TREND - Sonderschwerpunkt: 17. Juni 1953

Kalter Krieg gegen die DDR
Die Ereignisse aus der Sicht der  SED-Führung und ihrer linken Kritiker

06-2013

trend
onlinezeitung

»Räumt euren Mist in Bonn jetzt aus, in Pankow säubern wir das Haus!«

Eine Nachbetrachtung zum 17. Juni von Bernd Gehrke

Zahlreiche Bücher hat dieser 50. Jahrestag hervor gebracht, mehr als zweihundert Veranstaltungen wurden ihm gewidmet. In Politikerreden und im Feuilleton wurde der 17. Juni als freiheitliche Tradition des jetzt vereinigten deutschen Volkes wieder entdeckt. Die Berliner Republik benötigt freiheitliche Traditionen, mit denen sie selbstbewusst in die Welt sehen und gegebenenfalls auch marschieren kann. Deutschland ist als freiheitliche Nation endlich als Ganzes im Westen angekommen. Doch nicht nur nach außen, auch nach innen wird die freiheitliche Nation als ideologischer Kitt für eine durch den Neoliberalismus sich mehr und mehr polarisierende Gesellschaft gebraucht. Die Inszenierungen fortschrittlicher Traditionen durch die Herrschenden sind verlogen und abscheulich. Das ist nicht neu und keine Besonderheit der Bundesrepublik. In Frankreich feiert nicht nur die Linke den Sturm auf die Bastille, vor allem inszeniert sich an diesen Jahrestag alljährlich der Staat. Auch Le Pen und die radikale Rechte gewanden sich feierlich mit der Trikolore. In der DDR mussten jedes Jahr Millionen in Huldigungsprozessionen an der Politbürokratie vorbei defilieren, am 1. Mai etwa oder am Todestag von Karl und Rosa. Aber soll die Besetzung historischer Ereignisse durch die Inszenierungen der herrschenden Klassen und Cliquen dazu führen, dass die Linke diese Ereignisse preisgibt und ihnen keine eigenen Gedenken entgegensetzt?

Die Antwort ist nicht ganz einfach, schließlich hängt es nicht nur vom Charakter des historischen Ereignisses selbst ab, sondern eben auch von der Bedeutung für den eigenen Kampf und damit auch vom politischen Charakter derjenigen, die sich seiner annehmen. Die Moskau-Kommunisten und deren Sympathisanten haben den 17. Juni stets anders interpretiert als die meisten Sozialdemokraten, Sozialisten, Titoisten, Trotzkisten oder Anarchisten. Sie tun es auch heute noch, und zahlreichen ehemaligen Anhängern fällt es schwer, sich von den einmal erworbenen Bildern der Ereignisse zu trennen. Auf der DGB-Veranstaltung in der ehemaligen Berliner Stalinallee wurde einem Redner, der gerade die Unterdrückung von Arbeitern durch sowjetische Panzer anprangerte, von altkommunistischen Demonstranten aus dem SEW/DKP-Spektrum zornig entgegen geschleudert: »Auch bei uns gab es Berufsverbote!« Die SPD hingegen hatte den Regierenden Bürgermeister ins Rennen geschickt, der die Unterdrückung der Arbeiter im Osten verdammte, um die entschlossene Durchsetzung der Agenda 2010 zu verkünden. So standen sich bei dieser Veranstaltung wie zu Zeiten des Kalten Krieges wieder einmal die verlogenen Heerscharen von Stalinismus und rechter SPD als Teile eines linken Gruselkabinetts gegenüber. Manche Linken glauben, sie entkämen der Logik der Kalten-Kriegs-Konstellation, wenn sie sich auf DDR-Intellektuelle als Autoritäten stützen. So wird in einem Leserbrief in der ver.di-Zeitung Publik ein zuvor erschienener Artikel kritisiert, der unter Berufung auf Wolfgang Leonhard den 17. Juni als revolutionäre Arbeiterbewegung darstellte. Die Kritik findet ihr stärkstes Argument in der Berufung auf Brechts Brief an seinen Verleger von Ende Juni 1953, »den man die präziseste Analyse dieses Tages nennt.«[1] Wer das so »nennt« bleibt offen, die peinliche Anbiederung Brechts beim Ulbricht-Regime hielt der Briefautor nicht für erwähnenswert. Erfreulicherweise hat sich aber auch gezeigt, dass wichtige Teile der deutschen Gewerkschaftsbewegung den 17. Juni als einen Tag der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung verstehen: Der Streik auf dem Bau vor zwei Jahren begann ebenso am 17. Juni wie der diesjährige Metall-Streik Ost. Trotz fehlender oder eingeschränkter historischer Kenntnisse und Erfahrungen bei der jüngeren Generation hat der Juni-Aufstand gerade bei ArbeiterInnen in Ost und West einen »guten Ruf«. So ist es besonders beschämend, wenn gerade Teile der organisierten Linken, auch der nichtstalinistischen, auf alten Interpretationsmustern beharren, weil sich heutzutage nach Öffnung der DDR-Archive auf eine Fülle von Material und neuen Erkenntnissen gestützt werden kann.

