Kann man einen
gesellschaftskritischen Denker unter das Nationalerbe
einreihen und in offiziellen Räumlichkeiten im Rahmen
einer Ausstellung präsentieren? Diese Frage stellten
sich auch die Organisatoren der seit Ende März dieses
Jahres und noch bis zum 13. Juli laufenden Ausstellung
in der französischen Nationalbibliothek
„Bibliothèque François Mitterrand“.
„Guy
Debord hätte auf eine solche Bezeichnung bestimmt mit
Ablehnung oder mit Sarkasmus reagiert“, schreibt
der Hauptorganisator der Ausstellung, Bruno Racine, auf
einer Schautafel im Eingangsbereich. Dieser Satz bezieht
sich auf die Einstufung als Trésor national,
„nationaler Schatz“. Diese wurde im Jahr 2009 für die
persönlichen Archive des Autors von „Die Gesellschaft
des Spektakels“ vorgenommen, bevor sie 2011 durch die
Nationalbibliothek erworben wurden, um einen Ankauf
durch die US-Universität in Yale und damit die
Abwanderung der Archive zu verhindern. „Aber“,
fügt Racine hinzu, zu Lebzeiten habe „Guy Debord
selbst, indem er seine sämtliche Gegenstände akribisch
aufbewahrte und ordnete, gezeigt, dass er eine
,Erwerbung für immer‘ (acquisition pour toujours)
vornehmen wollte – frei nach dem Ausdruck des antiken
griechischen Autors Thucydides im ,Peloponnesischen
Krieg‘, den Debord sehr gerne zitierte.“ (Dies
ist insofern logisch, als einer der Schlüsselsätze
Debords lautete: „Nichts ist schlimmer als eine
Gesellschaft der ewigen Gegenwart“, also eine
Gesellschaft, die keinerlei Begriff ihres historischen
Werdens noch ihrer Zukunft besitzt, sondern sich stets
nur in den so genannten Notwendigkeiten des Augenblicks
durchwurschtelt.)
An anderer
Stelle betont Racine, in einer Zeitschrift, die durch
die Bibliothek herausgegeben wird: „Würde die
Bibliothek nur konformistische oder die herrschende
Ordnung liebende Autoren aufnehmen, wären ihre
Sammlungen sehr viel weniger interessant. Auch für
diejenigen, die sich von revolutionären Ideen inspiriert
sehen.“
Eine
Nachkriegsjugend
Guy-Ernest
Debord wurde 1931 geboren, und litt als Sohn des
Inhabers einer Schuhfabrik keine materielle Not. Aber
wie viele jungen Menschen in der Nachkriegszeit, die in
Frankreich von einer Konzentration auf den Wiederaufbau
unter Verzicht auf viele revolutionäre Ideale der
Résistance-Generation geprägt, verspürte auch der
Oberschüler Guy eine drückende Enge. Einen Ausweg fand
er um 1950 zunächst, indem er sich der künstlerischen
Bewegung des Lettrismus anschloss, welche der rumänische
jüdische Einwanderer Isidour Isou um 1945 in Paris
begründet hatte. Einige der ersten Ausstellungsstücke
zeigen Briefe des jungen Debord an Altersgenossen und
ein Foto von einem Leuchtturm in Cannes, den die
Heranwachsenden mit der Aufschrift „Isou! Isou!“
verziert hatten.
Isou und seinen
Anhängern ging es vor allem darum, eine Jugendbewegung
zu initiieren, bestehende Konventionen in Frage zu
stellen und traditionelle Kunstformen zu sprengen. 1951
zeigte er auf dem Festival in Cannes seinen Film
Traité de
bave et d’éternité
(ungefähr: „Traktat über Schleim und Ewigkeit“), der
einen Skandal und heftige Debatten hervorrief. Ein
fünfminütiger Auszug aus dem Werk ist auch in der
Pariser Ausstellung zu sehen. Es sollte die Filmkunst
insofern revolutionieren, als die lineare Erzählung, wie
sie bis dahin vorherrschend war, aufbrach und
gleichzeitig Ton und Bild dissoziierte: Der Sprecher
oder die Sprecherin im Hintergrund konnte etwa von
Dingen oder Ideen sprechen, die ohne Zusammenhang zu dem
gleichzeitig zu sehenden Bild zu sein schienen. So sieht
man in dem Auszug einen jungen Mann, der durch die
Pariser Straßen
schlendert und mehr oder weniger alltägliche Szenen
beobachtet, während die Stimme im „Off“ Konzepte zur
Umwälzung der Kunst behandelt. Im selben Jahr machten
die Avantgardisten dadurch auf sich aufmerksam, dass sie
in der Pariser Kathedrale Notre-Dame auf die Kanzel
stiegen und von dort herunter ihre Weihnachtsbotschaft
verkündeten:
„Gott ist
tot!“
Die
Ausstellungsgegenstände bieten aber auch bisweilen
Überraschendes. So war weniger bekannt, dass die
künstlerische Avantgardebewegung bisweilen auch
fragwürdige Ideen im Bezug auf die Politik propagierte.
