Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Die rechte Protestbewegung gegen die Homosexuellenehe hält an – und radikalisiert sich

06-2013

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So viel Bereitschaft zum Märtyrertum war selten. „Notfalls würde ich mich auch vor den Panzer legen, wie 1989 auf dem Tian’an men-Platz“, kündigte die Aktivistin Ludovine de la Rochère in den Spalten des rechtsextremen Internetmagazins Nouvelles de France an. Kurz, bevor am vergangenen Sonntag - 26.05.13 - in Paris erneut zwischen 300.000 und 400.000 Menschen gegen die Homosexuellenehe in Frankreich auf die Straße gingen. (Laut unseren Beobachtungen, beruhend auf Beobachtungen an einem Fixpunkt in der Nähe des Trocadéro-Platzes. Die Demonstranten-Zahl blieb jedoch hinter jener am 13. Januar 13, beim selben Thema, sichtbar zurück.)

Leider ist es relativ unwahrscheinlich, dass die Dame ihre großsprecherische Ankündigung wenigstens auch wahr macht. Auch darf man getrost davon ausgehen, dass die Risiken, die sie mit ihrer frenetischen Aktivität gegen die Homosexuellenehe in Frankreich eingeht, doch in eng überschaubaren Grenzen bleiben. Im Vorfeld der jüngsten Demonstration vom Sonntag, den 26. Mai hatte die circa Vierzigjährige die eher exzentrische Persönlichkeit „Frigide Barjot“ – so lautet ihr selbstgewähltes Pseudonym, es bedeutet so viel wie „Frigide Bescheuert“, von Virginie Merle-Tellenne – als wichtigste Sprecherin der rechten Protestbewegung abgelöst.

Die 50jährige „Barjot“ war am 05. Mai 13 bei einer regionalen Protestaktion in Lyon von Teilen einer Demonstration ausgepfiffen worden. Dabei tat sich besonders die rechtsextreme, als gewalttätig bekannte Studentenorganisation GUD (Groupe Union-Défense) hervor. In den darauffolgenden Tagen erhielt „Barjot“ mehrfach Drohungen, bis hin zum Empfang eines per Post verschickten, blutgetränkten Taschentuchs. Ihr wird vorgeworfen, sich zwar gegen Eheschlüsse auch für homosexuelle Paare, aber für ihre zivilrechtliche Anerkennung ausgesprochen zu haben. „Frigide Barjot“ machte sich zwar gegen die Homosexuellenehe, aber für eine eingetragene Lebenspartnerschaft unter der Bezeichnung union civile stark.

Denn offiziell, so betonte jedenfalls diese Protagonistin es des Öfteren, möchte die Protestbewegung nicht homophob sein, sondern lediglich auf das Problem der Stellung von Kindern im Falle der Adoption durch homosexuelle Paare aufmerksam machen. Auf den „Schutz unserer Kinder“ beriefen sich auch zahlreiche Demonstranten am Sonntag – auch wenn dieses offizielle Argument durch den Anblick der zahlreich mitgeschleiften und für das Tragen von Parolen, die sie bestimmt nicht verstanden, instrumentralisierten Kinder konterkariert wurde. Dass zumindest „Frigide Barjot“ sich immer wieder von expliziter, offener Homophobie abgrenzte, begeisterte aber nicht alle ihrer Mitprotestierenden. So wenig, dass sie nun beiseite geschoben und durch die rechtskatholische Fundamentalistin de la Rochère ersetzt wurde. Ein Anzeichen unter mehreren für die politische und ideologische Radikalisierung der Bewegung, die sich auch in der wachsenden Bedeutung der rechten bis rechtsextremen Plattform Printemps français („Französischer Frühling“) unter Béatrice Bourges widerspiegelt.

Rechte Apokalyptiker, deren Irrationalität sich etwa in den Worten von de la Rochère ausdrückt, waren ebenso bei dem Protest gegen die „Homo-Ehe“ am vergangenen Sonntag (und französischen Muttertag) dabei wie Kirchenleute – unter ihnen Mönche und Schwestern in voller Kampfmontur, pardon: Berufskluft -, UMP-Parlamentarier und militante Neofaschisten.

