Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Der Krieger/Revolutionär im Museum?
Ausstellung zu Guy Debord in der französischen Nationalbibliothek

06-2013

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Kann man einen gesellschaftskritischen Denker unter das Nationalerbe einreihen und in offiziellen Räumlichkeiten im Rahmen einer Ausstellung präsentieren? Diese Frage stellten sich auch die Organisatoren der seit Ende März dieses Jahres und noch bis zum 13. Juli laufenden Ausstellung in der französischen Nationalbibliothek „Bibliothèque François Mitterrand“.

Guy Debord hätte auf eine solche Bezeichnung bestimmt mit Ablehnung oder mit Sarkasmus reagiert“, schreibt der Hauptorganisator der Ausstellung, Bruno Racine, auf einer Schautafel im Eingangsbereich. Dieser Satz bezieht sich auf die Einstufung als Trésor national, „nationaler Schatz“. Diese wurde im Jahr 2009 für die persönlichen Archive des Autors von „Die Gesellschaft des Spektakels“ vorgenommen, bevor sie 2011 durch die Nationalbibliothek erworben wurden, um einen Ankauf durch die US-Universität in Yale und damit die Abwanderung der Archive zu verhindern. „Aber“, fügt Racine hinzu, zu Lebzeiten habe „Guy Debord selbst, indem er seine sämtliche Gegenstände akribisch aufbewahrte und ordnete, gezeigt, dass er eine ,Erwerbung für immer‘ (acquisition pour toujours) vornehmen wollte – frei nach dem Ausdruck des antiken griechischen Autors Thucydides im ,Peloponnesischen Krieg‘, den Debord sehr gerne zitierte.“ (Dies ist insofern logisch, als einer der Schlüsselsätze Debords lautete: „Nichts ist schlimmer als eine Gesellschaft der ewigen Gegenwart“, also eine Gesellschaft, die keinerlei Begriff ihres historischen Werdens noch ihrer Zukunft besitzt, sondern sich stets nur in den so genannten Notwendigkeiten des Augenblicks durchwurschtelt.)

An anderer Stelle betont Racine, in einer Zeitschrift, die durch die Bibliothek herausgegeben wird: „Würde die Bibliothek nur konformistische oder die herrschende Ordnung liebende Autoren aufnehmen, wären ihre Sammlungen sehr viel weniger interessant. Auch für diejenigen, die sich von revolutionären Ideen inspiriert sehen.“

Eine Nachkriegsjugend

Guy-Ernest Debord wurde 1931 geboren, und litt als Sohn des Inhabers einer Schuhfabrik keine materielle Not. Aber wie viele jungen Menschen in der Nachkriegszeit, die in Frankreich von einer Konzentration auf den Wiederaufbau unter Verzicht auf viele revolutionäre Ideale der Résistance-Generation geprägt, verspürte auch der Oberschüler Guy eine drückende Enge. Einen Ausweg fand er um 1950 zunächst, indem er sich der künstlerischen Bewegung des Lettrismus anschloss, welche der rumänische jüdische Einwanderer Isidour Isou um 1945 in Paris begründet hatte. Einige der ersten Ausstellungsstücke zeigen Briefe des jungen Debord an Altersgenossen und ein Foto von einem Leuchtturm in Cannes, den die Heranwachsenden mit der Aufschrift „Isou! Isou!“ verziert hatten.

Isou und seinen Anhängern ging es vor allem darum, eine Jugendbewegung zu initiieren, bestehende Konventionen in Frage zu stellen und traditionelle Kunstformen zu sprengen. 1951 zeigte er auf dem Festival in Cannes seinen Film Traité de bave et d’éternité (ungefähr: „Traktat über Schleim und Ewigkeit“), der einen Skandal und heftige Debatten hervorrief. Ein fünfminütiger Auszug aus dem Werk ist auch in der Pariser Ausstellung zu sehen. Es sollte die Filmkunst insofern revolutionieren, als die lineare Erzählung, wie sie bis dahin vorherrschend war, aufbrach und gleichzeitig Ton und Bild dissoziierte: Der Sprecher oder die Sprecherin im Hintergrund konnte etwa von Dingen oder Ideen sprechen, die ohne Zusammenhang zu dem gleichzeitig zu sehenden Bild zu sein schienen. So sieht man in dem Auszug einen jungen Mann, der durch die Pariser Straßen schlendert und mehr oder weniger alltägliche Szenen beobachtet, während die Stimme im „Off“ Konzepte zur Umwälzung der Kunst behandelt. Im selben Jahr machten die Avantgardisten dadurch auf sich aufmerksam, dass sie in der Pariser Kathedrale Notre-Dame auf die Kanzel stiegen und von dort herunter ihre Weihnachtsbotschaft verkündeten: „Gott ist tot!“

