Kybernetik und Denken

von Rugard Otto Gropp

06-2013

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Zu den größten Errungenschalten der wissenschaftlich-technischen Revolution, die wir miterleben, gehört die Erfindung und Konstruktion von Maschinen, die Denkprozesse nachahmen, die schwierige mathematische Aufgaben lösen, logische Operationen ausführen, Übersetzungen vornehmen oder die Überwachungs- und Regelungsfunktionen in der Produktion, im Verkehr usw. ausüben können. Diese Maschinen nehmen dem Menschen nicht nur psychische und geistige Arbeit ab, sondern sie arbeiten auch unvergleichlich schneller und präziser als das menschliche Gehirn. Mit ihrer Erfindung haben sich völlig neue Möglichkeiten sowohl in der Sphäre der Produktion wie in Bezug auf die Leitung gesellschaftlicher Prozesse und auf dem Gebiet der menschlichen Erkenntnis ergeben.

Im Zusammenhang mit dieser technischen Entwicklung ist die Kybernetik als Wissenschaft entstanden, die neue, bisher unbekannte Gesetzmäßigkeiten erforscht. Ihre Untersuchungen sind in vieler Beziehung von hohem philosophischem Interesse. Insbesondere bestätigen sie, was uns an dieser Stelle interessiert, die materialistisch-dialektische Widerspiegelungstheorie, und tragen dazu bei, diese zu konkretisieren und zu präzisieren. Andererseits wirft die technische Kybernetik, die Konstruktion „denkender" Maschinen, Fragen auf, die das Verhältnis des Materiellen und Ideellen betreffen. Der Gegenstand der Kybernetik sind komplizierte dynamische selbstregulierende Systeme. Ihre Selbstregulierung erfolgt über Rückkopplungsmechanismen. Zu diesen Systemen gehören organische, gesellschaftliche und technische. Sie werden von der Kybernetik unter einheitlichen Gesichtspunkten untersucht.

Allen diesen Systemen ist gemeinsam, daß sie Informationen aufnehmen, speichern und verarbeiten. Die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen ist eine notwendige Bedingung für die Selbstregulierung dieser Systeme. Sie üben ihre Funktionen auf Grund von Informationen aus, die sie entweder aus der Umwelt aufnehmen oder die von einem ihrer Teilsysteme auf ein anderes übertragen werden.

Die Informationen sind an Signale gebunden. Signale sind materielle Prozesse, die für ein bestimmtes dynamisches System Informationsgehalt haben. (5)

Zum Beispiel erhalten die Regelmechanismen eines automatischen selbstregulierenden Maschinensystems laufend Signale (z. B. in Form verschiedenartiger elektrischer Impulse), die Informationen über den Arbeitsablauf enthalten und auf Grund derer die Maschine selbst den weiteren Material- oder Energiezufluß, den Transport der Werkstücke usw. regelt. Die Kybernetik geht davon aus, daß es sich bei solchen Prozessen, bei denen etwa elektrische Impulse gerichtete Regelungen auslösen, keineswegs lediglich um physikalische Umwandlungen handelt. Das Wesen der Sache besteht vielmehr darin, daß physikalische (oder chemische) Vorgänge als Träger von Informationen fungieren, ohne die die Selbstregelung des Maschinensystems nicht erfolgen könnte. Daher können auch sehr geringfügige Energiemengen, die als Signale fungieren, Prozesse von gewaltigen Ausmaßen auslösen und regeln. Das heißt aber, daß es sich hier nicht um Gesetze der Energieumwandlung handelt. Vielmehr liegen hier spezifische Gesetze der Informationsübertragung, -aufnähme, -Verarbeitung vor. Diese Gesetze gelten für alle vorgenannten Systeme.

Gehen wir weiter! Die Information ist im Signal in einer bestimmten Form enthalten, in einem Code, der durch das betreffende kybernetische System „verstanden" werden kann. Zum Beispiel muß eine mathematische Aufgabe in eine Rechenmaschine, die auf dem Dualsystem aufgebaut ist, erst dem Dualsystem gemäß kodifiziert werden. Aber wenn wir die bewußte Kodifizierung durch den Menschen beiseite lassen, so ist die Informationsübertragung allgemein wie folgt zu verstehen: Bestimmte Strukturen des Objekts, von dem das Signal ausgeht, die in der bestimmten Geordnetheit des Signals selbst vorhanden sind, werden durch entsprechende Umstrukturierungen des die Information erhaltenden Objekts von diesem aufgenommen. Anders gesagt: Zwischen bestimmten Zuständen der Quelle der Information, des Signals und des Empfängers stellen sich Beziehungen struktureller Ähnlich-1 keit her. Solche Strukturähnlichkeiten nennen wir Isomorphie. Isomor-phie heißt, daß jedem Element des einen Systems eindeutig ein Element des anderen Systems entspricht. Die Aufnahme der Information durch ein System setzt also bei diesem die Fähigkeit zu einer strukturellen Isomorphie mit der Seite oder der Eigenschaft des Gegenstandes voraus, die in der materiellen Struktur des Signals erscheint.

