten
Einflussnahme auf die wirtschaftlichen
Entscheidungsprozesse des Betriebes. Die
wirtschaftlich-sozialen Forderungen, die gerade zu
betrieblichen Angelegenheiten sehr detailliert
formuliert waren und in der zweiten Streikwelle im Juli
1953 noch einmal präzisiert wurden, enthalten immer
wieder auch grundlegende Forderungen einer
Reorganisation der gesellschaftlichen Machtstrukturen im
Betrieb und damit auch des ganzen Regimes der DDR:
1. Die Partei und/oder ihre hauptamtliche Struktur soll
aus dem Betrieb verschwinden und ihre Kontrolle über die
wirtschaftlichen Abläufe aufgeben,
2. die Gewerkschaft soll der Kontrolle der Partei
entzogen werden, damit sie eine Kampforganisation der
Werktätigen wird. Auch wird die Wahl von neuen
Betriebsgewerkschaftsleitungen gefordert. Der Ruf nach
einer echten und unabhängigen Gewerkschaft erschallt
allenthalben, selten auch werden Betriebsräte, aber
nicht die generelle Auflösung des FDGB gefordert.
Obwohl solche grundlegenden Fragen der
wirtschaftlich-sozialen Machtstruktur im Betrieb
thematisiert werden, findet sich jedoch nirgends die
Forderung nach einer Reprivatisierung der Großbetriebe!
Es sind vor allem die heute sämtlich in den Akten
nachzulesenden Forderungskataloge, welche das eindeutige
Urteil erlauben, dass der 17. Juni keine Bewegung zur
Restauration des Großkapitals und des Großgrundbesitzes
in der DDR gewesen war.[22]
Doch der Aufstand der DDR-Arbeiterklasse war nicht nur
nicht restaurativ, er war auch antimilitaristisch. Der
Kampf gegen die Aufrüstung war ein zentrales Anliegen
und »Butter statt Kanonen« eine der häufigsten
Lo-sungen. »Wir brauchen keine Volksarmee!«, skandierten
die Demonstranten, die erbeutete Waffen ähnlich wie 1918
nicht gegen ihre Feinde richteten, sondern zerstörten.
Erstaunliches sah der junge Bernd Rabehl, der wie Rudi
Dutschke in der Brandenburgischen Provinz aufwuchs und
den 17. Juni in Rathenow erlebte. Ein DDR-offizielles
Plakat zum 1. Mai wurde von Demonstranten getragen. Auf
ihm stand: »Nie wieder SS-Europa – Nieder mit den
Kriegsvorbereitungen in Westdeutschland!«[23]
Was wollten die Aufständischen eigentlich?
Gerade diese zuletzt zitierten Losungen machen deutlich,
dass die oft gestellte Forderung nach »freien Wahlen in
ganz Deutschland« etwas anderes meinen muss als eine
Übernahme der DDR durch das Adenauer-Regime. Hier wurden
Wahlen erhofft, die die Spaltungspolitik und die
Hochrüstung beider Teile Deutschlands gegeneinander
beenden und ein entmilitarisiertes Deutschland schaffen
sollten. In dem würde es auch mehr Butter geben. Das war
das einige Deutschland, das die aufständische
Arbeiterklasse erträumte. Es waren keine anderen
Vorstellungen, als sie sich damals in den
gewerkschaftlichen, sozialdemokratischen und
sozialistischen Programmen der Arbeiterklasse in
Westdeutschland fanden. Die einzige politische Garantie
für die Umsetzung dieser Vorstellungen schien die SPD zu
bieten, die als Arbeiterpartei zugleich auch die Partei
der nationalen Einheit war und die die Spaltungspolitik
Ulbrichts wie Adenauers, in Untergrundschriften im Osten
und von Berlin aus vor allem im RIAS anklagte. Sie
schien die Partei des demokratischen Sozialismus zu
sein, die die Verstaatlichung der Grundindustrien ohne
die brutale Entrechtung der Arbeiter wie unter dem
Ulbricht-Regime auf ihre Fahnen geschrieben hatte, die
von ihr als Sklaverei eines neuen Staatskapitalismus
angeprangert wurde. Die SPD schien der Garant des
deutschen, nicht des russischen Sozialismus. Sie würde
auch die in der DDR erreichten Reformen des Bildungs-
oder Gesundheitswesens nicht gefährden. »Hätten wir die
SPD, wäre alles besser«, kolportieren Stasispitzel die
Meinung von Arbeitern des Stahlwerks Brandenburg nach
dem 17. Juni.[24] Allenthalben
war am 17. Juni die Neuzulassung der SPD gefordert
worden, einige Alt-SPDler in der SED verlangten eine
sozialdemokratische Plattform. Doch waren auch ex-KPDler
unter den Streikenden. In Leipzig beteiligten sich in
den streikenden Betrieben immerhin drei Viertel der
SED-Mitglieder.