Die Ausstellungsgegenstände bieten aber auch bisweilen Überraschendes. So war weniger bekannt, dass die künstlerische Avantgardebewegung bisweilen auch fragwürdige Ideen im Bezug auf die Politik propagierte. In einem Ausschnitt aus einer lettristischen Zeitung wird etwa für die „Freilassung der jungen Milizionäre“, gemeint sind Angehörige der Milice des pro-faschistischen Regimes von Vichy, plädiert. Der damals auf der Titelseite erschienene Artikel fängt damit an, dass postuliert wird: „Wir waren alle in der Résistance, manche von uns als Kommunisten, andere als Gaullisten oder als Katholiken.“ Aber „wir“ seien genauso durch die Altvorderen und Etablierten getäuscht worden wie eben die jungen Faschisten, die durch ihre eigenen alten Herren mit falschen Idealen geblendet worden seien. Die Jugend müsse über alle Grenzen hinweg zusammenkommen, fährt der Artikel fort, der auch ein Plädoyer gegen Nationalismus und nationalstaatliche Grenzen enthält – es gelte, „die französische, die amerikanische, sowjetische, arabische und jüdische Jugend“ zusammenzuführen. Am Ende werden jedoch als konkrete Forderungen vor allem jene nach Freilassung und Amnestierung von ehemals auf Seiten der Achsenmächte kämpfenden, jungen Leuten durchdekliniert. Ein Plädoyer für den Faschismus enthielt dies bestimmt nicht. Und ein anderer Auszug aus einem lettristischen Organ plädiert einige Meter weiter sogar dafür, alle „proletarischen revolutionären Parteien“ zu einer „bewaffneten Intervention“ in Franco-Spanien aufzufordern, um den Funken des fünfzehn Jahre zuvor beendeten Bürgerkriegs wieder anzufachen und die frankistischen Herrscher zu vertreiben. Allgemein schien das Insistieren auf die Jugend als zentralen Wert jedoch diverse, unterschiedlich zu bewertende Blüten zu treiben.

Bruch mit den Lettristen

Ab 1952 kommt es zur Distanzierung zwischen Guy Debord und dieser Avantgardebewegung. Schon im Juli des Jahres gründeten Debord und eine Handvoll Gleichgesinnte in Brüssel eine „Lettristische Internationale“, und begannen sich von Isou abzuwenden. Zum definitiven Bruch kommt es jedoch im Oktober, nachdem eine Handvoll „Dissidenten“ – unter ihnen Giy Debord und Gil J. Wolman - in Paris eine Aktion gegen einen Besuch des Schauspielers Charlie Chaplin durchführten. Aus heute kaum mehr nachvollziehbaren Gründen lancierten sie ein denunziatorisches Flugblatt unter dem Titel „Schluss mit den Plattfüßen“, das auch in der Ausstellung dokumentiert ist und in dem Chaplin unter anderem als „verpuppter Faschist“ und „Gefühlsbetrüger“ bezeichnet wird. Isou distanziert sich öffentlich von dem Vorfall. Bei einer späteren Aktion im Jahr 1954 werden die „Dissidenten“ eine Aktion der von ihnen kritisierten Avantagardekünstler zweckentfremden. Aus Anlass einer Feier zum einhundersten Geburtstag von Arthur Rimbaud publizieren die Lettristen zusammen mit den Situationisten unter André Breton ein –ebenfalls in der Nationalbibliothek ausgestelltes - Flugblatt unter der Überschrift „Das fängt gut an!“, in dem sie die Literaturkritiker angreifen. Doch die „Lettristische Internationale“ versieht das von ihr ebenfalls Flugblatt mit einer Rückseite unter dem Titel „Und es hört schlecht auf!“, auf der sie ihre scheinbaren Verbündeten attackiert. Darin werden die kritisierten Avantgarden als „Opposition von Ihro Majestät Gnaden“ angegriffen. Und es wird ihnen bescheinigt: „Der Skandal innerhalb eines Systems zeitigt keine Konsequenzen. Die Surrealisten bleiben warm in einer Wirtschaftsordnung eingerichtet, die sie verurteilen vorgeben (…..). Man muss die Leute nach ihrer Lebensweise beurteilen, und nicht nach ihren Phrasen. Für die Surrealisten sind die wirtschaftlichen Probleme, die soziale Revolution keine vorrangigen Angelegenheiten. Sie versuchen, sich davon zu überzeugen, dass die solchen Zwängen entfliehen, und scheinen es zu glauben. Doch sie leben, und konsummieren. Auf den ersten Blick haben sie nicht den Anschein von Kapitalisten, Falschmünzen oder Gangstern. Man könne sie für Büroangestellte oder Seminaristen halten. Also sind sie Büroangestellte.“