Aber auch katholische „Normalbürger“ wie dieses – persönlich durchaus nicht unsympathische – Rentnerehepaar aus Saargemünd in Lothringen, dessen Begründung für seine Teilnahme gegenüber dem Autor dieser Zeilen denkbar einfach ausfiel: „Die Ehe ist heilig!“ (In dem Sinne, dass man ein „Sakrament“ nicht antasten dürfe.) Eine verschwindend kleine Minderheit von Musliminnen-Muslimen und eine kleine Handvoll von Schwarzen ließen sich ebenfalls in der Demo ausmachen, doch ihre überwiegende Mehrheit war ebenso weiß wie katholisch und anscheinend eher mittelständisch wohlhabend. Wiederholt war von einer angeblichen „sozialistischen Diktatur“ (hihi) die Rede, bis hin zu der Aufforderung an Präsident François Hollande: „Beweisen Sie, dass wir nicht in einer Diktatur leben, indem Sie das Gesetz (Anm. zur Homosexuellen-Ehe) zurückziehen.“ (Sic) Auf manchen Plakaten war François Hollande gar als Kim Jong-Il karikiert, während der Regierungspolitik zur Homo-Ehe auf anderen Schildern wahlweise die französische Résistance oder Mahatma Gandhi entgegen gesetzt wurde...

Die militanten Rechtsextremen in ihren Reihen lieferten sich im Anschluss an die Demonstration Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften. Dabei wurden 36 Personen verletzt: 34 Polizisten und ein Kameramann der Nachrichtenagentur AFP, der als Vertreter der „Systempresse“ attackiert, zu Boden gerissen und mit Tritten traktiert wurde, sowie ein (aus unklaren Gründen) von den rechten Protestierern zusammengeschlagener Mann. Es kam daraufhin zu 293 Festnahmen im Lauf des Sonntag Abend.

Zuvor zogen Hunderttausende von Menschen durch Paris und riefen etwa: „François, wir wollen Dein Gesetz nicht“ oder, was sich als besonders beliebter Spruch erwies und in einen fiktiven Kindermund gelegt wurde: „Meine Mutter heißt nicht Robert!“ (Oder, alternativ, in Form einer Suggestivfrage an Staatspräsident Hollande gerichtet: „François, heißt Deine Mutter etwa Robert?“) Ein Teil der Demonstration erfreute sich auch an der Parole: „Taubira nach Cayenne!“ Christiane Taubira ist die schwarze französische Justizministerin, die aus Französisch-Guayana stammt und bei vielen Rechten besonders verhasst ist. Die Hauptstadt des Gebiets, Cayenne, war vor 1947 auch als Verbannungsort mit einem finsteren Zuchthaus berüchtigt - worauf die Redewendung „nach Cayenne schicken“ noch immer anspielt.

Verbot des „Französischen Frühlings“?

Am Freitag, den 24. Mai 13 erwog Innenminister Manuel Valls, ein Organisationsverbot gegen die eher vage strukturierte Bewegung von Béatrice Bourges zu verhängen. Ihre Gruppierung „Französischer Frühling“ hatte zuvor angekündigt, nunmehr „die Regierung und all ihre Anhängsel, die politischen Parteien der Kollaboration“ – gemeint ist: mit der angeblichen sozialistischen Diktatur – „und die Lobbys, in denen die herrschende Ideologie ausgearbeitet und verbreitet wird“, ins Visier zu nehmen. Innenminister Valls wertete dies als eine Ankündigung von Einschüchterung und Gewalt. Unter der herrschenden Ideologie versteht die Gruppierung die Abkehr von der vorgeblichen natürlichen Moral, und speziell „die Genderideologie“, da derzeit über die Einführung der Gendertheorie in französische Schulbücher derzeit diskutiert wird. Was man unter den vermeintlich einflussreichen „Lobbys“ versteht, stellte die Gruppierung am Freitag Abend unter Beweis, als sie vor der Freimaurerloge Le Grand Orient in Paris demonstrierte. Um den Einfluss der Freimaurer, die vor 1789 eine wichtige Rolle als Geheimorganisation des aufgeklärten oder revolutionären Bürgertums spielten und heute zum Teil als elitäre Zirkel in einem Teil der Bourgeoisie fortbestehen, ranken sich seit zweihundert Jahren wüste Verschwörungstheorien. Bei reaktionären Katholiken sind sie ebenso beliebt wie bei Antisemiten und Neofaschisten.