Das Gesamtbild des Aufstands

Die Fakten der inzwischen auf der Grundlage der DDR-Akten veröffentlichten Arbeiten der letzten Jahre bestätigten das Gesamtbild der innerhalb der akademischen Historikerzunft zuerst von Arnulf Baring vorgelegten Analysen des Aufstandes.[2] Danach war dieser vor allem von der Industriearbeiterschaft in den Zentren der alten Arbeiterbewegung Mitteldeutschlands geprägt. Sie verlieh ihm seine Dynamik und sein Antlitz. Die Großbetriebe waren der Ausgangspunkt, der Motor und das Zentrum der Ereignisse. Im Gegensatz zu den medial vermittelten Bildern, die von den Reichweiten westlicher Kameras beeinflusst sind, gab Berlin zwar das Initial, doch hatte der Aufstand seine Höhepunkte und seine radikalsten Entwicklungen im mitteldeutschen Industriegebiet sowie in Ostsachsen. Magdeburg, Halle, Merseburg, Bitterfeld, Wolfen, Leipzig, Dresden und Görlitz bildeten diese Zentren. In Halle, Merseburg, Bitterfeld und Görlitz hatten überbetriebliche Streikräte und Volkskomitees bereits die Macht übernommen. Hinsichtlich der Streik- und Aufstandsbeteiligung unterschieden sich die alten Hochburgen von KPD oder SPD nicht. Die Bewegung des 17. Juni war nicht nur eine Streikbewegung für wirtschaftliche und soziale Ziele, sie war ein politischer Massenstreik, der sich zu einem regulären Aufstand auswuchs, welcher zur Erstürmung von Gefängnissen, MfS-Einrichtungen, Partei- und FDJ-Gebäuden oder Rathäusern führte. Dem Aufstand schlossen sich auch andere soziale Schichten an, städtische Ladenbesitzer und deren Angestellte. In einigen Dörfern kam es zu Bauernerhebungen, die ausgedehnter waren, als früher bekannt.[3] Doch waren diese anderen werktätigen Schichten, auf die sich insbesondere die Interpretation des »Volksaufstandes« stützt, eben für den Charakter des Aufstandes nicht prägend. Die Kirche spielte, von einigen Dörfern abgesehen, keine relevante Rolle, ebenso wenig die Intellektuellen, die ihre Unzufriedenheit hinter den geschlossenen Türen des Parteistaates artikulierten und die SED gegen die Arbeiterklasse verteidigten.[4]

Sowohl zeitlich als auch räumlich war der Aufstand breiter als vor der Öffnung der DDR-Archive in der wissenschaftlichen Literatur bekannt war: Am 17. Juni selbst streikten knapp 500000 Arbeiter. Trotz des noch am selben Tag verhängten Ausnahmezustands und der militärischen Besetzung der Städte und Großbetriebe sowie der Verhaftung von Streikleitungen dehnte sich der Streik am 18. Juni noch aus. Nur unter Androhung von Erschießungen und militärisch durchgesetzter Aussperrungen konnte die Streikbewegung in den Zentren bis zum 19. Juni gebrochen werden, während sie in etlichen Betrieben noch bis zum 22. Juni anhielt. In der Zeit zwischen dem 12. und 22. Juni haben nach letztem Forschungsstand rund eine Million Menschen in 702 Städten und Gemeinden an Streiks, Demonstrationen oder der Erstürmung von Gebäuden teilgenommen.[5] 60 Haftorte wurden gestürmt und 1400 Häftlinge befreit.[6] Inzwischen ist auch das ganze Ausmaß der zweiten Streikwelle im Juli 1953, an der Großbetriebe wie Leuna oder Zeiss beteiligt waren, rekonstruiert worden. Diese war insbesondere durch die Verhaftungen von Streikleitungen ausgelöst worden. Neben den Forderungen nach Freilassung der KollegInnen dominierten jetzt die gleichen politischen und wirtschaftlich-sozialen Losungen wie im Juni.[7]

Diese veröffentlichten und unbestrittenen Fakten kontrastieren jedoch mit einer heute gängigen und zum 50 Jahrestag neu aufgelegten Interpretation des Aufstandes, bei der das spezifische Gewicht der Arbeiterklasse zum Verschwinden gebracht wird.