Zumn Beispiel besteht zwischen der bestimmten Struktur akustischer Erscheinungen und den Nervenprozessen, in die sie sich auf dem Wege über den inneren Apparat des Ohres umsetzen, eine strukturelle Isomorphie. Isomorphie kann also zwischen physikalisch, chemisch, biologisch ganz verschiedenartigen Prozessen oder Erscheinungen vorhanden sein. Die Informationsübertragung zwischen Objekten erfolgt somit auf Grund solcher in stofflichenergetischer Hinsicht verschiedenartiger Isomorphien. Wenn wir die strukturelle Geordnetheit des Signals den Code der Information nannten, so unterscheiden wir natürliche und künstliche Codes. Die künstlichen Codes werden vom Menschen bei der Informationsübertragung in der Gesellschaft, z. B. in den Morsezeichen, die dem Alphabet isomorph sind, geschaffen, aber auch für die informationsverarbeitenden Maschinen.

Die Kategorien der Information, des Signals und der Isomorphie konkretisieren die materialistische Widerspiegelungstheorie. Sie erklären, in welcher Weise die Widerspiegelung bestimmter Objekte durch andere Objekte möglich ist. Die informationstragenden Signale rufen in einem System bestimmte Veränderungen hervor, die Widerspiegelungen von Zuständen bzw. Prozessen anderer Systeme darstellen. In den selbstregulierenden dynamischen Systemen finden die Informationen eine systemeigene Verarbeitung, sie werden für die Funktionen dieses Systems ausgewertet.

Die Kybernetik gibt uns neue Beweise für die materielle Einheit der Welt, insbesondere für die Einheit des Anorganischen und Organischen. Sie weist nach, daß Widerspiegelungsprozesse nicht an die organische Materie gebunden sind. Die Kybernetik erweitert unsere Erkenntnisse über die materiellen Grundlagen des menschlichen Denkens.

Die Bindung der menschlichen ideellen Widerspiegelung der Wirklichkeit an materielle Nervenstrukturen und -prozesse sowie ihre Bindung an materielle Erscheinungsformen wie die Sprache, wie Zeichensysteme überhaupt, ist die Voraussetzung dafür, daß man diese Widerspiegelung technisch modellieren und imitieren kann. Dadurch sind wir in der Lage, bestimmte geistige Tätigkeiten der Menschen maschinell ausführen zu lassen. Andererseits erschließt uns die erfolgreiche technische Modellierung von Denkpro-

zessen neue Wege zur Erkenntnis der komplizierten Gehirntätigkeit selbst. Zwar kann man von der Arbeitsweise „denkender" Maschinen keine unmittelbaren Rückschlüsse auf die Arbeitsweise des Gehirns ziehen, aber sie ist in irgendeiner Form, in irgendeiner Hinsicht dieser analog und daher für die weitere Erforschung der Gehirnprozesse von bedeutendem heuristischen Wert.