In einem Ausschnitt aus einer lettristischen Zeitung
wird etwa für die „Freilassung der jungen
Milizionäre“, gemeint sind Angehörige der
Milice des pro-faschistischen Regimes von Vichy,
plädiert. Der damals auf der Titelseite erschienene
Artikel fängt damit an, dass postuliert wird: „Wir
waren alle in der Résistance, manche von uns als
Kommunisten, andere als Gaullisten oder als Katholiken.“
Aber „wir“ seien genauso durch die Altvorderen und
Etablierten getäuscht worden wie eben die jungen
Faschisten, die durch ihre eigenen alten Herren mit
falschen Idealen geblendet worden seien. Die Jugend
müsse über alle Grenzen hinweg zusammenkommen, fährt der
Artikel fort, der auch ein Plädoyer gegen Nationalismus
und nationalstaatliche Grenzen enthält – es gelte,
„die französische, die amerikanische, sowjetische,
arabische und jüdische Jugend“ zusammenzuführen.
Am Ende werden jedoch als konkrete Forderungen vor allem
jene nach Freilassung und Amnestierung von ehemals auf
Seiten der Achsenmächte kämpfenden, jungen Leuten
durchdekliniert. Ein Plädoyer für den Faschismus
enthielt dies bestimmt nicht. Und ein anderer Auszug aus
einem lettristischen Organ plädiert einige Meter weiter
sogar dafür, alle „proletarischen revolutionären
Parteien“ zu einer „bewaffneten Intervention“ in
Franco-Spanien aufzufordern, um den Funken des fünfzehn
Jahre zuvor beendeten Bürgerkriegs wieder anzufachen und
die frankistischen Herrscher zu vertreiben. Allgemein
schien das Insistieren auf die Jugend als zentralen Wert
jedoch diverse, unterschiedlich zu bewertende Blüten zu
treiben.
Bruch mit
den Lettristen
Ab 1952 kommt es
zur Distanzierung zwischen Guy Debord und dieser
Avantgardebewegung. Schon im Juli des Jahres gründeten
Debord und eine Handvoll Gleichgesinnte in Brüssel eine
„Lettristische Internationale“, und begannen sich von
Isou abzuwenden. Zum definitiven Bruch kommt es jedoch
im Oktober, nachdem eine Handvoll „Dissidenten“ – unter
ihnen Giy Debord und Gil J. Wolman - in Paris eine
Aktion gegen einen Besuch des Schauspielers Charlie
Chaplin durchführten. Aus heute kaum mehr
nachvollziehbaren Gründen lancierten sie ein
denunziatorisches Flugblatt unter dem Titel „Schluss mit
den Plattfüßen“, das auch in der Ausstellung
dokumentiert ist und in dem Chaplin unter anderem als
„verpuppter Faschist“ und „Gefühlsbetrüger“ bezeichnet
wird. Isou distanziert sich öffentlich von dem Vorfall.