Zum sozialen Charakter

Unter dem Eindruck der Größe der Teilnehmerzahlen, der Anzahl der Ortschaften und der inzwischen bekannt gewordenen Beteiligung von nichtproletarischen Schichten hat sich nunmehr bei Historikern und Publizisten der Begriff »Volksaufstand« anstelle des jahrzehntelang bevorzugten Begriffs »Arbeiteraufstand« durchgesetzt. Selbst SozialdemokratInnen verwenden heute kaum noch den Begriff »Arbeiteraufstand«, obgleich die prägende Wirkung der Arbeiterschaft auf die Ereignisse und Abläufe von niemandem tatsächlich geleugnet wird. Die gesellschaftspolitische Implikation und politische Absicht dieser Begriffsverschiebung ist leicht durchschaubar und läuft darauf hinaus, die Arbeiterklasse und ihre spezifischen Interessen begrifflich zu tilgen und die Rolle anderer sozialer Schichten aufzuwerten.[8] Mit dem Titel »Volksaufstand« verbindet sich die unschwer erkennbare Absicht, auch die Ziele und Forderungen des Aufstands in sozialökonomischer Hinsicht interpretatorisch neu auszurichten, d.h. im Sinne einer pro-kapitalistischen Restauration zu interpretieren.[9] In massenmedialen Darstellungen ist diese Praxis ohnehin üblich.

Die Diskussion über den politischen und sozialen Charakter des 17. Juni ist eng mit der von Baring entwickelten »Stufentheorie« verbunden, welche besagt, dass der in den Betrieben zunächst gut organisierte Streik der Belegschaften gegen die Normenerhöhung und für betriebliche und soziale Ziele später, während der Straßendemonstrationen, der Kontrolle der Streikleitungen entglitt und in einen allgemeinen, unkontrollierten Aufstand für freie Wahlen und Wiedervereinigung überging. Jetzt erst habe sich der Aufstand in einen politischen verwandelt, der sich auch in Randale, Gewalt und Zerstörungen entlud. Die »Stufentheorie« wird in etwas anderer Weise auch von jenen benutzt, die aktuell wieder mit der alten These aufwarten, die berechtigte soziale Unzufriedenheit der Arbeiter sei erst durch die Intervention des Westens, vor allem des RIAS, in eine gesteuerte politische Konterrevolution umgeschlagen.[10] Beiden Interpretationen ist gemeinsam, dass sie den allgemeinen Aufstand gegen die SED-Diktatur als restaurativ und pro-kapitalistisch identifizieren.

Der Versuch, den Arbeiteraufstand in einen allgemeinen Volksaufstand aufzulösen, wird u.a. damit begründet, dass sich den demonstrierenden Arbeitern die Angestellten der am Rande des Zuges gelegenen Geschäfte angeschlossen hätten, ebenso Hausfrauen und Jugendliche. Unreflektiert bleibt, dass sowohl die Hausfrauen als auch die Jugendlichen vor allem die Frauen und Kinder der Marschierenden Arbeiter waren! Und so bleibt letztlich unerwähnt, dass der allgemeine Volksaufstand eben zu drei Vierteln ein Aufstand des Proletariats in der DDR war, zu dem eben auch die Familienangehörigen gehören. In Leipzig hatte selbst die SED die demonstrierenden Massen wie folgt eingeschätzt: ca. 20000 Arbeiter, 10000 Hausfrauen, 10000 Kleinbürger und 2–3000 Jugendliche und Kinder.[11] Die Zahlen der am 17. Juni Verhafteten und dann verurteilten Personen bestätigen diesen Sachverhalt. Der Arbeiteranteil bei den von Gerichten später verurteilten Personen wird aktuell mit 88 Prozent angegeben.[12] Doch auch die übrigen TeilnehmerInnen kamen aus werktätigen Schichten bzw. Klassen. Dass etwa die Masse der Angestellten, z.B. die Verkäuferinnen in der HO, selbst Teil des Proletariats waren, wird ebenfalls ausgeblendet. Zu Recht sagt deshalb der Gewerkschaftshistoriker Gerhard Beier, dass sowohl seiner sozialen Struktur als auch seiner typischen Abläufe nach der 17. Juni ein Aufstand vom Typ einer proletarischen Revolution gewesen war.[13] Die den Aufstand dominierende und bestimmende, »die führende Rolle« hatte das Proletariat, vor allem die qualifizierte Industriearbeiterschaft der Großbetriebe.
»Stufentheorie« widerlegt