Die „Dissidenten“ nähern sich an Spielarten des Marxismus an, vor allem in seiner rätekommunistischen Variante, und die Ideen der Zeitschrift Socialisme ou barbarie von Cornelius Castoriadis, die in der linken Stalinismuskritik jener Zeit eine wichtige Rolle spielte. Im Juli 1957 ruft die Gruppe um Debord bei einem Treffen in Cosio d’Arroscia, einem Dorf im Hinterland der ligurischen Küste in Norditalien, die „Situationistische Internationale“ aus. Ihren Namen leitet sie aus dem Ansinnen ab, „Situationen zu konstruieren“, in denen Gesellschaftskritik greifbar und plastisch gemacht werden kann. Zu ihren Besonderheiten zählt, dass sie – weit über die Kritik an den Arbeitsverhältnissen hinausgehend – Aspekte wie die Kritik am zeitgenössischen Städtebau, an der Konstitution der Subjekte in der herrschenden Gesellschaft, an Formen der Sexualität einbezieht.

Für die kommenden zehn bis fünfzehn Jahre werden die Situationisten eine wichtige Avantegarde der Gesellschaftskritik ihrer Zeit darstellen. Ihre vordergründigen Organisationsformen äffen Erscheinungsformen kommunistischer Verbände nach: die Organisierung in einer „Internationalen“ und ihren Sektionen, mit formellen Ausschlussverfahren und ideologischen Exkommunikationen. In Wirklichkeit werden die von stalinistischen Organisationen her bekannten Methoden dabei allerdings eher parodiert. Denn die „Internationale“ hat zu keinem Zeitpunkt mehr als rund fünfzehn Mitglieder, und während der gesamten Dauer ihres Bestehens „insgesamt nicht mehr als 100“, wie Gilbert Lascaut aus Anlass der Ausstellung in der Literaturzeitschrift Quinzaine Littéraire erinnert. Ausschlussgründe sind etwa „mangelnde Kreativität“ oder „zu viel kritiklose Zustimmung“, während in stalinistischen Organisationen ziemlich genau das Gegenteil erwartet wurde. Und was dem Publikum weniger bekannt war: Auch nach formellen Ausschlüssen aus der Organisation interessierte Guy Debord sich sehr genau für das weitere künstlerische und intellektuelle Wirken der Betreffenden, sofern ihr Schaffen von inhaltlichem Interesse für ihn war. Dies wird anhand von Briefwechseln, die Debord zum Teil lange Jahre hindurch mit einzelnen Ausgeschlossen unterhielt, in der Ausstellung belegt.