Auch nachdem das Gesetz zur Einführung der Homosexuellenehe am Freitag, den 17. Mai d.J. durch das französische Verfassungsgericht für verfassungskonform erklärt und am folgenden Tag von Staatspräsident François Hollande unterschrieben wurde, gehen die Proteste dagegen weiter. Die Sprüche, mit denen de la Rochère ihr fortwährendes Engagement gegen das diabolische Vorhaben untermalt, belegen den zunehmend irrationalen Charakter der Gegenbewegung. Unterschiedlich motivierte Zukunftsängste und Befürchtungen vor einem gesellschaftlichen Wandel, der als ebenso katastrophenträchtig wie unumkehrbar betrachtet wird und in vielen Köpfen von der Auflösung der Geschlechterordnung bis zur „Rassenmischung“ reicht, bündeln sich an der Frage der Homosexuellenehe wie in einem Brennglas.

Nicht einmal im noch stärker katholisch geprägten Spanien, wo die Homosexuellenehe bereits 2006 eingeführt wurde, woraufhin der damalige Papst Benedikt XVI. deswegen Premierminister José Luis Rodriguez Zapatero persönlich in Madrid Vorwürfe machte, kam es zu einem vergleichbaren Kräftemessen. Dort blieb es bei einer größeren Demonstration. In Frankreich dagegen wurde die rechte oder religiös motivierte Mobilisierung dagegen seit Mitte November vergangenen Jahres quasi zu einer Dauereinrichtung. Und sie ist, auch nachdem das Gesetz nun in Kraft ist und am Mittwoch, den 29. Mai 13 die erste Hochzeit zwischen zwei Männern in Montpellier gefeiert wurde (unter Abschirmung durch 250 bis 300 Polizisten und Gendarmen), wohl noch immer nicht zu Ende.

Das Spiel der UMP

Einige Bürgermeister kündigten wie das UMP-Stadtoberhaupt von Vienne bei Grenoble, Jacques Remiller, bereits an, die Anwendung des Gesetzes zu „boykottieren“ – auch auf die Gefahr von Strafverfolgungen hin. Laut Umfragen verurteilen zwar gut 55 Prozent der Befragten dieses Verhalten, doch je eine Mehrheit sowohl in der Wählerschaft der konservativ-wirtschaftsliberalen UMP als auch des rechtsextremen Front National befürwortet es. Andere Rathauschefs wollen es vermeiden, selbst solche Eheschlüsse vorzunehmen – die in Frankreich von Bürgermeistern oder ihren Stellvertretern zelebriert werden – und die Sache delegieren, wie UMP-Parteichef Jean-François Copé in „seiner“ Stadt Meaux, der es seinen Beisitzen überlassen möchte. Sein Parteifreund, der Abgeordnete Hervé Mariton, wiederum will als Bürgermeister von Crest zwar gesetzeskonform auch Hochzeiten von homosexuellen Paaren pflichtgemäß feiern, aber „ihnen dabei sagen, was er dazu denkt“. Um ihnen ordentlich die Feier zu verderben, falls sie nicht lieber doch dankend verzichten. Am vergangenen Sonntag kündigten auch militante Oberschüler aus katholischen Privatschulen an, gegen einzelne Eheschlüsse homosexueller Paare vor den Rathaustüren zu demonstrieren. Wenn die Heirat zum Spießrutenlauf wird, dürfte die Motivation der Beteiligten doch erheblich sinken.