Ein zentrales Element der auf Baring zurückgehenden und weit verbreiteten »Stufentheorie« ist die These, dass es einen Übergang vom sozialen Streik der Arbeiter zu einem nationalen Volksaufstand gegeben habe. Die Darstellungen der regionalen Abläufe, vor allem in den Zentren Sachsen-Anhalts und Sachsens, widerlegen eine »Stufentheorie«.[14] Selbst in Berlin hatte der Bauarbeiterstreik bereits am Nachmittag des 16. Juni während der Demonstration vor dem Haus der Ministerien keinen ausschließlich sozialen Charakter. Als am Morgen des 17. Juni die Mehrzahl der Betriebe Ostberlins die Arbeit niederlegte, standen die Forderungen nach Rücktritt der Regierung und freien Wahlen gleichberechtigt neben denen nach der Aufhebung der Normen oder der Senkung der HO-Preise. In den Betrieben von Halle, in Leuna, BUNA, Bitterfeld, Leipzig, Dresden waren die politischen Forderungen ebenfalls zu Streikbeginn am Morgen des 17. Juni aufgestellt worden.[15] Durch die Rekonstruktion der lokalen Abläufe kann nunmehr auch ausgeschlossen werden, was der 17. Juni nicht war: ein faschistischer Putsch oder der berühmte, von westlichen Agenten oder dem RIAS organisierte »Tag X.« Die Spontaneität der Abläufe, die Ungleichzeitigkeit der Aktionen in den einzelnen Betrieben, die dazu führte, dass zahlreiche Betriebe erst am 18. Juni in den Streik traten, führen eine solche Annahme ad absurdum. Die von einigen Altstalinisten aufgewärmte Legende, der RIAS habe am 16. Juni durch die Formulierung politischer Forderungen und der Forderung nach einem Generalstreik in den sozialen Protest der Bauarbeiter konterrevolutionäre politische Forderungen hineingetragen, die zum Aufstand führten, wird allein schon dadurch widerlegt, dass dieser Aufstand in einigen Großbetrieben parallel an getrennten Orten begonnen hatte. So war bereits in der Nacht vom 15. zum 16. Juni die Forderung nach einem Generalstreik in Eisleben aufgetaucht, und der Streik im dortigen Mansfeld-Kombinat begann bereits am 16. Juni nachmittags zeitgleich mit dem der Berliner Bauarbeiter. Im Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld hingegen entwickelte sich der Streik bereits am 15. Juni und eskalierte am 17. zunächst ohne Kenntnis der Berliner Vorgänge. Den Anlass lieferte hier, wie übrigens bei vielen anderen Streiks auch, nicht die Normenfrage, sondern die Forderung nach Freilassung eines wegen »feindlicher Propaganda« verhafteten Lehrlings.[16] Bereits seit dem 12. Juni war es in verschiedenen Städten zu Aufläufen vor Haftanstalten und Gerichten gekommen, bei denen Familienangehörige oder Arbeitskollegen die Freilassung von Verwandten und Bekannten vorantreiben wollten, die durch den »Neuen Kurs« der SED in Aussicht gestellt worden war.[17]