Bei einer späteren Aktion im Jahr 1954 werden die
„Dissidenten“ eine Aktion der von ihnen kritisierten
Avantagardekünstler zweckentfremden. Aus Anlass einer
Feier zum einhundersten Geburtstag von Arthur Rimbaud
publizieren die Lettristen zusammen mit den
Situationisten unter André Breton ein –ebenfalls in der
Nationalbibliothek ausgestelltes - Flugblatt unter der
Überschrift „Das fängt gut an!“, in dem
sie die Literaturkritiker angreifen. Doch die
„Lettristische Internationale“ versieht das von ihr
ebenfalls Flugblatt mit einer Rückseite unter dem Titel
„Und es hört schlecht auf!“, auf der sie
ihre scheinbaren Verbündeten attackiert. Darin werden
die kritisierten Avantgarden als „Opposition von Ihro
Majestät Gnaden“ angegriffen. Und es wird ihnen
bescheinigt: „Der Skandal innerhalb eines Systems
zeitigt keine Konsequenzen. Die Surrealisten bleiben
warm in einer Wirtschaftsordnung eingerichtet, die sie
verurteilen vorgeben (…..). Man muss die Leute nach
ihrer Lebensweise beurteilen, und nicht nach ihren
Phrasen. Für die Surrealisten sind die wirtschaftlichen
Probleme, die soziale Revolution keine vorrangigen
Angelegenheiten. Sie versuchen, sich davon zu
überzeugen, dass die solchen Zwängen entfliehen, und
scheinen es zu glauben. Doch sie leben, und
konsummieren. Auf den ersten Blick haben sie nicht den
Anschein von Kapitalisten, Falschmünzen oder Gangstern.
Man könne sie für Büroangestellte oder Seminaristen
halten. Also sind sie Büroangestellte.“
Die
„Dissidenten“ nähern sich an Spielarten des Marxismus
an, vor allem in seiner rätekommunistischen Variante,
und die Ideen der Zeitschrift Socialisme ou
barbarie von Cornelius Castoriadis, die in der
linken Stalinismuskritik jener Zeit eine wichtige Rolle
spielte. Im Juli 1957 ruft die Gruppe um Debord bei
einem Treffen in Cosio d’Arroscia, einem Dorf im
Hinterland der ligurischen Küste in Norditalien, die
„Situationistische Internationale“ aus. Ihren Namen
leitet sie aus dem Ansinnen ab, „Situationen zu
konstruieren“, in denen Gesellschaftskritik greifbar und
plastisch gemacht werden kann. Zu ihren Besonderheiten
zählt, dass sie – weit über die Kritik an den
Arbeitsverhältnissen hinausgehend – Aspekte wie die
Kritik am zeitgenössischen Städtebau, an der
Konstitution der Subjekte in der herrschenden
Gesellschaft, an Formen der Sexualität einbezieht.
Für die
kommenden zehn bis fünfzehn Jahre werden die
Situationisten eine wichtige Avantegarde der
Gesellschaftskritik ihrer Zeit darstellen. Ihre
vordergründigen Organisationsformen äffen
Erscheinungsformen kommunistischer Verbände nach: die
Organisierung in einer „Internationalen“ und ihren
Sektionen, mit formellen Ausschlussverfahren und
ideologischen Exkommunikationen. In Wirklichkeit werden
die von stalinistischen Organisationen her bekannten
Methoden dabei allerdings eher parodiert. Denn die
„Internationale“ hat zu keinem Zeitpunkt mehr als rund
fünfzehn Mitglieder, und während der gesamten Dauer
ihres Bestehens „insgesamt nicht mehr als 100“, wie
Gilbert Lascaut aus Anlass der Ausstellung in der
Literaturzeitschrift Quinzaine Littéraire
erinnert. Ausschlussgründe sind etwa „mangelnde
Kreativität“ oder „zu viel kritiklose Zustimmung“,
während in stalinistischen Organisationen ziemlich genau
das Gegenteil erwartet wurde. Und was dem Publikum
weniger bekannt war: Auch nach formellen Ausschlüssen
aus der Organisation interessierte Guy Debord sich sehr
genau für das weitere künstlerische und intellektuelle
Wirken der Betreffenden, sofern ihr Schaffen von
inhaltlichem Interesse für ihn war. Dies wird anhand von
Briefwechseln, die Debord zum Teil lange Jahre hindurch
mit einzelnen Ausgeschlossen unterhielt, in der
Ausstellung belegt.