Die aktuelle Parteiführung der UMP unter ihrem Parteivorsitzenden Jean-François Copé versuchte in den letzten Wochen eifrig, Öl ins Feuer zu gießen. Am 04. Mai 2013 erklärte Copé in einem Interview mit der konservativen Tageszeitung Le Figaro: „Frankreich benötigt ein neues 1958.“ Nicht Mai 1968, sondern 1958: Dabei spielt er auf die Ereignisse des 13. Mai 1958 an, bei denen Charles de Gaulle inmitten des Algerienkriegs durch einen (von Algier ausgehenden) Militärputsch an die Macht kam. Der Putsch wurde schnell legalisiert, indem das französische Parlament in Paris de Gaulle die Macht übergab; er begründete daraufhin die Fünfte Republik, welche die kriselnde Vierte Republik ablöste. Bei den Ereignissen im Mai 1958 zogen konservative Rechte und Neofaschisten noch an einem Strang, um ein „starkes Regime“ zu errichten, das den Kolonialkrieg in Algerien gewinnen solle. Erst in den darauffolgenden Jahren, 1960-62, erfolgte die Trennung zwischen beiden Kräften, nachdem Charles de Gaulle aus realpolitischen Gründen die Unabhängigkeit Algeriens akzeptiert hatte.

Auch derzeit ziehen ein Teil der Konservativen und die französischen Neofaschisten in der Protestbewegung an einem Strang. Sinnbildlich vollzog die rechtskatholische Politikerin Christine Boutin – Wohnungsbauministerin unter Nicolas Sarkozy bis 2012 – den Schulterschluss, indem sie am Sonntag (26.05.13) Seite an Seite zusammen mit dem FN-Abgeordneten Gilbert Collard demonstrierte. Eine Woche zuvor erklärte sie in einem Interview bei den Sender „TV5“ und RFI: „Es gibt höherrangige Gesetze, die über den Gesetzen der Republik stehen“, womit sie die so genannte natürliche Moralordnung meinte. Eine antidemokratische Position in Reinform.

Durch solche Sprüche unterhält Copé ein Klima, das prinzipiell für eine Art – von Zivilisten angeführten - Rechtsputsch günstig sein soll. Aufgrund der extremen Unpopularität der amtierenden Regierung unter François Hollande und Jean-Marc Ayrault und im Kontext der anhaltenden Sozial- und Wirtschaftskrise haben zumindest Teile der Rechten von einem solchen Szenario zu träumen begonnen. Ein anderer Teil der konservativ-wirtschaftsliberalen Rechten verurteilt jedoch solche Träumereien mit zunehmender Schärfe, da er sie als staatspolitisch verantwortungslos betrachtet. Ex-Premier und Ex-Außenminister Alain Juppé etwa erklärte vor der jüngsten Großdemonstration der rechten Protestbewegung vom 26. Mai, er rate ausdrücklich von einer Teilnahme ab. Auch andere frühere Minister betonen, wenn ein Gesetz einmal in Kraft getreten sei – und nachdem es nun in Anwendung befindlich – müsse es gelten, „die Republik zu kritisieren“. Ansonsten fürchten sie eine Destabilisierung des bürgerlichen Staates, auch im Hinblick auf etwaige soziale Proteste unter späteren (auch eigenen) Regierungen.

Parteichef Copé sah sich gezwungen, auf die wachsenden Gegenstimmen auch aus dem eigenen Lager Rücksicht zu nehmen. Kurz vor der Demo vom 26.06. erklärte er, es gelte nun „ein letztes Mal“ nach Inkrafttreten des Gesetzes, auf der Straße dagegen zu mobilisieren. Jetzt gelte es für die Anhänger der Protestbewegung, „ihr gesellschaftliches Engagement in ein künftiges politisches Engagement umzuwandeln“, etwa durch Unterstützung seiner Partei vor den nächsten Kommunalwahlen (die in ganz Frankreich im März 2014 stattfinden). Aber für den Fall einer weiteren Zuspitzung der Krise verfügt die konservative Rechte nunmehr über ein Modell, eine Erfahrung mit der Initiierung rechten Straßenprotests. Teile der Bewegung fordern unterdessen weiterhin hartnäckig den Rücktritt von Präsident François Hollande.