Die Losungen der aufständischen Arbeiterklasse bildeten von Anfang an eine untrennbare Einheit wirtschaftlich-sozialer und politischer Forderungen. Der Ausgangspunkt des sozialen Konfliktes war die Normenfrage. Durch die Einführung der gesetzlichen Erhöhung der Normen um zehn Prozent hätte ein großer Teil der Akkordlöhner bis zu dreißig Prozent des Lohnes verloren. Bei steigenden HO-Preisen und bei Abschaffung umfangreicher sozialer Leistungen (u.a. Fahrgeldzuschüsse) war der Normenkampf vor allem ein Kampf um die Verteidigung eines Lebensstandards, der immer noch weit unter dem Vorkriegsniveau lag. Zugleich besaßen die Forderungen des 17. Juni auch einen dezidiert egalitären Charakter. Bereits auf der Kundgebung der Ostberliner Bauarbeiter vor dem Haus der Ministerien schleuderte ein Bauarbeiter Minister Selbmann entgegen, dass man nicht nur die Rücknahme der zehnprozentigen Normenerhöhung, sondern die Abschaffung aller Normen in ganz Deutschland wolle.[18] Das war ein erster Hinweis darauf, dass die Auf-ständischen sich die Einheit Deutschlands etwas anders vorstellten als der Verband der Metallarbeitgeber Berlins und Brandenburgs heute. Die Losung »Akkord ist Mord!« war bei den Streiks und betrieblichen Diskussionen außerordentlich populär und in ihrem Bezug auf die Auseinandersetzungen der Weimarer Republik gegenwärtig. Die Kritik am tayloristischen Normensystem zeigte sich auch im Hass auf die Arbeitsdirektoren und die bei ihnen angesiedelten »Arbeitsnormer«, deren Ablösung vielerorts gefordert wurde. Sie galten als Personifizierung der Wiederkehr alter Hierarchien in den DDR-Betrieb.[19] Neben der Kritik am Normen-system zeigte sich der egalitäre Charakter der Bewegung des 17. Juni auch in der massenhaften Kritik an den privilegierten Gehältern der betrieblichen Intelligenz, die mit Einzelverträgen zur Mitarbeit am »Aufbau des Sozialismus« gewonnen werden sollten, sowie an den im Verhältnis zu ArbeiterInnen hohen Gehältern von Partei- und Staatsfunktionären sowie der Volkspolizei. Die Belegschaft der Elektroschmelze Zschornewitz forderte sogar die Abschaffung aller Gehälter, die über 1000 DM lagen.[20] In einigen Forderungskatalogen, wie dem des Kaliwerk »Deutschland«, wird auch der Versuch der Belegschaften erkennbar, Einfluss auf die Planung der Betriebe zu bekommen.[21] Trotz des fehlenden Diskussionsvorlaufes und des Fehlens einer breiten gesellschaftlichen Debatte ist eine Tendenz erkennbar, die in Richtung einer Arbeiterselbstverwaltung weist, zumindest in Richtung des Versuchs einer erhöhten Einflussnahme auf die wirtschaftlichen Entscheidungsprozesse des Betriebes. Die wirtschaftlich-sozialen Forderungen, die gerade zu betrieblichen Angelegenheiten sehr detailliert formuliert waren und in der zweiten Streikwelle im Juli 1953 noch einmal präzisiert wurden, enthalten immer wieder auch grundlegende Forderungen einer Reorganisation der gesellschaftlichen Machtstrukturen im Betrieb und damit auch des ganzen Regimes der DDR:

1. Die Partei und/oder ihre hauptamtliche Struktur soll aus dem Betrieb verschwinden und ihre Kontrolle über die wirtschaftlichen Abläufe aufgeben,

2. die Gewerkschaft soll der Kontrolle der Partei entzogen werden, damit sie eine Kampforganisation der Werktätigen wird. Auch wird die Wahl von neuen Betriebsgewerkschaftsleitungen gefordert. Der Ruf nach einer echten und unabhängigen Gewerkschaft erschallt allenthalben, selten auch werden Betriebsräte, aber nicht die generelle Auflösung des FDGB gefordert.

Obwohl solche grundlegenden Fragen der wirtschaftlich-sozialen Machtstruktur im Betrieb thematisiert werden, findet sich jedoch nirgends die Forderung nach einer Reprivatisierung der Großbetriebe! Es sind vor allem die heute sämtlich in den Akten nachzulesenden Forderungskataloge, welche das eindeutige Urteil erlauben, dass der 17. Juni keine Bewegung zur Restauration des Großkapitals und des Großgrundbesitzes in der DDR gewesen war.[22]

Doch der Aufstand der DDR-Arbeiterklasse war nicht nur nicht restaurativ, er war auch antimilitaristisch. Der Kampf gegen die Aufrüstung war ein zentrales Anliegen und »Butter statt Kanonen« eine der häufigsten Lo-sungen. »Wir brauchen keine Volksarmee!«, skandierten die Demonstranten, die erbeutete Waffen ähnlich wie 1918 nicht gegen ihre Feinde richteten, sondern zerstörten. Erstaunliches sah der junge Bernd Rabehl, der wie Rudi Dutschke in der Brandenburgischen Provinz aufwuchs und den 17. Juni in Rathenow erlebte. Ein DDR-offizielles Plakat zum 1. Mai wurde von Demonstranten getragen. Auf ihm stand: »Nie wieder SS-Europa – Nieder mit den Kriegsvorbereitungen in Westdeutschland!«[23]

Was wollten die Aufständischen eigentlich?