Wenn in den kybernetischen Maschinen Denkprozesse nachgeahmt werden, so gehen in ihnen allerdings nicht selbst ideelle Prozesse vor sich. Vielmehr werden ideelle Aufgaben vom Menschen in die Maschine in materieller Form eingegeben, die Maschine nimmt die ihrer Konstruktion und dem eingegebenen Programm entsprechenden Umwandlungen vor, deren Resultat für den Menschen dann wieder eine ideelle Bedeutung annimmt. In der Maschine finden tatsächlich nur materielle Vorgänge statt, die aber Modellierungen ideeller Prozesse darstellen. Die Möglichkeit solcher Umwandlungen beruht auf den materiellen Grundlagen des Denkens überhaupt. Die Kybernetik steht, in theoretischer wie in technischer Hinsicht, noch in den Anfängen ihrer Entwicklung. Schon heute sind die kybernetischen Maschinen nicht nur darauf begrenzt, rein routinemäßige geistige Prozesse des Menschen zu ersetzen. Es werden heute bereits selbstorganisierende, „lernende" Maschinen konstruiert, die ihre Arbeitsweise selbst zu verbessern vermögen, den besten Weg zur Lösung von Aufgaben bestimmter Art selbst zu finden vermögen. Es wird im Prinzip für möglich gehalten, daß Maschinen in bestimmter Hinsicht auch „schöpferisch" arbeiten. Angesichts einer solchen Entwicklung und solcher Perspektiven wurde die Frage aufgeworfen, ob es in Zukunft nicht möglich sei, Anlagen zu konstruieren, die echte Denkprozesse vollziehen, in denen in der Tat ein Denken stattfindet. Diese Frage wird von verschiedenen Wissenschaftlern bejaht. Dabei wird u. a. so argumentiert, daß, wenn man auf materialistischem Standpunkt stehe und das Denken nicht für etwas Mystisches halte, man auch die Möglichkeit anerkennen müsse, das Denken maschinell zu reproduzieren, künstliche Gehirne zu schaffen. Bei Verwendung einer sehr großen Zahl von Elementen und unter Einschluß eventuell auch biologischer Elemente sei die Möglichkeit nicht auszuschließen, Anlagen zu schaffen, die echte Denkprozesse ausführen und Bewußtsein erlangen. Einer solchen Annahme muß aber vom philosophischen Standpunkt widersprochen werden, und zwar, ohne daß man damit das Denken, das Bewußtsein, für etwas Mystisches hält. Maschinen, technische Anlagen können nicht denken oder Bewußtsein entwickeln. Um dies einzusehen, muß man sich daran erinnern, was wir über die Entstehung und das Wesen des Denkens und Be-wußtseins in den vorhergehenden Abschnitten ausgeführt haben. Wir haben betont, daß das Denken nicht nur die Funktion des Gehirns als eines sehr komplizierten materiellen Systems ist. Darum handelt es sich beim Denken nicht nur um die Frage eines Apparates, und habe er einen noch so großen Umfang von Wechselbeziehungen mit der Umwelt. Die Entwicklung des Denkens setzt die gesellschaftliche Produktion, den gesamtgesellschaftlichen Verkehr, die gesellschaftlichen Bedürfnisse voraus. Aus der gesellschaftlichen Praxis erfolgen die Antriebe des Denkens, ergeben sich die zu lösenden geistigen Aufgaben. Wie wir in den vorhergehenden Abschnitten besonders hervorgehoben haben, ist das Denken letzten Endes ein gesamtgesellschaftlicher, mit der Praxis untrennbar verbundener Prozeß, wenn es sich auch in den einzelnen Gehirnen der Gesellschaftsmitglieder realisiert. Das Bewußtsein hat seinem Wesen nach kollektiven Charakter. Wenn man diesen marxistischen Standpunkt anerkennt, so sollte man sich mechanistische, vulgärmaterialistische oder auch positivistische Argumentationen in Bezug auf denkende künstliche Anlagen nicht zu eigen machen. Maschinen können weder zur Umwelt, noch unter sich, noch zu den Menschen bewußte Beziehungen herstellen. Sie können auch nicht, eine Vorstellung, die besonders imperialistischem Denken entspringt, eines Tages ihre Herrschaft über die Menschen errichten.

Die Maschinen, mögen sie noch so kompliziert konstruiert sein, und mögen sie noch so komplizierte Aufgaben zu lösen vermögen, werden von Menschen hergestellt und erhalten ihre Aufgaben vom Menschen. Die Maschinen sind immer nur Hilfsmittel der menschlichen Gesellschaft in ihrer Höherentwicklung.

Man hat die herkömmlichen Maschinen treffend als eine Organverlängerung des Menschen bezeichnet. So stellt z. B. ein moderner Kran einen ins Riesenhafte vergrößerten menschlichen Arm dar. Analog sind die Maschinen, Anlagen, die geistige Arbeit zu imitieren, geistige Aufgaben dem Menschen abzunehmen vermögen, Organverlängerungen des menschlichen Gehirns. Sie werden jeweils für bestimmte Zwecke, für einen bestimmten Bereich von Aufgaben oder Funktionen konstruiert, die sie besser, unvergleichlich schneller und zuverlässiger bewältigen können als der Mensch. Sie potenzieren die menschlichen geistigen Fähigkeiten. Sie sind aber keine selbstdenkenden, den Menschen überflügelnden (oder die Menschen gar einmal beherrschenden) Wesen. Sie bleiben Werkzeuge des vergesellschafteten Menschen, der menschlichen Gesellschaft. Sie dienen in hohem Maße der Steigerung der Produktion und des gesellschaftlichen Wohlstands, und sie dienen der Erhöhung der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten.

Fußnoten

5) Der Begriff des Signals ist hier nicht identisch mit dem physiologischen Signalbegriff bei I. P. Pawlow, der im Zusammenhang mit der Erklärung des bedingten Reflexes seine spezifische Bedeutung hat (eine biologisch an sich indifferente Erscheinung kann als Signal dienen für eine biologisch wichtige Tatsache). Der kybernetische Signalbegriff bezieht sich auf jede materielle Erscheinung, die für irgendein kybernetisches System Informationsträger ist. In gewisser Hinsicht, jedoch nicht in ihrer spezifischen Bedeutung, sind die Pawlow-schen Signale auch solche im Sinne der Kybernetik.

Editorische Hinweise

Wir entnahmen den Text: Rugard Otto Gropp, Grundlagen des dialektischen Materialismus, Berlin 1979, S, 71-75