Historischer Hintergrund

Das Ausmaß und den zum Teil apokalyptischen Unterton der aktuellen Protestbewegung kann nur verstehen, wer sie in den Kontext der französischen Geschichte stellt. In jenen gesellschaftlichen Milieus, die sich durch die Bindungswirkung katholischer Werte und konservativer Einstellungen auszeichnen, würde in anderen Ländern vielleicht eher eine unpolitische Haltung oder die Einrichtung im Bestehenden vorherrschen. In Frankreich aber ist ein Teil gerade dieser sozialen Gruppen durch die Erinnerung an den Epochenbruch von 1789 geprägt: Modernisierung und Abkehr vom Überkommenen wird hier dauerhaft mit einem vermeintlich traumatischen Erlebnis, jener an den revolutionären Umsturz einer als „natürlich“ vorgestellten Ordnung, assoziiert.

Deswegen besteht in einem Teil des konservativen bis reaktionären gesellschaftlichen Milieus eine auf den ersten Blick erstaunlich wirkende Bereitschaft, sich „notfalls“ auch aktiv der Politik der Regierenden zu widersetzen. Versailles ist deswegen mobilisierungsfähiger als Paderborn oder Altötting... Vor allem dann, wenn diese einem als feindlich wahrgenommenen politischen Lager angehören, dem seit der Enthauptung des Königs im Januar 1793 und seit der Trennung zwischen Kirche und Staat im Dezember 1905 alle möglichen Schandtaten zugetraut werden. Ein solcher aktivistischer Konservativismus ist etwa in Deutschland eher unbekannt, Vergleiche werden aktuell westlich des Rheins auch eher zur Tea Party-Bewegung in Nordamerika gezogen.

Die meiste Zeit über bleibt diese Mobilisierungsbereitschaft konservativer Kreise im Latenzzustand. Aber wenn ein Thema, wie die als bedrohlich wahrgenommene Reform der staatlichen Finanzierung für die katholischen Privatschulen im Frühjahr 1984 - die damaligen Millionenproteste fallen zeitlich mit dem Durchbruch des Front National als Wahlpartei mit Massenanhang zusammen - oder aktuell die „Homo-Ehe“, als besonderer Stachel wahrgenommen wird, dann schlägt die Situation um. Zumal wenn, wie im Augenblick, dem rechten Protest die Straße überlassen bleibt, weil - angesichts der konkreten Früchte sozialdemokratischer Regierungspolitik - die Basis der Linksparteien und ein Gutteil der Gewerkschaften desorientiert, frustriert und perspektivlos vor sich hin starren.

Eine gewisse Rolle spielt dabei auch eine katholische Kirche, die (bzw. deren Mehrheitsströmung) sich aktuell stärker re-politisiert hat. Eine Mehrheitskirche, die sich auf ihrer konservativ-reaktionären „harten Kern“ zurückzieht und dabei viele zögernde Gläubige in jüngster Zeit abgestoßen hat. Einzig „frisch“ daran ist die bemerkenswerte Neuentwicklung, dass die katholische Kirche dennoch – trotz ihres, in dem Ausmaß seit den 1960er Jahren nicht dagewesenen, reaktionären Rückwärts-Rucks – sich nicht allein auf den Appell an die Autorität „christlicher Werte“ verlässt. Vielmehr beruft sie sich beständig auch auf tatsächliche oder vermeintliche Erkenntnisse aus den Human- und Gesellschaftswissenschaften wie etwa der Psychologie, welche aus einem völlig anderen als theologischem Kontext kommen; nun aber von ihr zitiert werden, um ihre Behauptungen über den gesellschaftsschädlichen Charakter der Homosexuellen-Ehe (oder der „Genderideologie“) zu untermauern. So werden Studien aus der Psychologie herangezogen, um darzulegen, dass eine ‚Alterität“ (Konfrontation mit Andersartigkeit), gemeint ist konkret: eine Bipolarität in Gestalt unterschiedlicher Geschlechterrolle, für die „Identitätskonstruktion“ der Individuen von hoher Bedeutung sein. Um allerdings dann zu dem platten Schluss zu kommen, Kinder, die in gleichgeschlechtlichen Elternhäusern aufwüchsen, könnten nur zu unvollständigen Individuen werden.