Gerade diese zuletzt zitierten Losungen machen deutlich, dass die oft gestellte Forderung nach »freien Wahlen in ganz Deutschland« etwas anderes meinen muss als eine Übernahme der DDR durch das Adenauer-Regime. Hier wurden Wahlen erhofft, die die Spaltungspolitik und die Hochrüstung beider Teile Deutschlands gegeneinander beenden und ein entmilitarisiertes Deutschland schaffen sollten. In dem würde es auch mehr Butter geben. Das war das einige Deutschland, das die aufständische Arbeiterklasse erträumte. Es waren keine anderen Vorstellungen, als sie sich damals in den gewerkschaftlichen, sozialdemokratischen und sozialistischen Programmen der Arbeiterklasse in Westdeutschland fanden. Die einzige politische Garantie für die Umsetzung dieser Vorstellungen schien die SPD zu bieten, die als Arbeiterpartei zugleich auch die Partei der nationalen Einheit war und die die Spaltungspolitik Ulbrichts wie Adenauers, in Untergrundschriften im Osten und von Berlin aus vor allem im RIAS anklagte. Sie schien die Partei des demokratischen Sozialismus zu sein, die die Verstaatlichung der Grundindustrien ohne die brutale Entrechtung der Arbeiter wie unter dem Ulbricht-Regime auf ihre Fahnen geschrieben hatte, die von ihr als Sklaverei eines neuen Staatskapitalismus angeprangert wurde. Die SPD schien der Garant des deutschen, nicht des russischen Sozialismus. Sie würde auch die in der DDR erreichten Reformen des Bildungs- oder Gesundheitswesens nicht gefährden. »Hätten wir die SPD, wäre alles besser«, kolportieren Stasispitzel die Meinung von Arbeitern des Stahlwerks Brandenburg nach dem 17. Juni.[24] Allenthalben war am 17. Juni die Neuzulassung der SPD gefordert worden, einige Alt-SPDler in der SED verlangten eine sozialdemokratische Plattform. Doch waren auch ex-KPDler unter den Streikenden. In Leipzig beteiligten sich in den streikenden Betrieben immerhin drei Viertel der SED-Mitglieder.

Die Forderungen und die politische Kultur, die trotz der nur acht Jahre zurück liegenden Zeit des Faschismus eine erstaunliche Vitalität der Arbeiterbewegungskultur aufwiesen, machen deutlich, dass die Ziele des 17. Juni soziale und politische sowie arbeiterspezifische und allgemein-demokratische Forderungen untrennbar miteinander vereinten. Die Arbeiterklasse in der DDR hatte eine »Berliner Republik« vor Augen, die sie als Alternative zu den deutschen Teilstaaten verstand, nicht – wie 1989/90 – als die Überstülpung des einen über den anderen. Die Arbeiterklasse von 1990 war immerhin 40 Jahre durch die Schule der SED-Diktatur gegangen, so hatte sie ihre sozialistischen Optionen verloren. Das war 1953 noch anders, als sich mit »Sozialismus« in Ost wie in West eine Alternative zu Krieg und Faschismus verband. Die »Berliner Republik« des 17. Juni war also nicht die heutige, auf Sozialabbau und neue Kriege zielende. Sie war ihr Gegenteil. Sie war wohl am ehesten jene Republik, die Kurt Schumacher als »Staat des demokratischen Sozialismus« bezeichnet hatte und den er mit dem Staatskapitalismus in Ostdeutschland nicht verwechselt sehen wollte. Ob tatsächlich für eine Mehrheit der Arbeiterklasse gilt, was Bust-Bartels vertritt, dass ihr Ziel am 17. Juni die Wiedergewinnung jener basisdemokratischen Freiheiten gewesen war, über die sie unmittelbar nach 1945 in den Betrieben verfügt hatte und von denen sie durch die SED seit 1948 enteignet worden war, darf bezweifelt werden. Doch eine radikale soziale Demokratie, die sich aus sozialdemokratischer wie aus freiheitlich-sozialistischer und oppositionell-kommunistischer Tradition speiste, prägte das Antlitz des 17. Juni allemal. Sie ist es wert, dass auf sie zurückgekommen wird. In einer Zeit, in der die SPD heute den staatlichen Lohnraub und eine brutale Verarmungspolitik gegenüber großen Teilen der arbeitenden Klasse betreibt, ist es gerade für die sozialistische Linke auch notwendig, sich dieses Aufstands anzunehmen, der gegen eine solche Politik durch eine Partei mit dem Wörtchen »sozial« im Namen entstand.