Die Forderungen und die politische Kultur, die trotz der
nur acht Jahre zurück liegenden Zeit des Faschismus eine
erstaunliche Vitalität der Arbeiterbewegungskultur
aufwiesen, machen deutlich, dass die Ziele des 17. Juni
soziale und politische sowie arbeiterspezifische und
allgemein-demokratische Forderungen untrennbar
miteinander vereinten. Die Arbeiterklasse in der DDR
hatte eine »Berliner Republik« vor Augen, die sie als
Alternative zu den deutschen Teilstaaten verstand, nicht
– wie 1989/90 – als die Überstülpung des einen über den
anderen. Die Arbeiterklasse von 1990 war immerhin 40
Jahre durch die Schule der SED-Diktatur gegangen, so
hatte sie ihre sozialistischen Optionen verloren. Das
war 1953 noch anders, als sich mit »Sozialismus« in Ost
wie in West eine Alternative zu Krieg und Faschismus
verband. Die »Berliner Republik« des 17. Juni war also
nicht die heutige, auf Sozialabbau und neue Kriege
zielende. Sie war ihr Gegenteil. Sie war wohl am ehesten
jene Republik, die Kurt Schumacher als »Staat des
demokratischen Sozialismus« bezeichnet hatte und den er
mit dem Staatskapitalismus in Ostdeutschland nicht
verwechselt sehen wollte. Ob tatsächlich für eine
Mehrheit der Arbeiterklasse gilt, was Bust-Bartels
vertritt, dass ihr Ziel am 17. Juni die Wiedergewinnung
jener basisdemokratischen Freiheiten gewesen war, über
die sie unmittelbar nach 1945 in den Betrieben verfügt
hatte und von denen sie durch die SED seit 1948
enteignet worden war, darf bezweifelt werden. Doch eine
radikale soziale Demokratie, die sich aus
sozialdemokratischer wie aus
freiheitlich-sozialistischer und
oppositionell-kommunistischer Tradition speiste, prägte
das Antlitz des 17. Juni allemal. Sie ist es wert, dass
auf sie zurückgekommen wird. In einer Zeit, in der die
SPD heute den staatlichen Lohnraub und eine brutale
Verarmungspolitik gegenüber großen Teilen der
arbeitenden Klasse betreibt, ist es gerade für die
sozialistische Linke auch notwendig, sich dieses
Aufstands anzunehmen, der gegen eine solche Politik
durch eine Partei mit dem Wörtchen »sozial« im Namen
entstand.
Einheit macht stark!
Willy Brandt hat in seinem Buch »Arbeiter und Nation«
treffend den politischen Charakter des 17. Juni zum
Ausdruck gebracht, als er schrieb: »In den machtvollen
Manifestationen in Ost-Berlin drückt sich nicht der
Schrei nach Anschluss an Bonn aus. Auf den
Transparenten, die bei den Massenstreiks mitgeführt
wurden, standen viele und wichtige Forderungen. Nirgends
hat etwas gestanden von der Reprivatisierung der
Mammutwerke. Sie wollen demokratisieren nicht
restaurieren. Ich habe nicht gehört oder gelesen, es
habe Demonstranten gegeben, die ›Hoch Adenauer‹ gerufen
hätten.«
Wir wissen inzwischen aus den Akten, dass es Menschen
gegeben hat, die »Hoch Adenauer« gerufen haben. Aber sie
haben nicht das Antlitz des 17. Juni bestimmt, es waren
Bauern. Darum hat Willy Brandt mit seiner damaligen
Einschätzung Recht behalten. Im Gegenteil, eine Fülle
von Belegen ist inzwischen aus den Akten aufgetaucht,
die diese Einschätzung bestätigen. Während mit großer
Wut die Propagandaeinrichtungen und Ikonen des
Ulbricht-Regimes zerstört wurden, blieb Marx unberührt.