Eine solche (sicherlich missbräuchliche) Berufungen auf Humanwissenschaften, Medizin, Psychologie, Soziologie usw. als Ergänzung zum Herunterbeten eines theologischen „Wertekanons“ ist in kirchlichen Kreisen neuartig. Gleichzeitig öffnet sie verstärkt neuen Bündnissen im rechten Spektrum Tür & Tor. Denn das Heranziehen von Gesellschaftswissenschaften als Ergänzung oder Untermauerung von vorgesetzten Werten „göttlichen Ursprungs“ beinhaltet – zumindest bei manchen Protagonisten – auch eine neue Öffnung zu unterschiedlichen Formen von Vitalismus und Biologismus, in denen sich „Gottgewolltheit“ mit „biologischer Notwendigkeit“ mischen, um den Menschen Vorschriften zu machen. Ähnlich, wie auf politischer Ebene (in der Bewegung gegen die Homosexuellen-Ehe) erstmals seit längerem wieder eine intensive Zusammenarbeit zwischen katholisch-fundamentalistischen, nicht religiös geprägten und neuheidnischen Rechtsextremen stattgefunden hat.

Einer der Sprecher des Bündnisses, das die Großdemonstrationen gegen die Homosexuellenehe anmeldete, ist etwa der rechtskatholische Intellektuelle Tugdual Derville. Er kündigte bereits an, im Herbst 2013 eine neue Bewegung unter der Bezeichnung écologie humaine (Humanökologie) ins Leben zu rufen. Man darf doch gespannt sein darauf, welche Auslegungen dieser Begriff der „Humanökologie“ zulässt, und u.a. welche – von Tugdual Derville vielleicht überhaupt nicht identischen – biologistischen und auch rassenideologischen Konzeptionen daran noch angedockt werden...

 

Selbstmord in Notre-Dame: Ein Fanal gegen die „Dekadenz des Abendlands“-
Gegen Homosexuellen-Ehe und Einwanderung

Es steht sehr zu befürchten, dass es die mit Abstand beste Tat im Leben des Dominique Venner war. Im Alter von 78 Jahren beging der faschistische Schriftsteller am Nachmittag, des 21. Mai 13 öffentlichen Selbstmord in der Pariser Kathedrale Notre-Dame. Rund 1.500 Besucher/innen, überwiegend Touristen, sahen ihm zu, wie er sich eine Pistole in den Mund schob, nachdem er einen Abschiedsbrief auf dem Altar hinterlegt hatte.

Dominique Venner war kein Christ, sondern hing dem rechten Neuheidentum an. Aus diesen Gründen war es nicht Notre-Dame de Paris als Kirche, sondern als nationales und kulturelles Symbol, das er für den Ort seines Abschieds vom Leben ausgewählt hatte. Sein Suizid war Ausdruck einer reaktionären Verzweiflung, in dem Sinne, dass bestimmte rechte Aktivisten daran zu zweifeln beginnen, ob die von ihnen als Katastrophe erlebten gesellschaftlichen Veränderungen – „Rassenmischung“, Globalisierung, Bedeutungsverlust ihrer Nation, … - noch rückgängig zu machen sind. Sein Selbstmord sollte aber auch als Fanal wirken, also aufrütteln, mobilisieren. Dominique Venner war in jüngerer Zeit im Rahmen der Opposition gegen die Homosexuellenehe in Frankreich aktiv geworden, besonders bei der Vereinigung Le Printemps français („Französischer Frühling“, vgl. nebenstehenden Artikel dazu). Er versuchte durch seine Tat, für die kommenden Protestdaten der Bewegung wie die Demonstration vom 26. Mai 13 zu mobilisieren. Aber auch, die Bewegung darauf hinzuweisen, dass sie aus seiner Sicht ihren ideologischen Horizont erweitern musste: Die rechte Protestbewegung dürfe nicht nur gegen die Homo-Ehe aus Ausdruck der „Dekadenz unserer“ Kultur auftreten, sondern müsse sich auch die „Frage der afrikanischen und maghrebinischen Einwanderung“ stellen, gab er in seinem Abschiedsbrief zu Protokoll.