Einheit macht stark!

Willy Brandt hat in seinem Buch »Arbeiter und Nation« treffend den politischen Charakter des 17. Juni zum Ausdruck gebracht, als er schrieb: »In den machtvollen Manifestationen in Ost-Berlin drückt sich nicht der Schrei nach Anschluss an Bonn aus. Auf den Transparenten, die bei den Massenstreiks mitgeführt wurden, standen viele und wichtige Forderungen. Nirgends hat etwas gestanden von der Reprivatisierung der Mammutwerke. Sie wollen demokratisieren nicht restaurieren. Ich habe nicht gehört oder gelesen, es habe Demonstranten gegeben, die ›Hoch Adenauer‹ gerufen hätten.«

Wir wissen inzwischen aus den Akten, dass es Menschen gegeben hat, die »Hoch Adenauer« gerufen haben. Aber sie haben nicht das Antlitz des 17. Juni bestimmt, es waren Bauern. Darum hat Willy Brandt mit seiner damaligen Einschätzung Recht behalten. Im Gegenteil, eine Fülle von Belegen ist inzwischen aus den Akten aufgetaucht, die diese Einschätzung bestätigen. Während mit großer Wut die Propagandaeinrichtungen und Ikonen des Ulbricht-Regimes zerstört wurden, blieb Marx unberührt. In Halle, wo Stalin und Marx auf riesigen Propagandabildern nebeneinander stehen, wird Stalins Bild zerfetzt, während Marx stehen bleibt. In der Stadt Brandenburg bleibt ein Plakat hängen, auf dem Marx mit der Forderung nach der einigen, unteilbaren deutschen Republik zitiert wird. Der Spiegel hatte in seiner schon damals unnachahmlichen Art über die alte SPD-Hochburg Magdeburg berichtet: »Abgeklärte Bebel-Typen mischten sich unter die Demonstranten, die unter ihrer Leitung im Hauptbahnhof die durchfahrenden Interzonenzüge mit SPD-adä-quaten Parolen beschmierten, wie: ›Fort mit Ulbricht und mit Adenauer, wir verhandeln nur mit Ollenhauer!‹ Auf den Bahnsteigen wurden Transparente ausgespannt, auf denen es hieß: ›Räumt euren Mist in Bonn jetzt aus, in Pankow säubern wir das Haus!‹ Den westdeutschen Fernfahrern, die auf der Autobahn Magdeburg-Helmstedt heimwärts fuhren, präsentierten die Aufrührer an der Brücke bei Barleben ein improvisiertes Plakat, das Ulbricht und Adenauer am Galgen zeigte. Darunter der Text: ›Einheit macht stark!‹«[25]

Anmerkungen

1) Vgl. den Leserbrief von Klaus Huhn in ver.di-Publik, Nr. 07-08/2003, S.6f.

2) Arnulf Baring: »Der 17. Juni 1953«, 2. Aufl., Stuttgart 1983. Baring hatte als Erster gegen den langjährigen Mainstream in Politik, Publizistik und Wissenschaft vom »nationalen Volksaufstand« die Analyse des »Arbeiteraufstands« in die akademische Debatte eingebracht. Diese wissenschaftliche Analyse deckte sich allerdings in vielen Zügen mit dem Bild des 17. Juni, welches auch außerhalb des akademischen Betriebes in guten Analysen publiziert wurde.

3) Armin Mitter/Stefan Wolle: »Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte«, München 1993, S. 27ff.; Heidi Roth: »Der 17. Juni 1953 in Sachsen«, Köln 1999, S. 290ff.

4) Immer noch sehr interessant ist die Beschreibung der Auseinandersetzung der Intellektuellen und ihrer internen Differenzen durch Jürgen Rühle; ders.: »Der 17. Juni und die Intellektuellen«, in: »17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR«, hg. von Ilse Spittmann und Karl Wilhelm Fricke, Köln 1982, S. 178; die Debatten und die entsprechenden Dokumente hat in diesem Jahr Siegfried Prokopp veröffentlicht. Vgl. Ders.: »Intellektuelle im Krisenjahr 1953«, Schkeuditz 2003.

5) Ilko-Sascha Kowalczuk unter Mitarbeit von Gudrun Weber: »17. 6.1953: Volksaufstand in der DDR. Ursachen – Abläufe – Folgen«, Berlin 2003, S. 103f.