In Halle, wo Stalin und Marx auf riesigen
Propagandabildern nebeneinander stehen, wird Stalins
Bild zerfetzt, während Marx stehen bleibt. In der Stadt
Brandenburg bleibt ein Plakat hängen, auf dem Marx mit
der Forderung nach der einigen, unteilbaren deutschen
Republik zitiert wird. Der Spiegel hatte in seiner schon
damals unnachahmlichen Art über die alte SPD-Hochburg
Magdeburg berichtet: »Abgeklärte Bebel-Typen mischten
sich unter die Demonstranten, die unter ihrer Leitung im
Hauptbahnhof die durchfahrenden Interzonenzüge mit
SPD-adä-quaten Parolen beschmierten, wie: ›Fort mit
Ulbricht und mit Adenauer, wir verhandeln nur mit
Ollenhauer!‹ Auf den Bahnsteigen wurden Transparente
ausgespannt, auf denen es hieß: ›Räumt euren Mist in
Bonn jetzt aus, in Pankow säubern wir das Haus!‹ Den
westdeutschen Fernfahrern, die auf der Autobahn
Magdeburg-Helmstedt heimwärts fuhren, präsentierten die
Aufrührer an der Brücke bei Barleben ein improvisiertes
Plakat, das Ulbricht und Adenauer am Galgen zeigte.
Darunter der Text: ›Einheit macht stark!‹«[25]
Anmerkungen
1) Vgl. den Leserbrief von Klaus Huhn in
ver.di-Publik, Nr. 07-08/2003, S.6f.
2) Arnulf Baring: »Der 17. Juni 1953«, 2. Aufl.,
Stuttgart 1983. Baring hatte als Erster gegen den
langjährigen Mainstream in Politik, Publizistik und
Wissenschaft vom »nationalen Volksaufstand« die Analyse
des »Arbeiteraufstands« in die akademische Debatte
eingebracht. Diese wissenschaftliche Analyse deckte sich
allerdings in vielen Zügen mit dem Bild des 17. Juni,
welches auch außerhalb des akademischen Betriebes in
guten Analysen publiziert wurde.
3) Armin Mitter/Stefan Wolle: »Untergang auf Raten.
Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte«, München 1993, S.
27ff.; Heidi Roth: »Der 17. Juni 1953 in Sachsen«, Köln
1999, S. 290ff.
4) Immer noch sehr interessant ist die Beschreibung der
Auseinandersetzung der Intellektuellen und ihrer
internen Differenzen durch Jürgen Rühle; ders.: »Der 17.
Juni und die Intellektuellen«, in: »17. Juni 1953.
Arbeiteraufstand in der DDR«, hg. von Ilse Spittmann und
Karl Wilhelm Fricke, Köln 1982, S. 178; die Debatten und
die entsprechenden Dokumente hat in diesem Jahr
Siegfried Prokopp veröffentlicht. Vgl. Ders.:
»Intellektuelle im Krisenjahr 1953«, Schkeuditz 2003.
5) Ilko-Sascha Kowalczuk unter Mitarbeit von Gudrun
Weber: »17. 6.1953: Volksaufstand in der DDR. Ursachen –
Abläufe – Folgen«, Berlin 2003, S. 103f.
6) Tobias Wunschik: »Der Sturm auf die Haftanstalten und
seine Nachwirkungen«, Vortrag auf der Konferenz »17.
Juni 1953. Volksaufstand in der DDR. Wissenschaftliche
Tagung der BstU«, Berlin, 11.-13 Juni 2003, unveröff.
Manuskript
7) Mitter/Wolle: »Untergang«, a.a.O.; Hubertus Knabe:
»17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand«, München 2003,
S. 267ff.
8) Vgl. Kowalczuk, a.a.O., S. 19.
9) Vgl. Mitter/Wolle, a.a.O., S. 76
10) Hans Bentzin »Was geschah am 17. Juni?«, Berlin
2003. Bentzien war DDR-Kulturminister in den 60er Jahren
und sieht sich als »Reformer«.