Dominique Venner war in der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt, aber in „eingeweihten“ Zirkeln der neofaschistischen Rechten durchaus eine Figur, eine Respekt- und Bezugsperson. Sein politisch-ideologisches Engagement währte über fünfziger Jahre. Es begann in den 1950er Jahren in den Reihen der Bewegung Jeune Nation, die damals durch Pierre Sidos angeführt wurde, den späteren langjährigen Chef der Gruppierung Oeuvre française. (Deren Leitung übergab er im Februar 2012 dem jungen Kader Yvan Benedetti, nachdem dieser aufgrund antisemitischer Aussprüche und Gewalt gegen andere Parteimitglieder beim Front National ausgeschlossen worden war.) Jeune Nation wurde aufgrund von gewalttätigen Versuchen zum „Anheizen der Heimatfront“ im Algerienkrieg verboten. Dominique Venner schloss sich der rechten Terrororganisation OAS („Organisation geheime Armee“) an, die ab 1961 mit Attentaten und Bombenanschlägen gegen den französischen Rückzug aus Algerien kämpfte.

Diese Phase seiner rechtsterroristischen Betätigung führte zur Internierung Dominique Venners im französischen Zentralmassiv, bis 1963. Dabei verfasste er im Juli 1962 – dem Monat der Unabhängigkeit Algeriens – eine manifestartige Schrift, in welcher er das Scheitern des rechten Aktivismus bilanzierte: „Die algerische Niederlage hat einen Schlusspunkt unter die Einbildungen der rechten Politikaster gesetzt. Sie zeigte die Unfruchtbarkeit des Nur-Aktivismus auf. Dagegen hat sie die Perspektiven der nationalistischen Revolution als einzig richtige bestätigt.“

Venner zog eine doppelte Bilanz aus dem vorläufigen Scheitern: Erstens schade theorieloses, oberflächliches Agieren nur. Zum Zweiten sei der Nationalismus der europäischen Einzelstaaten – die soeben ihre Kolonialreiche verloren, vom „französischen Algerien“ bis zum „Belgisch-Kongo“ – mittlerweile zu eng geworden. Es bedürfe eines „europäischen Nationalismus“, im Sinne einer Verteidigung der „weißen Rasse“ in ihrer Gesamtheit.

Von 1963 bis 1966 leitetet Venner die Zeitschrift Europe-Action und eine gleichnamige Bewegung an. Bei den Parlamentswahlen im März 1967 ließ er eine „Nationalistische Fortschrittsbewegung- Europäische Sammlung für die Freiheit“ (MNP-REL) kandidieren, die jedoch im eher mikroskopischen Bereich abschnitt. Im Juli desselben Jahres machte er den Vorschlag zur Gründung einer rechten Denkfabrik. Daraus wurde dann der GRECE (für „Forschungs- und Studienzentrum für die europäische Zivilisation“), der im Januar 1968 ins Vereinsregister eingetragen wurde. Als die extreme Rechte sich auf die Gründung einer neuen gemeinsamen Sammelpartei (die ihr als einiges Dach dienen sollte) vorbereitete, war Dominique Venner ernsthaft für ihren Vorsitz im Gespräch. Aber er schlug aus. Die neue Partei wurde dann im Oktober 1972 in Gestalt des Front National gegründet, und Jean-Marie Le Pen übernahm – als Kompromissfigur zwischen unterschiedlichen Strömungen – den Vorsitz. Venner gehörte der Partei Zeit seines Lebens nie als Mitglied an, wurde aber von einem Teil ihrer Mitglieder als Vordenker betrachtet.