Der soziale und
politische Aufbruch Mitte der sechziger Jahre, der unter
anderem zum französischen Mai 1968 führt, gibt auch der
Situationistischen Internationalen einen breiteren Raum
für die Verbreitung ihrer Gesellschaftskritik. Eines der
Rinnsale, das schlussendlich zum Strom des Pariser Mai
führt, beginnt mit dem „UNEF-Skandal“ in Strasbourg im
Mai 1966: Eine Broschüre der Situationisten über die
„Misere im studentischen Milieu, betrachtet unter ihren
wirtschaftliche, sozialen, psychologischen, sexuellen
und besonders intellektuellen Aspekten“ wird auf Kosten
der Studentengewerkschaft gedruckt und verbreitet. Ein
Exemplar der selten im Original zu betrachtenden
Broschüre ist auch in der Ausstellung zu sehen. Es
veranschaulicht, wie unterschiedliche, für jene Zeit
ungewöhnliche Stilelemente – wie die Benutzung von
Comics zur Begleitung und Illustration tiefgründiger
Texte, und erotischer Bilder – durch die Situationisten
eingesetzt werden. Im Mai 1968 wenden die Situationisten
sich gegen die Vereinnahmung der Bewegung durch
orthodox-marxistische, teilweise autoritäre
Organisationen und leiten ein „Komitee zur
Aufrechterhaltung der Besetzungen“ an der Sorbonne. Doch
nach dem heißen Frühling beginnt die Situationistische
Internationale, von so vielen Seiten Applaus zu
bekommen, dass Guy Debord und die ihm Nahestehenden zu
fürchten beginnen, von einer Welle inhaltlich zu flacher
oder opportunistischer Begeisterung begraben zu werden.
Ab 1971 beginnen sie ihre Organisation zu sabotieren,
die im folgenden Jahr (1972) ihre offizielle Auflösung
bekannt gibt.
Nach
Debord
Dem Nachleben
der Ideen von Guy Debord, auch über seinen Tod 1994
hinaus, wird in der Ausstellung zu wenig Raum gewidmet.
Dies wäre auch insofern interessant gewesen, als sich
viele falsche Fuffziger unter den späteren
Debord-Epigonen befinden. In der Zeitschrift der
Nationalbibliothek werden unter anderem „Autonome und
Industriekritiker“ als intellektuelle Nachfahren der
Situationisten bezeichnet, was allermindestens
erhebliche Differenzierung verdient hätte. In jüngerer
Zeit nannten manche Beobachter auch Julien Coupat, den
salonbolschewistischen Verfasser oder Co-Autor des aus
verschiedenen Gründen zweifelhaften Büchleins „Der
kommende Aufstand“ (2007), als angeblichen Nachfolger
Debords. Doch nicht jeder vermeintliche Erbe kann Debord
inhaltlich das Wasser reichen. Julien Coupats Auftritt
in München am 10. Mai dieses Jahres, bei dem er
kulturalistische Plattitüden absonderte – unter nicht
kenntlich gemachter Berufung auf Giorgio Agamben
behauptet er, die derzeitige Krisenpolitik in Europa
resultiere aus der Konfrontation „des protestantischen
Europa“ mit seiner Arbeitsethik, „des katholischen und
des orthodoxen Europa“ – dürfte ein warnendes Zeichen
dafür sein. N’est pas Guy Debord qui veut:
Nicht jeder, der sich für Guy Debord hält, ist ihm
intellektuell ebenbürtig.
Der
Stratege
Der letzte Saal
der Pariser Ausstellung zeigt ein Kriegsspiel –
Jeu de la guerre -, das Guy Debord
bereits in den Jahren ab 1956 erfunden hatte und sich
später auch patentieren ließ. Mehrere Spielaufbauten und
Figuren – Spielsoldaten, Miniaturkanonen und kleine
Gebäude wie aus einer Modelleisenbahn – illustrieren die
Spielvorrichtung. Debord war stark von Thucydides‘
eingangs zitierter Schrift zum Peloponnesischen Krieg
inspiriert. Es handelte sich um einen langen und
komplexen Konflikt zwischen griechischen Stadtstaaten
der Antike, bei dem es keinen wirklichen Sieger gab.
Doch das Interesse des Situationisten entsprang nicht
einer Faszination für Waffen oder das Töten, sondern für
komplexe strategische Situationen und ihre Entwicklung:
dem anhaltenden Bewegungskrieg mit ständig wechselnden
Fronten, überraschenden Verschiebungen und dem
Aufbrechen und Neuzusammensetzen von Ketten und
Befestigungen. So betrachtete Guy Debord auch die
intellektuelle Auseinandersetzung. Bald zwanzig Jahre
nach seinem Tod hat sich aber auch der Inhalt dessen,
was manche vermeintlichen Epigonen als sein Erbe
darstellen, zum Teil beträchtlich verschoben.
Editorische
Hinweise
Wir erhielten
den Aufsatz vom Autor für diese Ausgabe.
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