11) Die Gesamtzahlen sind zu niedrig, was aber für die
soziale Gewichtung hier gleichgültig ist. Die
Einschätzung der Nichtarbeiter wurde übrigens nach der
Garderobe vorgenommen, ein Vorgang, der sich in anderer
Hinsicht als höchst problematisch erwiesen hatte. Vgl.
Heidi Roth, a.a.O., S. 132f.
12) Kowalczuk, a.a.O., S. 250.
13) Gerhard Beier: »Wir wollen freie Menschen sein. Der
17. Juni 1953: Bauleute gingen voran«, Köln 1993, S.
15-22.
14) Siehe die Zusammenfassung bei Heidi Roth, a.a.O., S.
587ff.
15) Das zeigen sowohl die Untersuchungen von Heidi Roth
für Sachsen, a.a.O., als auch die für Sachsen-Anhalt
durch Angelika Klein; dies.: »Die Arbeiterrevolte im
Bezirk Halle, Bd. 1-3, herausgegeben vom Brandenburger
Verein für politische Bildung »Rosa Luxemburg« e.V.,
Potsdam 1993, sowie Hans-Peter Löhn: »Spitzbart, Bauch
und Brille- sind nicht des Volkes Wille! Der
Volksaufstand des 17. Juni 1953 in Halle an der Saale«,
Bremen 2003.
16) Rainer Hildebrandt: »Der 17. Juni. Zehn
Erlebnisgeschichten von Personen in verschiedenen
Brennpunkten des Aufstandes sowie ergänzende
dokumentarische Materialien«, 4. Aufl., Berlin 1990,
vgl. insbesondere den Bericht über Horst Sowada.
17) In der Stadt Brandenburg entwickelte sich bereits am
12. Juni aus der Randale von fünf Arbeitern, die ihren
zu Unrecht verhafteten Chef befreien wollten, in
kürzester Zeit ein Auflauf von 2 000-5 000 Menschen, der
zur umgehenden Freilassung der Person führte. Siehe
Mitter/Wolle, a.a.O., S. 77.
18) Vgl. Rainer Hildebrandt:»Der
17. Juni. Zehn Erlebnisgeschichten von Personen in
verschiedenen Brennpunkten des Aufstandes«, sowie
ergänzende dokumentarische Materialien mit 82 Fotos,
Berlin 1983, S. 54
19) Angelika Klein:
»Arbeiterrevolte im Bezirk Halle«, Bd. 1-3,
herausgegeben vom Brandenburger Verein für politische
Bildung »Rosa Luxemburg« e.V., Potsdam 1993, Bd. 1, S.
37; vgl. zur Enteignung der Arbeiterklasse durch die
Rückkehr des Taylorismus und den Zusammenhang mit dem
17. Juni: Axel Bust-Bartels: »Der Arbeiteraufstand am
17. Juni 1953. Ursachen, Verlauf und
gesellschaftspolitische Ziele«, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung das Parlament,
B 25/1980, S. 24-54
20) Angelika Klein, a.a.O., Bd.
1, S. 29
21) Angelika Klein, a. a.O., Bd.
2, S. 64
22) Die einzige Restauration, die
beobachtet werden konnte, war die angestrebte
Reprivatisierung von LPGen, welche von der SED mit
brutalen Methoden gegenüber den Bauern durchgesetzt
worden waren, sowie die Reprivatisierung des städtischen
Mittelstandes. Diesen Forderungen der zuvor Enteigneten
war die SED allerdings mit ihrer Politik des »Neuen
Kurses« bereits entgegen gekommen.
23) Bernd Rabehl:
»Schattenspiele. Mühseliges Erinnern an die Fünfziger
Jahre«, in: G. Eisenberg/H.-J. Linke (Hg.): »Fünfziger
Jahre«, Gießen 1980, S. 118
24) Vgl. Armin Mitter/Stefan
Wolle: »Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der
DDR-Geschichte«, München 1993
25) Der Spiegel, Nr. 26 vom 24.
Juni 1953, S. 7
Editorische Hinweise
Erschienen im express, Zeitschrift für
sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit,
in zwei Teilen (8+9/03)