Doch vor allem die Entwicklung des GRECE unter Alain de Benoist entglitt Venner später. In den 1980er Jahren wandte sich der GRECE gegen die „Verwestlichung der Welt“, begriffen als „allgemeine Vermischung“. Stattdessen begrüßte die rechtsintellektuelle Gruppierung etwa auch den Aufstieg des Islamismus, als Anzeichen für das allgemeine, weltweite Bestreben nach „Wiederaufblühen der kulturellen Identitäten“, die sich jedoch getrennt entwickeln müssten. Venner war das schlicht zu „anti-westlich“, und gegen das Abendland gerichtet. Wie auch andere Vordenker der rechtsintellektuellen Szene, die bis dahin beim GRECE zu Hause waren, wandte er sich mit Schaudern ab. Venner predigte den Rückbezug auf einfachere Ideen der „Verteidigung unserer Rasse“ und wurde als „Historiker“ aktiv. Parallel zu ihm verabschiedete sich Pierre Vial vom GRECE - dessen Generalsekretär er gewesen war -, und wurde zum Verfechter NS-naher Blut-und-Boden-Ideologien, und Guillaume Faye wurde zum Anhänger der US-amerikanischen und der israelischen Rechten im Namen des Clash of civilizations und des Kampfs gegen den „Hauptfeind Islam“.

Venners theoretisches Erbe findet sich heute eher bei den weißen Rassisten der „identitären Bewegung“. In den letzten Jahrzehnten nie bei einer politischen Partei oder festgefügten Organisation aktiv. Sein Sprachrohr waren eher Geschichtszeitschriften wie die 2002 von ihm gegründete Zeitschrift Nouvelle Revue d’Histoire.

Sein Tod wurde als politische Tat unter anderem von Marine Le Pen und ihrem Vater Jean-Marie Le Pen gefeiert, sowie ihrem 2011 unterlegen Rivalen um den Parteivorsitz des Front National, Bruno Gollnisch. Die jetzige Chefin des Front National brach aus diesem Anlass mit ihrem ansonsten betonten Bemühen um dédiabolisation (Entteufelung), also um den „Ausbruch aus dem traditionellen rechten Ghetto“, wie deutschsprachige Kameraden es formulieren würden. In einer Kurznachricht auf Twitter gab sie zu Protokoll: „All unser Respekt für Dominique Venner, dessen letzte Geste eine herausragend politische war und das französische Volk aufrütteln sollte.“ Auch wenn die 44jährige kurz darauf hinzufügte, statt im Suizid solle Frankreich „im Leben und im zuversichtlichen Kampf“ seine Zukunft suchen.

Aber auch der frühere Abgeordnete Christian Vanneste – er wurde 2012 wegen allzu krasser Homophobie aus der UMP ausgeschlossen und publizierte einen Text unter dem Titel „Der Sinn eines Suizids“, worin er von einem „Selbstopfer“ sprach – und die rechtskatholische Politikerin Christine Boutin bezogen sich positiv auf Venner und seinen Abschied vom Leben. Boutin, die bis im vorigen Jahr unter Präsident Nicolas Sarkozy Wohnungsbauminister war, erklärte, sie hoffe, das Venner, der „offensichtlich nicht an Gott geglaubt“ habe, sich „in letzter Minute bekehrt hat“. Die Dame machte inzwischen auch in einer breiteren Öffentlichkeit von sich reden, indem sie gegen den Preisträger von Cannes giftete: „Wir werden von den Homos überschwemmt.“ Venner war es nicht mehr vergönnt, die Sache zu kommentieren.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.