6) Tobias Wunschik: »Der Sturm auf die Haftanstalten und seine Nachwirkungen«, Vortrag auf der Konferenz »17. Juni 1953. Volksaufstand in der DDR. Wissenschaftliche Tagung der BstU«, Berlin, 11.-13 Juni 2003, unveröff. Manuskript

7) Mitter/Wolle: »Untergang«, a.a.O.; Hubertus Knabe: »17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand«, München 2003, S. 267ff.

8) Vgl. Kowalczuk, a.a.O., S. 19.

9) Vgl. Mitter/Wolle, a.a.O., S. 76

10) Hans Bentzin »Was geschah am 17. Juni?«, Berlin 2003. Bentzien war DDR-Kulturminister in den 60er Jahren und sieht sich als »Reformer«.

11) Die Gesamtzahlen sind zu niedrig, was aber für die soziale Gewichtung hier gleichgültig ist. Die Einschätzung der Nichtarbeiter wurde übrigens nach der Garderobe vorgenommen, ein Vorgang, der sich in anderer Hinsicht als höchst problematisch erwiesen hatte. Vgl. Heidi Roth, a.a.O., S. 132f.

12) Kowalczuk, a.a.O., S. 250.

13) Gerhard Beier: »Wir wollen freie Menschen sein. Der 17. Juni 1953: Bauleute gingen voran«, Köln 1993, S. 15-22.

14) Siehe die Zusammenfassung bei Heidi Roth, a.a.O., S. 587ff.

15) Das zeigen sowohl die Untersuchungen von Heidi Roth für Sachsen, a.a.O., als auch die für Sachsen-Anhalt durch Angelika Klein; dies.: »Die Arbeiterrevolte im Bezirk Halle, Bd. 1-3, herausgegeben vom Brandenburger Verein für politische Bildung »Rosa Luxemburg« e.V., Potsdam 1993, sowie Hans-Peter Löhn: »Spitzbart, Bauch und Brille- sind nicht des Volkes Wille! Der Volksaufstand des 17. Juni 1953 in Halle an der Saale«, Bremen 2003.

16) Rainer Hildebrandt: »Der 17. Juni. Zehn Erlebnisgeschichten von Personen in verschiedenen Brennpunkten des Aufstandes sowie ergänzende dokumentarische Materialien«, 4. Aufl., Berlin 1990, vgl. insbesondere den Bericht über Horst Sowada.

17) In der Stadt Brandenburg entwickelte sich bereits am 12. Juni aus der Randale von fünf Arbeitern, die ihren zu Unrecht verhafteten Chef befreien wollten, in kürzester Zeit ein Auflauf von 2 000-5 000 Menschen, der zur umgehenden Freilassung der Person führte. Siehe Mitter/Wolle, a.a.O., S. 77.

18) Vgl. Rainer Hildebrandt:»Der 17. Juni. Zehn Erlebnisgeschichten von Personen in verschiedenen Brennpunkten des Aufstandes«, sowie ergänzende dokumentarische Materialien mit 82 Fotos, Berlin 1983, S. 54

19) Angelika Klein: »Arbeiterrevolte im Bezirk Halle«, Bd. 1-3, herausgegeben vom Brandenburger Verein für politische Bildung »Rosa Luxemburg« e.V., Potsdam 1993, Bd. 1, S. 37; vgl. zur Enteignung der Arbeiterklasse durch die Rückkehr des Taylorismus und den Zusammenhang mit dem 17. Juni: Axel Bust-Bartels: »Der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953. Ursachen, Verlauf und gesellschaftspolitische Ziele«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung das Parlament, B 25/1980, S. 24-54

20) Angelika Klein, a.a.O., Bd. 1, S. 29

21) Angelika Klein, a. a.O., Bd. 2, S. 64

22) Die einzige Restauration, die beobachtet werden konnte, war die angestrebte Reprivatisierung von LPGen, welche von der SED mit brutalen Methoden gegenüber den Bauern durchgesetzt worden waren, sowie die Reprivatisierung des städtischen Mittelstandes. Diesen Forderungen der zuvor Enteigneten war die SED allerdings mit ihrer Politik des »Neuen Kurses« bereits entgegen gekommen.

23) Bernd Rabehl: »Schattenspiele. Mühseliges Erinnern an die Fünfziger Jahre«, in: G. Eisenberg/H.-J. Linke (Hg.): »Fünfziger Jahre«, Gießen 1980, S. 118

24) Vgl. Armin Mitter/Stefan Wolle: »Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte«, München 1993

25) Der Spiegel, Nr. 26 vom 24. Juni 1953, S. 7

Editorische Hinweise

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, in zwei Teilen (8+9/03)