Der soziale und politische Aufbruch Mitte der sechziger Jahre, der unter anderem zum französischen Mai 1968 führt, gibt auch der Situationistischen Internationalen einen breiteren Raum für die Verbreitung ihrer Gesellschaftskritik. Eines der Rinnsale, das schlussendlich zum Strom des Pariser Mai führt, beginnt mit dem „UNEF-Skandal“ in Strasbourg im Mai 1966: Eine Broschüre der Situationisten über die „Misere im studentischen Milieu, betrachtet unter ihren wirtschaftliche, sozialen, psychologischen, sexuellen und besonders intellektuellen Aspekten“ wird auf Kosten der Studentengewerkschaft gedruckt und verbreitet. Ein Exemplar der selten im Original zu betrachtenden Broschüre ist auch in der Ausstellung zu sehen. Es veranschaulicht, wie unterschiedliche, für jene Zeit ungewöhnliche Stilelemente – wie die Benutzung von Comics zur Begleitung und Illustration tiefgründiger Texte, und erotischer Bilder – durch die Situationisten eingesetzt werden. Im Mai 1968 wenden die Situationisten sich gegen die Vereinnahmung der Bewegung durch orthodox-marxistische, teilweise autoritäre Organisationen und leiten ein „Komitee zur Aufrechterhaltung der Besetzungen“ an der Sorbonne. Doch nach dem heißen Frühling beginnt die Situationistische Internationale, von so vielen Seiten Applaus zu bekommen, dass Guy Debord und die ihm Nahestehenden zu fürchten beginnen, von einer Welle inhaltlich zu flacher oder opportunistischer Begeisterung begraben zu werden. Ab 1971 beginnen sie ihre Organisation zu sabotieren, die im folgenden Jahr (1972) ihre offizielle Auflösung bekannt gibt.

Nach Debord

Dem Nachleben der Ideen von Guy Debord, auch über seinen Tod 1994 hinaus, wird in der Ausstellung zu wenig Raum gewidmet. Dies wäre auch insofern interessant gewesen, als sich viele falsche Fuffziger unter den späteren Debord-Epigonen befinden. In der Zeitschrift der Nationalbibliothek werden unter anderem „Autonome und Industriekritiker“ als intellektuelle Nachfahren der Situationisten bezeichnet, was allermindestens erhebliche Differenzierung verdient hätte. In jüngerer Zeit nannten manche Beobachter auch Julien Coupat, den salonbolschewistischen Verfasser oder Co-Autor des aus verschiedenen Gründen zweifelhaften Büchleins „Der kommende Aufstand“ (2007), als angeblichen Nachfolger Debords. Doch nicht jeder vermeintliche Erbe kann Debord inhaltlich das Wasser reichen. Julien Coupats Auftritt in München am 10. Mai dieses Jahres, bei dem er kulturalistische Plattitüden absonderte – unter nicht kenntlich gemachter Berufung auf Giorgio Agamben behauptet er, die derzeitige Krisenpolitik in Europa resultiere aus der Konfrontation „des protestantischen Europa“ mit seiner Arbeitsethik, „des katholischen und des orthodoxen Europa“ – dürfte ein warnendes Zeichen dafür sein. N’est pas Guy Debord qui veut: Nicht jeder, der sich für Guy Debord hält, ist ihm intellektuell ebenbürtig.

Der Stratege

Der letzte Saal der Pariser Ausstellung zeigt ein Kriegsspiel – Jeu de la guerre -, das Guy Debord bereits in den Jahren ab 1956 erfunden hatte und sich später auch patentieren ließ. Mehrere Spielaufbauten und Figuren – Spielsoldaten, Miniaturkanonen und kleine Gebäude wie aus einer Modelleisenbahn – illustrieren die Spielvorrichtung. Debord war stark von Thucydides‘ eingangs zitierter Schrift zum Peloponnesischen Krieg inspiriert. Es handelte sich um einen langen und komplexen Konflikt zwischen griechischen Stadtstaaten der Antike, bei dem es keinen wirklichen Sieger gab. Doch das Interesse des Situationisten entsprang nicht einer Faszination für Waffen oder das Töten, sondern für komplexe strategische Situationen und ihre Entwicklung: dem anhaltenden Bewegungskrieg mit ständig wechselnden Fronten, überraschenden Verschiebungen und dem Aufbrechen und Neuzusammensetzen von Ketten und Befestigungen. So betrachtete Guy Debord auch die intellektuelle Auseinandersetzung. Bald zwanzig Jahre nach seinem Tod hat sich aber auch der Inhalt dessen, was manche vermeintlichen Epigonen als sein Erbe darstellen, zum Teil beträchtlich verschoben.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Aufsatz vom Autor für diese Ausgabe.